P. Scharer: Robert Friedrich Wetzel

Cover
Titel
Robert Friedrich Wetzel (1898–1962). Anatom – Urgeschichtsforscher – Nationalsozialist


Autor(en)
Scharer, Philip
Reihe
Schriften zur Medizingeschichte 6
Erschienen
Anzahl Seiten
434 S.
Preis
€ 129,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Mathias Schütz, Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin, Ludwig-Maximilians-Universität München

Mit einer Biographie des Anatomen Robert Friedrich Wetzel (1898–1962) hat Philip Scharer im Jahr 2012 eine medizinhistorische Dissertation vorgelegt, die verschiedene Aspekte der Wissenschaftsgeschichte des Nationalsozialismus beleuchtet. Scharers Arbeit reiht sich nicht nur in die Forschung zur Wissenschafts- und Hochschulpolitik des Nationalsozialismus ein, deren Tübinger Ausprägungen in einer umfassenden Studie vorliegen.1 Auch liefert sie einen Beitrag zur Geschichte der Anatomie im Nationalsozialismus, deren Erforschung in den letzten Jahren an Schwung gewonnen hat und insbesondere solche Professoren ins Blickfeld rücken ließ, die in ihrer Forschung von Verbrechen profitierten – wie etwa Hermann Stieve (1886–1952) oder Max Clara (1899–1966).2

Wetzel, der nach seiner Berufung kaum noch anatomisch forschte und veröffentlichte, fällt nicht unter diese Kategorie, was zum Teil erklären mag, warum der gesamte Forschungsstand zur Anatomiegeschichte in Scharers Buch keine Erwähnung findet. Der Anatom hatte schon lange vor seiner Rückkehr in seinen Geburtsort Tübingen ein ausgeprägtes Interesse für urgeschichtliche Themen entwickelt und konzentrierte sich mehr und mehr auf seine paläontologischen Ausgrabungen in der Schwäbischen Alb. Im Gedächtnis geblieben ist er nicht als Anatom oder Nationalsozialist, sondern eben als Urgeschichtsforscher, insbesondere durch die von ihm zutage geförderten Splitter des sogenannten Löwenmenschen, einer jungpaläolithischen Skulptur aus Mammutelfenbein. Daher nimmt das Kapitel zur urgeschichtlichen Forschung Wetzels auch ein gutes Viertel des Buches ein.

Robert Wetzel wuchs in einem bürgerlich-akademischen Umfeld auf – zwei seiner Brüder wurden ebenfalls Professoren –, studierte Medizin und begann seine Karriere an der Universität Würzburg. 1933 trat er der NSDAP und der SA bei, 1937 wechselte er, nachdem Himmler und das „Ahnenerbe“ die Finanzierung seiner Ausgrabungsprojekte übernommen hatten, zur SS. 1936 wurde er nach einer kurzen Lehrstuhlvertretung in Gießen auf das Direktorat der Tübinger Anatomie berufen. Als Prorektor, zeitweiliger kommissarischer Rektor, SD-Spitzel und vor allem als langjähriger Dozentenführer der Eberhard-Karls-Universität beeinflusste er deren Geschicke im Nationalsozialismus maßgeblich. 1945 wurde er interniert und entlassen, zwei Jahre später von einer Münchner Spruchkammer als Mitläufer „entnazifiziert“. Erst 1961, kurz vor seinem Tod, wurde Wetzel per Emeritierung wieder in seine akademischen Rechte eingesetzt; diese späte Entscheidung führte er auf eine regelrechte Verschwörung von Fakultät und Universität gegen seine Person zurück. Insofern erscheint ein Urteil über den aktiven Nationalsozialisten nicht schwierig. Scharer will jedoch eine differenzierte Sicht befördern und die drei im Untertitel des Buches benannten Funktionen Wetzels – Anatom, Urgeschichtsforscher, Nationalsozialist – gleichermaßen würdigen.

Der Umfang des Buches ist auch dadurch zu erklären, dass selbst die skurrilsten Anekdoten aus Wetzels Leben wie der von ihm initiierten „Wetzel-Lauf“ an der Universität Tübingen ausführlich beschrieben und mit langen Quellenzitaten ausgeschmückt werden. Wetzel, der in jeder seiner Lebensphasen und Funktionen sehr umtriebig war, sich überall einmischte und zu allem äußerte, hat hierfür reichlich Material hinterlassen.

Scharer vermag über weite Strecken ein differenziertes Bild von Wetzels Persönlichkeit und seinen Handlungen zu zeichnen. Einige Punkte sollen jedoch benannt werden, die der Kontextualisierung bedurft hätten. Hierzu gehört etwa die Frage der Leichenbeschaffung für die Tübinger Anatomie. Scharer bezieht sich bei diesem hoch sensiblen Thema weitgehend auf die Pionierstudie von Benigna Schönhagen aus dem Jahr 1987, in der die extensive Verwendung von Hingerichteten und Kriegsgefangenen in deutschen Anatomien während des Nationalsozialismus erstmals eingehend herausgearbeitet wurde.3 Zumindest problematisiert werden müsste jedoch eine scheinbar beiläufige Forderung Wetzels aus dem Jahr 1942: Er verlangte, dass seinen Studierenden Mappen zur Aufbewahrung von mikroskopischen Präparaten zur Verfügung gestellt würden – von Präparaten, die er jedem dieser Studierenden vermachte (S. 82). Diese Forderung gewinnt durch eine von Scharer zitierte Aussage Martin Heidenhains (1864–1949) – Wetzels Vorgänger auf dem Tübinger Lehrstuhl – aus dem Jahr 1919 an Brisanz: Heidenhain bedauerte, dass keine Leichen Hingerichteter mehr in die Anatomie kämen. Der besondere Wert dieser Leichen bestand nicht zuletzt darin, dass sie genug „Material“ für mikroskopische Präparate für „Tausende von Studierenden“ lieferten (S. 62). 23 Jahre später war nicht nur die Anzahl von Leichen Hingerichteter massiv angestiegen, sondern durch die Ausbildung von Wehrmachtsärzten auch die Anzahl der Studierenden, die nun mit mikroskopischen Präparaten zum Selbststudium versorgt wurden. Wetzels Forderung wird von Scharer jedoch schlichtweg als Beleg für den Einsatz des Anatomen für seine Studenten genommen und weder mit den rasant ansteigenden Studierendenzahlen noch mit der Hinrichtungsjustiz in Verbindung gebracht.

Eine ähnlicher Fall mangelnder Kontextualisierung betrifft einen Brief Wetzels an das SS-„Ahnenerbe“ von Anfang 1945, in dem er über die rassenkundlich und politisch ausgerichtete Wissenschaft herzieht, die keine tragbaren Ergebnisse zu produzieren vermöge (S. 132). Scharer konstatiert zwar selbst den himmelschreienden Widerspruch zu Wetzels tatsächlichem – politischen – Wissenschaftsverständnis (S. 136). Dennoch gilt ihm der Brief als Beweis eines (angeblichen) Sinneswandels des maßgeblichen NS-Funktionärs der Universität Tübingen, der die theologischen Fakultäten ausschalten und an deren statt die „Judenforschung“ in Tübingen etablieren wollte. Dabei handelt es sich bei dieser Episode möglicherweise bloß um einen jener nationalsozialistischen Grabenkämpfe, die Wetzel permanent ausfocht: Denn genau zu diesem Zeitpunkt war Wetzel gezwungen, den aus Straßburg geflohenen Anatomen August Hirt (1898–1945) in seinem Institut zu beherbergen. Hirt, der aufgrund seiner Humanexperimente mit Senfgas im KZ Natzweiler-Struthof und seiner „jüdisch-bolschewistischen“ Skelettsammlung in Abwesenheit als Kriegsverbrecher zum Tode verurteilt wurde und also tatsächlich eine rassenkundlich ausgerichtete Wissenschaft betrieb, war Wetzel ganz offenbar ein Dorn im Auge (S. 106). Ohnehin hätte der Abschnitt zu Hirt nicht der Quellenbelege bedurft, die der Autor sorgfältig herausgesucht hat – hier hätte eine Zusammenfassung der verdienstvollen, umfassenden Studie Hans-Joachim Langs völlig ausgereicht.4

Die teilweise sehr großzügige Beurteilung des Protagonisten wird dann auch an der Differenzierung zwischen einem „frühen“ und einem „späten“ Wetzel deutlich, wobei die angebliche Kehrtwende 1939 erfolgt sein soll. Der Autor bezieht sich dabei hauptsächlich auf einen Brief von Wetzels Ehefrau Lore an die Tübinger Universität kurz nach Kriegsende, der in seiner apologetischen Tendenz noch jeden Persilschein in den Schatten stellt. Lore Wetzels Verteidigung ihres Mannes erscheint Scharer so „glaubhaft“, dass sie in voller Länge über drei Seiten abgedruckt wird. Aus ihr wird geschlussfolgert, Wetzel sei „aus Idealismus und guten Glaubens in die Partei eingetreten und in den ersten Jahren von ihren vermeintlich hehren Absichten überzeugt gewesen“ (S. 220), habe sich dann aber mit Beginn des Zweiten Weltkriegs gewandelt, auch wenn sich die „innere Abkehr von den Zielen von einst nicht expressis verbis belegen“ lässt (S. 238). Ganz unabhängig vom zweifelhaften Wert einer Quelle, deren Autorin sich eingangs für ihren „weiblich unpolitische[n] Verstand“ (S. 216) entschuldigt, und ganz unabhängig von der Frage, wie genau man sich den ursprünglichen, später enttäuschten nationalsozialistischen Idealismus Robert Wetzels vorzustellen hat – dass der Anatom 1944 seine Tübinger Dozentenführerschaft im Zuge der Entmachtung von Reichsdozentenführer Walter Schultze (1894–1979) verlor und im selben Jahr die Denunziationstätigkeit für den SD einstellen musste, ist ganz sicher nicht auf eine innere Abkehr zurückzuführen. Wetzel hatte sich durch seine Impertinenz schlichtweg zu viele Feinde gemacht.

Möglicherweise ist Scharers wohlwollende Einschätzung auf die Begeisterung und Hingabe zurückzuführen, mit der Wetzel bis zu seinem Tode die paläontologische Erforschung der Schwäbischen Alb durchführte, und die der Autor anhand der Grabungstagebücher eingehend beschreibt. Zumindest drängt sich der Eindruck auf, dass die vom Löwenmensch ausgehende „Faszination“ nicht nur „diese Arbeit weitgehend beeinflusste“ (S. 433), sondern letztlich auch die Beurteilung des Nationalsozialisten Robert Wetzel.

Anmerkungen:
1 Hier findet sich auch eine vorläufige und komprimierte Fassung der Dissertation: Philip Scharer, Robert F. Wetzel (1898–1962) – Anatom, Urgeschichtsforscher, Nationalsozialist. Eine biografische Skizze, in: Urban Wiesing / Klaus-Rainer Brintzinger / Bernd Grün / Horst Jungiger / Susanne Michl (Hrsg.), Die Universität Tübingen im Nationalsozialismus, Stuttgart 2010, S. 809–831.
2 Vgl. als Überblick: Sabine Hildebrandt, Anatomie im Nationalsozialismus. Stufen einer ethischen Entgrenzung, in: Medizinhistorisches Journal 48 (2013), S. 153–185.
3 Benigna Schönhagen, Das Gräberfeld X. Eine Dokumentation über NS-Opfer auf dem Tübinger Stadtfriedhof, Tübingen 1987.
4 Hans-Joachim Lang, Die Namen der Nummern. Wie es gelang, die 86 Opfer eines NS-Verbrechens zu identifizieren, Hamburg 2004.

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