W. Vollmer: Montanmitbestimmung und Unternehmenskultur

Cover
Titel
Montanmitbestimmung und Unternehmenskultur während der Bergbaukrise 1958 bis 1968.


Autor(en)
Vollmer, Walter
Reihe
Veröffentlichungen des Institus für soziale Bewegungen - Schriftenreihe A: Darstellungen 56
Erschienen
Anzahl Seiten
309 S.
Preis
€ 34,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thilo Fehmel, Institut für Soziologie, Universität Leipzig

Die Prosperität, Stärke und Innovationskraft der deutschen Wirtschaft in den Nachkriegsjahrzehnten bei gleichzeitigem sozialen Frieden wird gemeinhin mit einer spezifischen Konsens-Kultur erklärt, die den sozialen Grundkonflikt zwischen Kapital und Arbeit in geordneten Bahnen verlaufen ließ und schwerere, sozial wie ökonomisch nachteilige Erschütterungen vermied. Mit Tarifautonomie und Betriebsverfassung wurden Konfliktrahmen etabliert, die es erlauben, konstruktiv Interessenunterschiede zu artikulieren und Kompromisse für Verteilungskonflikte zu finden. Unter aktiver Beteiligung des Staates kam es damit über Jahrzehnte hinweg zu genau jenen Handlungsbedingungen und Akteurskonstellationen, die sowohl Basis für deutsche Wirtschaftskraft waren als auch für sozialen Wohlstand sorgten, ohne dabei aber Prozesse sozialstrukturellen Wandels zu behindern.

Ein weiterer dieser Konfliktrahmen ist die im Jahr 1951 in Gesetzesform gegossene Montanmitbestimmung, also die Einbindung von Arbeitnehmerinteressen in Unternehmensentscheidungen im Bergbau sowie in Eisen und Stahl produzierenden Unternehmen. Mit dem Bedeutungsrückgang der Montanindustrie in Deutschland hat diese Form der Einbindung an Bedeutung verloren. Gleichwohl stellt die Montanmitbestimmung einen Meilenstein in der Geschichte des deutschen Nachkriegskorporatismus dar – das ist das grundlegende Ergebnis des Buches "Montanmitbestimmung und Unternehmenskultur während der Bergbaukrise 1958 bis 1968" von Walter Vollmer.

Die Angemessenheit und "Leistungsfähigkeit" von Konfliktrahmen zeigt sich regelmäßig dann, wenn die mit ihnen eingehegten Konflikte eine besondere Schärfe entwickeln, wenn sie also besonders einschneidende Verteilungskonsequenzen haben. Das war in der im Jahr 1958 einsetzenden Bergbaukrise zweifellos der Fall. Angesichts preiswerterer und effizienterer Energieträger, aber auch bedingt durch rationelleren Energieeinsatz wurden die Weltmarktbedingungen für Steinkohle zunehmend schwierig – und ihr Abbau mithin zunehmend fragwürdig. Die ökonomisch nachvollziehbare Entscheidung, sich aus dem Kohlebergbau zurückzuziehen, hatte jedoch die soziale Konsequenz des Wegfalls tausender Arbeitsplätze. Zechenstilllegungen und Arbeitsplatzverlagerungen waren unvermeidlich, stellten aber genau jene Verteilungskonsequenzen dar, die zu verschärften Konflikten führten.

Die Mitbestimmungsträger fanden sich in der Zwangslage, diese bitteren Entscheidungen mittragen zu müssen. Dass sie dies konnten, ohne allzu heftige soziale Verwerfungen befürchten zu müssen, hatte eine Grundsatzentscheidung zur Voraussetzung, die die Industriegewerkschaft Bergbau und Energie (IGBE) schon zu Beginn der Krise getroffen hatte und während der intensiven Phase des Strukturwandels verteidigte: Sie erteilte Sozialisierungsforderungen eine Absage, akzeptierte sehr grundsätzlich das marktwirtschaftliche Umfeld des Energiemarktes und richtete ihre Forderungen und Aktivitäten im Wesentlichen auf die sozialpolitische Abfederung der Krisenfolgen – in dieser Zeit keineswegs selbstverständlich für eine Gewerkschaft. Vollmer beschreibt die damit verbundenen innergewerkschaftlichen Probleme detailreich: hier der Gewerkschaftsvorstand, dem pragmatisch und unter Berücksichtigung gesamtwirtschaftlicher Fakten an der Wahrung seines politischen Einflusses gelegen war; dort die gewerkschaftliche Basis, die den Erhalt von Zechen und Arbeitsplätzen forderte und dieses Ziel am ehesten mit sozialisierten Unternehmen zu erreichen glaubte. Der informierte Leser erkennt hierin eine prägnante Problemkonstellation, die in der Verbändeforschung gemeinhin als Widerspruch zwischen Einfluss- und Mitgliedschaftslogik verhandelt wird. Im Buch erfolgt eine solche Einordnung in und Bezugnahme auf Ergebnisse der Korporatismusforschung jedoch nicht. Auch sonst vermisst man theoretische – zeitgeschichtliche oder sozialwissenschaftliche – Bezüge; in dieser Hinsicht bleibt die Schrift Walter Vollmers sehr deskriptiv.

Der Pragmatismus der IGBE unter Krisenbedingungen brachte auch eine "klassenübergreifende" Annäherung mit sich, deren Spiegelbild freilich ein "klasseninterner" Dissens war. Bei allen sonstigen Meinungsunterschieden konnten sich Arbeitgeberverband und Gewerkschaft zumindest darauf einigen, gemeinsam Druck auf die Bundesregierung auszuüben, um diese wenn schon nicht zu protektionistischen, dann doch wenigstens zu sozialpolitisch-kompensatorischen Maßnahmen zu bewegen. Diese branchenintern-klassenübergreifende Interessenallianz war zwar ein wesentlicher Baustein des Strukturwandels, sie stieß jedoch angesichts der dabei entstehenden externalisierten Folgekosten auf erheblichen Widerstand nicht nur bei den jeweiligen Dachverbänden, sondern auch in anderen Branchen mit anderen Interessen. So gesehen ergab sich im Zuge des wirtschaftlichen Strukturwandels auch ein Strukturwandel der (politisierten) Verteilungskämpfe: die Konfliktlinie verlief nicht mehr abstrakt zwischen Kapital und Arbeit, sondern zwischen unterschiedlichen Branchen.

Für die Unternehmenskultur der Montanindustrie war die Einigkeit zwischen Arbeitgeberverband und Gewerkschaft hingegen prägend: Sie bildete den Nährboden für den in der Regel kooperativen Umgang zwischen Arbeitgebern und Beschäftigten in den einzelnen Unternehmen – und eben auch für die vertrauensvolle Zusammenarbeit in den Gremien der Montanmitbestimmung. In diversen Fallstudien vollzieht Vollmer nach, in welcher Weise die Montanmitbestimmung als Konfliktrahmen für unternehmerische Entscheidungen, zumeist die Stilllegung von Unternehmen betreffend, geeignet war. Neben diesen sehr ausführlichen Darstellungen bündelt der Autor anschließend aber auch analytisch die Grundsätze der Akteure in den Gremien, ihre Verhaltensmotive und Handlungsspielräume und kann damit zentrale Charakteristika herausarbeiten, deren Systematik bei der Lektüre allein der Einzelfallstudien nicht erkennbar ist. Besonderes Augenmerk legt er dabei auf die Rolle der Arbeitsdirektoren. Diese wurden von der IGBE in die Unternehmensvorstände entsandt und gerieten schnell in einen strukturell angelegten Rollenkonflikt: Als Vorstandsmitglieder hatten sie Arbeitgeberfunktion, zugleich oblag ihnen innerhalb des Vorstandes die Wahrung der Interessen der Beschäftigten. Besonders schmerzhaft spürbar war diese Doppelrolle immer dann, wenn Unternehmensschließungen auf der Tagesordnung standen. Die Zechenschließungen erwiesen sich oft als unvermeidbar und wurden insofern von der Gewerkschaft stillschweigend geduldet, mit ihrer Zustimmung dazu handelten die Arbeitsdirektoren aber klar gegen die Interessen der betroffenen Arbeitnehmer und gegen die Ziele der jeweiligen Betriebsräte. In diesen Konstellationen kam den Arbeitsdirektoren eine komplexe Vermittlerrolle zu, und hierzu bedurfte es taktischen Verhandlungsgeschicks und ausgeprägter Kompromissfähigkeit. Auch unter günstigen Bedingungen der Konfliktrahmung – so ließe sich dieser Abschnitt des Buches zusammenfassen – bleiben also entsprechende persönliche Fähigkeiten der Konfliktgestaltung von Bedeutung.

Weitere Betrachtungen gelten den überbetrieblichen und betrieblichen Arbeitnehmerrepräsentanten in den Aufsichtsräten, den sogenannten neutralen Aufsichtsratsmitgliedern und den Betriebsräten. Anschaulich kann Vollmer zeigen, wie diese in der Montanmitbestimmung vielfach institutionalisierte Kooperation gegensätzlicher Interessen eine Unternehmenskultur schuf, die eine vertrauensvolle Zusammenarbeit, einen reibungslosen Produktionsablauf, aber auch einen vergleichsweise konfliktarmen Strukturwandel ermöglichte. Was hier anklingt, ist der wirtschaftliche Wert der Konfliktinstitutionalisierung. Inwieweit die Montanmitbestimmung ohne staatliches Engagement zu ähnlichen Prozessen des strukturellen Wandels hätte führen können, lässt sich hingegen nur spekulieren. Aber man wird dem Autor folgen können, wenn er das letzte Kapitel mit "Sozialer Frieden durch Tripartismus" betitelt. Denn es wird deutlich, dass die "kooperative Konfliktpartnerschaft" in der aussterbenden Montanindustrie nur möglich war unter massiver finanzieller Beteiligung des Staates. Dieser Tripartismus – mit der Montanmitbestimmung als zentralem, aber eben nicht einzigem Baustein – hat in einer demokratischen Industriegesellschaft den sozialen Frieden gesichert.

Nach der Lektüre bleibt der folgende Eindruck: Hier liegt eine Arbeit vor, die sehr viel Mühe auf Quellenarbeit verwendet hat, die sehr detailgenau aus einzelnen Fallstudien die Handlungsbedingungen und Erfolgschancen relevanter Akteure bei der Bewältigung der Bergbaukrise herausfiltern konnte, und die auf diese Weise der Montanmitbestimmung eine wichtige Rolle zuweist für die Stabilität der jungen deutschen Demokratie. Zweierlei vermisst der Leser: Einerseits geht in der Detailtreue zuweilen das Ergebnis und die Abstraktion unter, auch fehlt nahezu vollständig ein Blick auf den aktuellen Stand zur Mitbestimmungsforschung. Andererseits bleibt das Buch die Antwort auf zumindest eine selbstgestellte Frage schuldig: "Welche Ideen, Strukturen und Instanzen der Montanbestimmung angesichts der abnehmenden volkswirtschaftlichen Bedeutung der Montanindustrie in einem sich neu formierenden Sozialstaat, teilweise mit europäischer Ausrichtung, in die Zukunft hinübergerettet werden sollen oder können" (S. 18), muss sich der Leser am Ende selbst überlegen, obwohl ihm dazu in der Einleitung einige Handreichungen angekündigt wurden.

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