H. Stoecker u.a. (Hrsg.): Sammeln, Erforschen, Zurückgeben?

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Titel
Sammeln, Erforschen, Zurückgeben?. Menschliche Gebeine aus der Kolonialzeit in akademischen und musealen Sammlungen


Herausgeber
Stoecker, Holger; Schnalke, Thomas; Winkelmann, Andreas
Reihe
Studien zur Kolonialgeschichte
Erschienen
Anzahl Seiten
528 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Katharina Schramm, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Seit einigen Jahren stehen ethnologische und naturwissenschaftliche Museen und universitäre Sammlungen weltweit im Zentrum einer kontroversen Debatte um die Herkunft und das Schicksal der dort gelagerten anthropologischen Artefakte. Die Diskussion entzündet sich vor allem am Schicksal indigener menschlicher Überreste, die überwiegend im Laufe der Kolonialzeit auf unterschiedliche Weise erworben und in die Sammlungen verbracht wurden. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert bildeten ganze Serien sogenannter „Rasseschädel“ innerhalb der physischen Anthropologie die Grundlage für die Produktion menschlicher Typologien unter der Prämisse hierarchischer Ordnung. Zudem bezog die koloniale Sammelwut auch zahlreiche Ethnographica ein, in denen menschliche Körperteile verarbeitet waren (zum Beispiel Schädelüberformungen, Schrumpfköpfe und ähnliches).

Diese Objekte sind demnach zweifach historisch aufgeladen – sowohl im Hinblick auf ihren Erwerbskontext, der auf das Engste mit kolonialen Herrschaftsbeziehungen verwoben war, als auch in Bezug auf die den Sammlungen zugrundeliegenden, ebenfalls kolonial geprägten, Repräsentationsmuster und Wissensordnungen. Hinzu kommt die Sensibilität menschlicher Überreste, denen als Teil verstorbener Personen eine besondere Bedeutung innerhalb genealogischer Erinnerungspraxis zukommt. Einzelpersonen und Gruppen aus den betroffenen Regionen, die sich als Nachfahren und Rechtsnachfolger der Verstorbenen identifizieren, fordern heute zunehmend die Restitution der Gebeine. Diese Forderungen stellen die Sammlungen vor massive Probleme. Zum einen gilt es, wissenschaftliche und politische Interessen sowie ethische Überlegungen gegeneinander abzuwägen. Zum anderen gibt es ganz praktische Probleme: Die Dokumentation zu den einzelnen Knochen und Schädeln ist in der Regel unzureichend – die ursprünglichen Katalogeinträge folgten häufig lediglich groben Kategorien, die eine genaue Zuordnung unmöglich machen. Kriegsverluste haben die Sammlungen darüber hinaus massiv beschädigt.

Das Charité Human Remains Project unter der Leitung Thomas Schnalkes und Andreas Winkelmanns ist als Reaktion auf solche Rückgabeforderungen ins Leben gerufen worden. Nach zweijähriger Forschungsarbeit lud das Projekt im Oktober 2012 zu einem interdisziplinären Workshop ein, dessen Ziel es war, kultur- und wissenschaftshistorische, biologisch-anthropologische, juristische, ethische und ausstellungspraktische Perspektiven auf das Problem der menschlichen Überreste zusammenzubringen und Wege für den zukünftigen Umgang damit aufzuzeigen. Der vorliegende Sammelband, der erfreulich zeitnah publiziert wurde, bietet eine umfassende und in dieser Form bisher einmalige Bestandsaufnahme zum Thema „Menschliche Gebeine aus der Kolonialzeit in akademischen und musealen Sammlungen“ im deutschsprachigen Raum.

Die über zwanzig Einzelbeiträge von recht unterschiedlicher Qualität sind in drei großen Blöcken zusammengefasst. Im ersten Teil werden Sammler/innen und deren konkrete Praktiken ins Zentrum gerückt, um die heutigen Sammlungen in ihrer Historizität sichtbar zu machen. Hervorzuheben sind hier vor allem jene Beiträge, die den Zusammenhang von kolonialen Sammlungsstrategien und späterer wissenschaftlicher „Verwertung“ zum Gegenstand machen (Lange, Berner, Henrichsen, Schnalke). So zeigt etwa Dag Henrichsen, wie die auch im damaligen Verständnis illegal erworbenen Skelette und sakralen Artefakte, die der Schweizer Botaniker Hans Schinz in Namibia aufsammelte, ihren Weg nach Berlin fanden, wo sie von ihrem politisch aufgeladenen Entstehungskontext abgetrennt und zu interessanten und wissenschaftlich wertvollen Forschungsobjekten umgewandelt wurden. Noch genauer geht Thomas Schnalke auf ein konkretes Beispiel der Rasseforschung ein (eine Untersuchung von „Hereroköpfen“ aus dem Jahr 1914), um „über die generelle Feststellung einer aus dem Lot geratenen, hierarchisch-wertenden anthropologischen Wissenschaft hinauszukommen und die epistemischen, semantischen und terminologischen Stellschrauben in den gedanklichen Konstruktionen […] dieser ‚Menschenlehre‘ ausfindig zu machen“ (S. 171). Er richtet dabei den Blick vor allem auf jene Bereiche, in denen vermeintlich neutrale Begriffe wie „Dicke“ oder „Differenzierung“ wertend angereichert und dadurch zu „Begriffen mit Gefälle“ (S. 178) wurden. Diese wissenschaftshistorische Perspektive ist vor allem deshalb wichtig, weil sie die Messdaten und die auf ihnen aufbauenden Klassifikationspraktiken im Kern problematisiert und aus dem Status eines objektiven Vergleichsrahmens hinaushebt.

Im zweiten Teil des Bandes werden Methoden der Provenienzforschung vorgestellt, wobei sowohl Historiker/innen und biologische Anthropolog/innen zu Wort kommen. Im Mittelpunkt stehen vor allem die Möglichkeiten und Grenzen der Herkunftsrecherche. In allen Beiträgen heben die Autor/innen deutlich hervor, dass interdisziplinäres Arbeiten hier am ehesten zu belastbaren Ergebnissen führen kann. Allerdings werden auch die Schwierigkeiten einer solchen Zusammenarbeit evident, da die beteiligten Wissenschaftler/innen oftmals aus sehr unterschiedlichen, ja sich widersprechenden, Perspektiven auf das Problem der Provenienz schauen. Wie es Stoecker, Schnalke und Winkelmann selbst formulieren, führte im Laufe der Tagung vor allem die Frage nach der biologischen Realität von Rasse bzw. Bevölkerungszugehörigkeit zu nahezu unversöhnlichen Positionen zwischen Geistes- und Naturwissenschaftler/innen. Im vorliegenden Werk werden diese Antagonismen jedoch nicht weiter benannt oder kritisch aufgegriffen, sondern die Perspektiven werden neutral nebeneinandergestellt. Hier hätten Beiträge aus der soziologischen Wissenschaftsforschung womöglich hilfreich sein können, um mehr Aufmerksamkeit auf heutige epistemische Praktiken und die ihnen zugrundeliegenden Wissensgenealogien zu lenken.

Im dritten Teil geht es schließlich um die Frage der Restitution. Hier kommen Juristen/innen, Ethiker/innen, Ethnolog/innen und Historiker/innen zu Wort. Es wird deutlich, dass es keine Patentlösung gibt: Letztlich kann Restitution nur mit einer Debatte über die Vergangenheit, nicht mit deren endgültigen Abschluss oder auch der Produktion „sauberer Sammlungen“ einhergehen. Wie die Beiträge von Larissa Förster und Gesine Krüger zeigen, ist darüber hinaus die „Politik der Knochen“ auch mit deren Rückkehr in die sogenannten Herkunftsgesellschaften keineswegs abgeschlossen.

Bewusst verzichten Stoecker, Schnalke und Winkelmann in ihrem Sammelband auf die Einbindung von Restitutionsaktivist/innen, um die akademische Diskussion „unabhängig von aktuellen Rückgabeforderungen und von laufenden Verhandlungen über konkrete Sammlungsteile“ (S. 15) führen zu können. Dies mag angesichts der bereits angedeuteten Schwierigkeiten der Debatte nachvollziehbar erscheinen, produziert aber dennoch eine gewisse Schieflage im Gesamteindruck, zumal Vertreter/innen der betroffenen Institutionen ihre Position, die ja auch eine politische ist, durchaus deutlich machen. Die Haltung der Herausgeber zum Thema Restitution ist klar: sie erkennen den wissenschaftlichen Wert der Sammlungen an, argumentieren jedoch für ein proaktives Handeln in Bezug auf die umfassende Aufarbeitung der Sammlungsgeschichte und damit verbunden auch des deutschen Kolonialismus. Dafür öffnet der Tagungsband einen Dialograum – allerdings mit der oben erwähnten Leerstelle der Aktivist/innen und der weiteren Einschränkung, dass die versammelten Autor/innen kaum Bezug aufeinander nehmen. So gerät der Spagat zwischen den verschiedenen Positionen im Laufe der Lektüre manchmal zur schmerzhaften Übung; als Leserin hätte ich mir deutlichere editorische Eingriffe gewünscht.

Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass das vorliegende Buch keineswegs den Abschluss einer Diskussion markiert, sondern vielmehr den Beginn einer zwingend notwendigen Auseinandersetzung mit Geschichte, Gegenwart und Zukunft der Sammlungen darstellt – einschließlich der damit verbundenen politischen und wissenschaftspraktischen Implikationen. Wie die verschiedenen Beiträge zeigen, besteht hier nach wie vor erheblicher Forschungs- und politischer Handlungsbedarf. Das DFG-geförderte interdisziplinäre Charité Human Remains Project war ein notwendiger Schritt in diese Richtung. Wenn er im Nachhinein nicht halbherzig erscheinen soll, müssen weitere finanzielle und institutionelle Maßnahmen folgen. Nur dann kann es den involvierten Museen und Sammlungen möglicherweise gelingen, aus dem langen Schatten des 19. Jahrhunderts herauszutreten.

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