F. Bajohr u.a. (Hrsg.): Bedrohung, Hoffnung, Skepsis

Cover
Titel
Bedrohung, Hoffnung, Skepsis. Vier Tagebücher des Jahres 1933


Herausgeber
Bajohr, Frank; Meyer, Beate; Szodrzynski, Joachim
Reihe
Eine Veröffentlichung des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden und der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg
Erschienen
Göttingen 2013: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
494 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jürgen Lillteicher, Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung, Willy-Brandt-Haus Lübeck

Das Jahr 1933, so stellen die Herausgeber des Bandes fest, sei in der geschichtswissenschaftlichen Forschung etwas aus dem Blick geraten. Der Nationalsozialismus würde weniger von seinem Anfang her betrachtet als aus der Perspektive des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust. Um die Aufmerksamkeit der Fachwissenschaft, aber auch eines breiteren Publikums wieder auf den Anfang der NS-Herrschaft zu lenken, haben Frank Bajohr, Beate Meyer und Joachim Szodrzynski eine Edition herausgegeben, die das Jahr 1933 ins Zentrum der Betrachtung rückt. Und zwar soll das Jahr der nationalsozialistischen Machtübernahme im „Lichte zeitgenössischer Wahrnehmungen, Stimmungen und Reaktionen“ (S. 10) also „von unten“ in den Blick genommen werden.

Den Herausgebern scheint für ihr Vorhaben keine Quelle besser geeignet als das Tagebuch, das wegen seines „situativen, fluiden, distanzlosen und ungeglätteten Charakters“ (S. 10) die Veränderungsdynamik des Jahres 1933 am besten erfassen kann.

Die Herausgeber wollen mit vorliegendem Buch folgende Fragen beantworten: Wie haben die Zeitgenossen und damit die Tagebuchschreiber die Monate der Machtübernahme wahrgenommen? Haben sie es ebenfalls als tiefgreifende Zäsur auch für ihr persönliches Leben empfunden und wie haben sie darauf reagiert? Welche Veränderungen wurden registriert, wie gingen sie mit neuen Ansprüchen und Anforderungen um, die das Regime an sie stellte? Welche Gefühlslagen dominierten?

Dass die Beantwortung dieser Fragen stark von der Auswahl der Tagebücher bzw. der Tagebuchautoren abhängt, ist den Herausgebern sehr wohl bewusst. Sie haben daher einen Querschnitt von Tagebuchautoren angelegt, die von der nationalsozialistischen Machtübernahme unterschiedlich betroffen waren. Hervorzuheben ist, dass es sich hier ausschließlich um Hamburger handelt, Spezifika der Hamburger NS-Geschichte also mit berücksichtigt werden müssen. Jedem Tagebuchauszug wird ein biographisches Essay vorangestellt, das mit einer Vielzahl von Quellen das gesellschaftliche und familiäre Umfeld des jeweiligen Autors und dessen Erfahrungen mit und Reaktionen auf den Nationalsozialismus beleuchtet. Eine detaillierte Annotation der Tagebuchtexte stellt den Lesern zusätzlich Ergebnisse aus umfangreichen Recherchen zu Verfügung.

Da ist der jüdische Rechtsanwalt Kurt Rosenberg (1900–1977)1, der mit der Machtübernahme zusehends seine Existenzgrundlage verliert, jedoch immer wieder Auswege und Umwege findet, bis hin zum rettenden Exil in den Vereinigten Staaten. Die scharfe Analyse der Zeitverhältnisse des Jahres 1933 ermöglicht es Rosenberg, aus der Rolle des Spielballs der Nationalsozialisten auszubrechen und in einer Art „kulturellen Selbstbehauptung“ seine Würde zu bewahren.

Das von Historikern der NS-Geschichte oft zitierte Tagebuch der zunächst überzeugten Anhängerin des NS-Regimes Luise Solmitz (1889–1973)2, die aufgrund ihrer Ehe mit einem Juden zunehmend gesellschaftliche Ausgrenzung erfährt, erlaubt einen Einblick in den Mikrokosmos des Diktaturalltags, in dem zumindest zu Beginn viele in einem Gemeinschaftsrausch und einer Führerreligion aufgingen. Die Aufzeichnungen der Luise Solmitz zeigen aber auch den raschen Wechsel von Einstellungen und Gefühlslagen in einer Zeit des radikalen Umbruchs.

Mit Cornelius Freiherr von Berenberg-Goßler (1874–1953) haben die Herausgeber einen prototypischen Vertreter des Hamburger Bürgertums herausgegriffen, dem das Tagebuch als Merk- oder Notizzettel auch für die zahlreichen Anlässe eigener Selbstdarstellung diente und nicht als „Ort quälerischer Selbstzweifel oder zermürbender Identitätssuche“ (S. 273). Es wird deutlich, dass sich ein Angehöriger der hanseatischen Elite Hamburgs auch noch 1933 als Herr der Lage begriff und sich dem Nationalsozialismus überlegen fühlte, sich den neuen Machthabern aber pragmatisch anverwandelte. Der Bankier Berenberg-Goßler tritt jedoch wieder aus der NSDAP aus, als er bemerkt, wie der NS-Staat die letzten demokratischen Strukturen beseitigt und durch eine aggressive Außenpolitik weltgewandten Financiers das Leben erschwert. Hinzu kam, dass Berenberg-Goßler die „Standpunkte der Nazis in der Juden-Frage“ (S. 286) entschieden ablehnte.

Dem Pragmatiker und Bankier Berenberg-Goßler stellen die Herausgeber den idealtypischen Bildungsbürger und „Mann des Gedankens“ Nikolaus Sieveking (1899–1953) gegenüber. Aus dem Hamburger Bürgeradel entstammend erlebt er jedoch einen sozialen Abstieg und führt in materieller Hinsicht eher ein kleinbürgerliches Leben. Dieses befördert die kritische Distanz zu seiner Verwandtschaft und ihrer Lebensart als Angehörige der Hamburger Oberschicht. Auf die nationalsozialistische Machtübernahme reagiert er mit Rückzug in eine selbst geschaffene Parallelwelt. Er verlor jedoch nicht die Gabe, die Zeitläufe scharf zu analysieren und formulierte Einsichten, die „manchem Historiker nach 1945 zur Ehre gereicht hätten“ (S. 398). Trotz seiner kritischen Haltung gegenüber den Machthabern arrangierte sich auch Sieveking mit dem NS-System. Als Mitarbeiter des Hamburger Weltwirtschaftsarchiv, übernahm er einen Auftrag, der den vermeintlichen Nachweis erbringen sollte, wie „weit die englische Presse in jüdischen Händen“ (S. 400) sei.

Frank Bajohrs Nachwort gibt in gebündelter Form Antworten auf die eingangs gestellten Fragen und reflektiert über das Genre Tagebuch und seinen Quellenwert für die Geschichtswissenschaft. So würden Vorannahmen oder Erwartungen, die Historiker an einem bestimmten Tagebuchschreiber allein aufgrund seiner gesellschaftlichen Herkunft und politischen Überzeugung haben regelmäßig enttäuscht. Lutz Niethammer bezeichnete dies einmal mit den Begriffen „Enttypisierungsschock“ oder „Entgeisterung“.

Die vorgestellten Tagebuchauszüge belegen, so Bajohr, dass die Zeitgenossen die heute von der Forschung ausgemachten Zäsuren anders empfanden. Beispielsweise wurde Hitlers Ernennung zum Reichskanzler von den untersuchten Zeitgenossen keineswegs als Einschnitt bewertet. Begriffe wie Begeisterung und Zustimmung, Zwang und Repression reichten nach Bajohr nicht aus um die Verhaltensmuster in der NS-Gesellschaft zu beschreiben, Individuen handelten auch im Nationalsozialismus nach eigenen Interessen und eigenen Handlungskalkülen. Trotz des Homogenisierungsdrucks durch den Nationalsozialismus, herrschte auch nach 1933 wie bei den Deutschen wie auch bei den porträtierten Tagebuchverfassern eine bemerkenswerte Einstellungsvielfalt in einer Gesellschaft die sich nach außen zunehmend als geschlossene Handlungsgemeinschaft präsentierte. Damit setzt sich Bajohr von einer Betrachtungsweise ab, die das Handeln im Nationalsozialismus nur aus weltanschaulichen Motiven erklärt.

Tagebücher wirken authentisch und üben insbesondere für die Zeit des Nationalsozialismus eine ungeheure Anziehungskraft auf den Leser aus. Dies kann auch für das vorliegende Buch gelten. Diese Faszination darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei Tagebüchern immer um Ausschnitte handelt, die immer mit Hinblick auf eine Deutung geschrieben werden und damit keine Ereignisgeschichte wiedergeben, geschweige denn für die gesamte NS-Gesellschaft gelten können. Tagebücher sind meist das Produkt von Autoren, die aus einem bürgerlichen Milieu mit einem hohen Bildungsniveau entstammen.3

Durch die Querschnittkonstruktion, die aufwendige Annotation und die Einbettung der Tagebuchausschnitte in eine weitreichende Ereignis- und Lebensgeschichte beugen die Herausgeber der vorliegenden Edition solchen Fehleinschätzungen weitgehend vor. Sie wollen ihre Analyse auch nicht nach quantitativ-repräsentativen, sondern nach qualitativ-individualbiographischen Gesichtspunkten vornehmen. So darf die Quelle Tagebuch auch nicht als Herausforderung einer bestimmten politikgeschichtlichen Meistererzählung zur NS-Geschichte gelten, sondern als Beitrag zu einer Wahrnehmungs- und Alltagsgeschichte der NS-Gesellschaft. Die Herausgeber werden es jedoch nicht ganz verhindern können, dass Leser die Beobachtungen der Tagebuchautoren für allgemeingültig oder für ebenso bedeutend wie die Ergebnisse der Forschung halten, insbesondere wenn sie so prominent wie in dieser Edition vorgestellt werden. Die vermeintliche Authentizität des Tagebuchs und die Autorität, die Zeitzeugen des Nationalsozialismus in den letzten Dekaden erlangt haben, sind so wirkungsmächtig, dass sie auch einer kritischen Einbettung trotzen können.

Dennoch wurden hier hohe Maßstäbe für die kritische Edition von Tagebüchern und ihrer Deutung entlang einer klar umrissenen Fragestellung gesetzt. So darf der Band auch als Muster verstanden werden, wie die zeithistorische Forschung mit der Quelle Tagebuch wertvolle alltagsgeschichtliche und wahrnehmungsgeschichtliche Aspekte der Geschichte des Nationalsozialismus zu Tage fördern kann.

Anmerkungen:
1 Dieses Tagebuch wurde bereits in Gänze veröffentlicht: Kurt F. Rosenberg, „Einer, der nicht mehr dazugehört“. Tagebücher 1933–1937, hrsg. von Beate Meyer und Björn Siegel in Zusammenarbeit mit dem Leo Baeck Institute New York, Göttingen 2012.
2 Bisher existierten nur von Luise Solmitz vorgenommene Transkriptionen. Für das vorliegende Buch wurden die Originalaufzeichnungen aus dem Jahr 1933 ungefiltert transkribiert und aus 215 Seiten Transkript die entscheidenden Passagen ausgewählt.
3 Zum Thema „Tagebuch als Quelle“ fand erst kürzlich eine wissenschaftliche Tagung an der Ruhr-Universität Bochum statt. Siehe: Tagungsbericht Selbstreflexionen und Weltdeutungen. Tagebücher in der Geschichte und der Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts. 10.07.2014–12.07.2014, Bochum, in: H-Soz-Kult, 05.11.2014, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=5643> (26.11.2014).

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