Cover
Titel
Desperate Magic. The Moral Economy of Witchcraft in Seventeenth-Century Russia


Autor(en)
Kivelson, Valerie
Erschienen
Anzahl Seiten
XI, 349 S.
Preis
$79.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nada Boskovska, Osteuropäische Geschichte, Historisches Seminar, Universität Zürich

So unübersehbar die Literatur zur Hexerei in Westeuropa inzwischen ist, so überschaubar ist die Zahl der Publikationen zu diesem Phänomen im vorpetrinischen Russland, dem Moskauer Reich. Während im ausgehenden Zarenreich einige Quellenbände und auch Abhandlungen dazu erschienen sind – hier gilt es vor allem die Arbeiten von N. Ja. Novombergskij1 zu nennen – ist das Thema im 20. Jahrhundert nahezu unbeachtet geblieben.2 Ein wichtiger Grund dafür ist darin zu suchen, dass die Hexenverfolgung im frühneuzeitlichen Russland nicht annähernd die Dimensionen des westeuropäischen Hexenwahns angenommen hat. Während jedoch die einen Historiker/innen einen quantitativen wie qualitativen Unterschied konstatierten – so Zguta, der einen "witch craze" im Westen und bloß einen "witch scare" im Moskauer Reich feststellte3 – waren andere, nicht zuletzt Novombergskij, von einer Ähnlichkeit der Phänomene überzeugt.

Angesichts der mageren Forschungslage und der herrschenden Ungewissheiten ist es ein großes Verdienst, dass Kivelson nun auf der Grundlage skrupulöser und aufwendiger Auswertung der Archivbestände in vielen Bereichen Klarheit geschaffen hat. Die Autorin, die an der University of Michigan lehrt, ist eine profunde Kennerin des Moskauer Reiches im 17. Jahrhundert. Ihr Anliegen ist es, mit diesem Werk einerseits zum besseren Verständnis der Hexerei in Europa beizutragen, zum andern aber auch über die Analyse der Hexenprozesse die Kenntnis über die damalige russische Gesellschaft zu vertiefen.

Kivelson betont die großen Forschungsanstrengungen, die den Hexenverfolgungen seit den 1970er-Jahren gewidmet wurden, und gibt einen Überblick über Erklärungsmodelle für die Verfolgungen und für spezifische Aspekte, etwa warum vor allem Frauen betroffen waren. Für das Verständnis der Hexen- oder besser Zaubereiprozesse im Moskauer Reich ist das bedingt hilfreich, denn die Situation war in der Tat eine ganz andere, wie wir nun dank Kivelsons Buch mit Bestimmtheit wissen. So war die Zahl der Prozesse und der Todesurteile sehr bescheiden. Die Autorin konnte für das ganze 17. Jahrhundert nur rund 227 Gerichtsfälle mit etwa 495 Angeklagten ausfindig machen. Lediglich in 15 Prozent wurde die Todesstrafe verhängt. Etwa 40 Prozent der Beschuldigten wurden in die Verbannung geschickt und weitere 40 Prozent freigesprochen. Es ist deswegen etwas irreführend, wenn Kivelson am Anfang ihres Buches schreibt, Russland sei mit etwas Verspätung auf die „general mêlée“ (gemeint ist der Hexenwahn) aufgesprungen „and tried its fair share of witches and practitioners of magic“. (S. 2f.)

Von den westlichen Prozessen unterschieden sich die moskowitischen am grundlegendsten dadurch, dass der satanische Aspekt vollständig fehlte. Hexenflug und Hexensabbat, Teufelspakt und Sexorgien, Kannibalismus und Kindesmord kommen nicht vor, ebenso wenig gab es spezifische Untersuchungsmethoden wie die Wasserprobe. Die Taten wurden explizit als kriminell und nicht der geistlichen Sphäre zugehörig gesehen und wurden lediglich auf Antrag verfolgt. Es gab von Seiten der Behörden keine aktive Suche nach Hexen und Magiern und auch nicht einen besonderen theoretischen Rahmen, in den diese Vergehen gestellt worden wären. Verfolgt wurde im wesentlichen Schadenzauber an der Gesundheit von Individuen. Epidemien, Dürren, Hagelstürme und dergleichen wurde den Angeklagten nicht zur Last gelegt. Eine wichtige Rolle spielte hingegen der Liebeszauber, er gehörte sozusagen zum Kerngeschäft, wie überhaupt die Fähigkeit, dem Klienten die Neigung von jemandem zu garantieren, etwa die des Grundherrn oder der Schwiegereltern. Das Auffinden von verlorenen Gegenständen dank magischer Kräfte stellte eine weitere Dienstleistung dar. Eine zentrale Rolle spielten Heilpraktiken, die in einem Land ohne schulmedizinische Versorgung gang und gäbe, aber wegen der Gefahr des Misserfolgs und der Nähe zur Magie immer risikobehaftet waren: Ein Viertel der Prozesse betraf Heiler.

Ein weiterer wichtiger Unterschied zu Westeuropa betrifft das Geschlecht: Drei Viertel der wegen Hexerei Angeklagten (367 von 495), die Kivelson eruieren konnte, waren Männer. Als Erklärung für den hohen männlichen Anteil führt Kivelson zu Recht ins Feld, dass in der moskowitischen Gesellschaft die Geschlechtertrennung weniger bedeutend war als andere Aspekte; das Geschlecht war zum Beispiel sekundär gegenüber dem sozialen Status. Hier könnte man noch ergänzen, dass Männer grundsätzlich in der Kriminalitätsstatistik weit übervertreten sind. Und da im Moskauer Reich der Schadenzauber nicht anders betrachtet wurde als andere Verbrechen, wäre vielmehr ein umgekehrtes Geschlechterverhältnis erklärungsbedürftig (wie es das im Falle Westeuropas ist).

Ein anderer Argumentationsstrang Kivelsons geht dahin, dass in der Orthodoxie die Sexualität, die im westlichen Hexenwahn eine zentrale Rolle spielte, nicht dermaßen verteufelt wurde. Wichtiger als Enthaltsamkeit war Gehorsam, gemäß Kivelson der wichtigste moralische Imperativ im Moskauer Reich.

Als einen nur scheinbar geringfügigen Unterschied zwischen Russland und dem Westen benennt Kivelson schon in der Einleitung das zentrale Motiv, um die Dienste eines Zauberers in Anspruch zu nehmen: „The central concern, the desperation that pushed people to seek magical solutions to their problems, stemmed from the arbitrary and cruel exactions of hierarchy.“ (S. 6) – desperate magic, um es mit dem Titel des Buches zu sagen. Magie, so Kivelson, wurde dort angerufen, wo die Gesetze der „moralischen Ökonomie“ (E. P. Thompson) überschritten wurden, wo Gewalt und Unrecht das akzeptierte Maß überstiegen. Und dies war ihrer Meinung nach im Moskauer Reich in besonderem Ausmaß der Fall. Weil die Verfahren von den Geschädigten, häufig Höhergestellten („the strong“), angestrengt wurden, schlägt Kivelson vor, in der Magie weniger eine „Waffe der Schwachen“ als „Projektionen der Starken“ zu sehen. Sie interpretiert die Anklagen als ein Resultat von Angst und Schuldbewusstsein bei den „Starken“, die durch die Festigung der Leibeigenschaft im 17. Jahrhundert zunehmende Verfügungsgewalt über ihre Bauern erhielten und die gegen die „moralische Ökonomie“ verstießen. Aber man muss diese beiden Erklärungsstränge nicht gegeneinander stellen; Zauberei war, wie auch das Verwünschen und Verfluchen, zweifelsohne eine Waffe der Schwachen, die umso mehr Wirkung entfalten konnte, wenn die Gegenseite schuldbewusst war.

Was an dieser Stelle Betonung verdient, gerade auch weil Kivelson die hierarchischen Verhältnisse und den Machtmissbrauch im Moskauer Reich oft herausstreicht – zuweilen in einem moralisierenden Ton („cruelly structured social order“ (S. 10), „pervasive hierarchical relations of abuse“ (S. 8), „cruel exactions of hierarchy“ (S. 6)) –, ist die Tatsache, dass die Gerichte sehr häufig den Angeklagten, also den „Schwachen“, recht gaben und sie freisprachen. Die Prozesse zeigen gemäß der Autorin eine Justiz, die sich im Allgemeinen große Mühe gab, dem Gesetz Nachachtung zu verschaffen.

Dass Zauberei trotz allem nicht ein ganz gewöhnliches Verbrechen war, zeigt sich anhand der Folter, die wie in Westeuropa ein allgemein gebräuchliches Mittel der Wahrheitsfindung war. Wie Kivelson, mit Verweis auf die Untersuchungen von Nancy Kollmann4, betont, gehörte die Hexerei, zusammen mit Häresie und Staatsverrat, zu jenen Verbrechen, in denen die schwersten Folterungen zur Anwendung kamen. Sie erklärt das damit, dass dieses Verbrechen als Angriff auf die soziale Hierarchie verstanden wurde und deswegen als besonders gefährlich galt. Die Hexenprozesse verteidigten gemäß der Autorin die soziale Ordnung, indem sie Missbrauch von oben genauso verfolgten wie Subversion von unten.

Das mag zutreffen. Es müsste jedoch stärker berücksichtigt werden, dass in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts härter gegen Zauberei vorgegangen wurde, die als heidnisches Überbleibsel galt. Das Vorgehen richtete sich nicht gegen Satan, sondern gegen heidnische Praktiken und diente der Festigung des christlichen Glaubens. Die Entschlossenheit, dass geistige Monopol des Christentums durchzusetzen, verbunden mit der Herausforderung und Gefährdung, welche die Abspaltung der Altgläubigen ab 1652 bedeutete, waren wichtige Gründe für die härtere Gangart gegen Zauberer und Hexen. Dies allerdings nicht als flächendeckende und präventive Maßnahme, sondern punktuell.

Kivelsons Werk ist ein überaus wichtiger und bedeutender Beitrag zu diesem noch kaum erforschten Thema. Die Autorin hat mit der gründlichen Sichtung der Archive wichtige offene Fragen klären können und gibt mit ihrem quellennah geschriebenen Buch Einblick in viele Bereiche des Lebens im Moskauer Reich. Das Werk bestätigt auch einmal mehr, dass der westliche Hexenwahn eine einzigartige Erscheinung ist. Es zeigt, dass man zwar nicht darum herum kommt, sich mit diesem und der unübersehbaren Forschungsliteratur, die ihm gewidmet ist, auseinander zu setzen, dass man sich aber wieder davon lösen muss, wenn man das Phänomen der Zauberei anderenorts untersuchen will.

Anmerkungen:
1 z.B. N. Ja. Novombergskij, Koldovstvo v Moskovskoj Rusi XVII-go stoletija, Sankt-Peterburg 1906; ders., Vračebnoe stroenie v do-Petrovskoj Rusi, Tomsk 1907.
2 Nebst Kivelsons Arbeiten kann man anführen: Russell Zguta, Witchcraft trials in seventeenth-century Russia, in: American Historical Review 82 (1977), S. 1187–1207; Nada Boškovska, Die russische Frau im 17. Jahrhundert, Köln 1998 (Kapitel „Hexen“, S. 436–466); W.F. Ryan, The Bathhouse at Midnight. An Historical Survey of Magic and Divination in Russia, University Park 1999.
3 Zguta, Witchcraft trials, S. 1205.
4 Nancy Kollmann, Crime and Punishment in Early Modern Russia, Cambridge 2012.

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