U. Meier u.a.: Semantiken des Politischen

Titel
Semantiken des Politischen. Vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert


Autor(en)
Meier, Ulrich; Papenheim, Martin; Steinmetz, Willibald
Erschienen
Göttingen 2012: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
128 S.
Preis
€ 9,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Fernando Esposito, Philosophische Fakultät, Universität Tübingen

„Man wird selten eine klare Definition des Politischen finden. Meistens wird das Wort nur negativ als Gegensatz gegenüber verschiedenen anderen Begriffe gebraucht […]. Im Allgemeinen wird ‚Politisch‘ in irgendeiner Weise mit ‚Staatlich‘ gleichgesetzt oder wenigstens auf den Staat bezogen. Der Staat erscheint dann als etwas Politisches, das Politische aber als etwas Staatliches – offenbar ein unbefriedigender Zirkel“.1 Gleichwohl der Autor des 1927 erschienenen „Der Begriff des Politischen“, Carl Schmitt, nunmehr diverse auch ‚linke‘ Lektüren erfahren hat, bleibt es eine unbequeme Traditionslinie, die Reinhart Koselleck, seine Begriffsgeschichte und sein Interesse für die politischen Begriffe mit demselben verbinden.2 Bezeichnete Koselleck Schmitt einst als einen der vielen „Väter“ seiner Begriffsgeschichte3, so ist Willibald Steinmetz, der Herausgeber der Reihe „Das Politische als Kommunikation“, in der das vorliegende Bändchen erschienen ist, nebst Ulrich Meier und Martin Papenheim Autor des Essays, sicherlich einer der profiliertesten ‚Söhne‘ dieses Koselleckˈschen Unterfangens. Angesichts der jüngst diskutierten Herausforderungen, vor denen eine Geschichte der historisch-politischen Grundbegriffe des 20. Jahrhunderts steht4, ist diese Auseinandersetzung mit den Vätern der Begriffsgeschichte möglicherweise einer der Bewegründe des Essays, sich mit den Fragen „was ist Politik?“ und „worin besteht das Politische?“ (S. 7) auseinanderzusetzen. Weitere Anstöße dürften die in den letzten Jahrzehnten erfolgte „Entzauberung der Politik“ einerseits sowie die „Neuerfindung des Politischen“ andererseits darstellen.5 Das ‚Politische‘ ist jedenfalls seit etwa den späten 1960er-Jahren in einem noch geringeren Maße als zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von Schmitts „Der Begriff des Politischen“ mit dem Staatlichen gleichzusetzen und erscheint polyvalenter als je zuvor. Wie der von den Autoren „in aufklärender Absicht“ unternommene Durchgang durch die diachrone wie synchrone „Vielfalt der Verständnisse von ‚Politik‘ vom Mittelalter bis in die jüngste Vergangenheit“ (S. 7) in den (west)europäischen Sprachen zeigt, war Vielgestaltigkeit dem Politischen indes stets zu eigen.

Da sich die Autoren auf die von den griechischen Wörtern ‚polis‘ und ‚politikos‘ abgeleiteten Begriffe konzentrieren, nimmt ihre Geschichte ihren Ausgang bei der circa 1265 erfolgten Neuübersetzung von Aristoteles’ „Politik“. Nachdem das politische Denken von den spätantiken und frühmittelalterlichen Autoren, man denke etwa an Augustinus’ „De civitate dei“, theologisiert worden sei, ereignete sich im 13. Jahrhundert eine „Wiedergewinnung des Politischen“ (S. 16). Die Spannung zwischen Antikenrezeption, christlicher Lehre und den politischen Realitäten des Mittelalters verdeutlicht Ulrich Meier etwa an der Übersetzung von Abschnitt I.1; 1252a13f. der „Politik“ durch Wilhelm von Moerbeke und den Kommentaren Albertus Magnus’ und Thomas von Aquins: Aristoteles selbst unterschied den antiken Staatsmann (politikos) vom alleinregierenden König (basilikos) dadurch, dass ersterer „nach den Bestimmungen des entsprechenden Wissens im Wechsel regiert und sich regieren lässt“. Während von Moerbeke aus dem ‚politikos‘ „das Politische“ (politicum) machte, wurde bei Thomas daraus wiederum das politische Regiment (regimen politicum), das sich durch Gesetzesbindung auszeichnete.6 Dass der Amtswechsel und somit die politische Partizipation, wenn nicht undenkbar, so doch unsagbar geworden zu sein scheinen, mag als beispielhaft für das erste der drei Dauerprobleme gelten, welche laut Autoren den etwa achthundertjährigen Untersuchungszeitraum bestimmen: die Dichotomie von Teilhabe und Sicherheit.

Der zweite anhaltende Konflikt, der das Politische und das entsprechende Vokabular kennzeichnet, ist jener zwischen Macht und Moral. Paradigmatisch für diesen Zwiespalt sind nicht zuletzt Niccolò Macchiavelli und sein 1532 erschienener „Principe“, dessen Rezeption entscheidend zur „praxeologischen Erweiterung der ‚Politik‘“(S. 57) in der Frühen Neuzeit beitrug. Martin Papenheim zeigt das Wechselspiel zwischen zentralen Entwicklungen der Epoche, Konfessionalisierung und Herausbildung des modernen Staates etwa, und dem Politikbegriff auf. Dieser befreite sich „von einem geschlossen religiös-moralischen Weltbild“ und wurde „zu einem Begriff der situativen Nutzenmaximierung in verschiedenen Handlungsfeldern“ (S. 73). Mit der Vertragstheorie ging auch eine Neubestimmung des Verhältnisses von Individuum und politischem Gemeinwesen einher: der sich etablierende Leviathan verlangte nach Begründungen und Begrenzungen. Die Frage nach den Grenzen und dem Primat der Politik drängte sich also an der Schwelle zur Moderne auf und steht im Zentrum von Steinmetz’ Erörterungen: Mit der Etablierung der Politik als eigenständigen Funktionssystem und angesichts seiner „expansiven Tendenz“ (S. 83) habe sich das Verhältnis der Politik zu anderen Teilsystemen als dritter zentraler Konflikt erwiesen. Wie konnte ein Teilsystem die Zuständigkeit für die Steuerung des Ganzen erhalten beziehungsweise wie ließ sich dieser Anspruch legitimieren oder abwehren? Nebst diesen „Rangstreitigkeiten“ zwischen Politik und Religion, Recht, Wissenschaft, Kunst und Wirtschaft wird der Topos des unpolitischen deutschen Bürgertums näher beleuchtet. An ihm lässt sich nicht zuletzt aufweisen, dass das Politische den Bereich der institutionalisierten Politik, das Staatliche transzendiert.

Ein Essay, der einen achthundertjährigen Zeitraum abdeckt, zwingt stets zur Einschränkung und es wäre wohlfeil, die Auswahl der in dem weiten Feld des Politischen unternommenen Probebohrungen zu kritisieren. Doch wenngleich das Genre als auch insbesondere die Quellenlage (im Falle der beiden früheren Epochen) das auf die großen Theoretiker und Männer gelegte Hauptaugenmerk verständlich erscheinen lassen, so wäre die Berücksichtigung eines breiteren sozialen Spektrums an Aussagenden wünschenswert gewesen. Ob diese Ausweitung folgerichtig mit einer zusätzlichen methodischen Öffnung der Begriffsgeschichte hin zur Diskursanalyse, Metaphorologie, Intellectual History und Ideengeschichte einherzugehen hätte, welche die Indikator- und Faktorfunktion der Begriffe noch deutlicher hervorkehren ließe, müsste an anderer Stelle diskutiert werden. Meier, Papenheim und Steinmetz haben jedenfalls einen konzisen, zu weiterem Nachdenken anregenden Beitrag zur Frage nach dem Politischen und der Politik vorgelegt. Nicht nur die Politik ist, wie der von den Autoren herangezogene Max Weber behauptete, „ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich“ (S. 113), sondern auch die Beschäftigung mit der Vielfalt der Verständnisse derselben.

Anmerkungen:
1 Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corrolarien, Berlin 1991³, S. 20f.
2 Siehe Reinhart Koselleck, Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe, in: Ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 2006, S. 211–259.
3 Begriffsgeschichte, Sozialgeschichte, begriffene Geschichte. Reinhart Koselleck im Gespräch mit Christof Dipper, in: NPL 43 (1998), S. 187–205, hier S. 187. Siehe zudem: Reinhard Mehring, Begriffsgeschichte mit Carl Schmitt, in: Hans Joas / Peter Vogt (Hrsg.), Begriffene Geschichte. Beiträge zum Werk Reinhart Kosellecks, Berlin 2011, S. 138–168.
4 Siehe: Christian Geulen, Plädoyer für eine Geschichte der Grundbegriffe des 20. Jahrhunderts, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe 7 (2010), <http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Geulen-1-2010> (06.11.2014); sowie die Beiträge zur Roundtable Discussion: Geschichtliche Grundbegriffe Reloaded? Writing the Conceptual History of the Twentieth Century, die in Contributions to the History of Concepts 7 (2012), S. 78–128 abgedruckt worden sind.
5 Willibald Steinmetz, Neue Wege einer historischen semantic des Politischen, in: Ders. (Hrsg.) „Politik“. Situationen eines Wortgebrauchs im Europa der Neuzeit, Frankfurt am Main / New York 2007, S. 9–40.
6 Vgl. hierzu auch schon Ulrich Meier, Mensch und Bürger. Die Stadt im Denken spätmittelalterlicher Theologen, Philosophen und Juristen, München 1994, S. 85f.

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