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Titel
Gewalt in Wort und Tat. Praktiken und Narrative im spätmittelalterlichen Frankreich


Autor(en)
Mauntel, Christoph
Reihe
Mittelalter-Forschungen 46
Erschienen
Ostfildern 2014: Jan Thorbecke Verlag
Anzahl Seiten
S. 538
Preis
€ 55,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin Clauss, Institut für Europäische Geschichte, Technische Universität Chemnitz

Christoph Mauntel nimmt sich in seiner vorliegenden Dissertation eines komplexen Themas an, das für die Mediävistik von zentraler Bedeutung ist: der Gewalt. Sein Untersuchungsgegenstand ist Frankreich im 14. und 15. Jahrhundert, mithin eine Zeit, die von diversen Gewaltszenarien geprägt war, vor allem dem Hundertjährigen Krieg und den ihn begleitenden Bürgerkriegen und Aufständen. Diese Formen von Gewalt stehen denn auch im Mittelpunkt der umfang- und detailreichen Studie, die alle Formen alltäglicher Gewalt – etwa im familiären Kontext – ausklammert. Erkenntnisziel ist, „die mittelalterliche Vorstellung von Gewalt zu untersuchen“ (S. 14); es geht mithin weniger um die Praktiken selbst, als um deren Zuschreibungen und Ausdeutungen in verschiedenen narrativen Kontexten. Dies geschieht auf einer sehr breiten Quellengrundlage, die historiographische Texte, theologische und juristische Abhandlungen, literarische Werke und Bilder umfasst, wobei der Schwerpunkt auf der Historiographie liegt.

Mauntel nähert sich seinem Thema nicht chronologisch oder nach Quellenarten geordnet, sondern systematisierend: Er etabliert verschiedene moderne Analysekategorien – etwa Gewaltformen, -aspekte oder -akteure – und trägt diese an die Quellen heran. Grundlegend für diesen Zugriff ist eine moderne Definition von Gewalt als intentionale Handlung, die auf die Verletzung der körperlichen Integrität mindestens einer Person abzielt (S. 35). Mit diesem engen Gewaltbegriff, der alle Formen von struktureller oder kultureller Gewalt außen vor lässt, folgt Mauntel dem aktuellen Forschungstrend vor allem der mediävistischen Militärgeschichte. Der Vorteil dieser Definition liegt darin, ein Bündel an Situationen und Zuschreibungen abzugrenzen, die der heutigen Leserschaft vergleichbar erscheinen. Als Schwierigkeit erweist sich, dass die untersuchten Zeugnisse diese Kategorisierung nicht kennen. Mauntel nennt sein Vorgehen in Anlehnung an Peter von Moos einen „kontrollierten Anachronismus“ (S. 30). Dieser ist methodisch konsequent umgesetzt und nimmt dabei in Kauf, dass die Analysekategorie quer zu manchen Vorstellungen der Zeitgenossen liegt und Handlungen vergleicht, deren Gemeinsamkeit nur den modernen Betrachtern offenkundig ist. Dabei geht der Verfasser von einer grundsätzlich und durchgehend negativen Konnotation von Gewalt in der modernen Gesellschaft aus und proklamiert in Sachen Gewalt eine „kulturelle Alterität“ (S. 70) des Mittelalters. Beide Ansichten sind unhinterfragte Grundannahmen der Analyse, denen sich zweifelsohne nicht die gesamte moderne Mediävistik anschließen würde.

Der Aufbau der Arbeit ist sehr strukturiert und kleinteilig, was Zugriffe auf Einzelaspekte erlaubt und dafür mitunter Redundanzen in Kauf nimmt. Nach ‚Hinführung‘ (S. 11–17) und ‚Orientierung‘ zum Gewaltbegriff, Forschungstand und Quellenkorpus (S. 19–67) folgt das Kapitel ‚Voraussetzungen: Perspektiven auf Gewalt‘ (S. 69–136), in dem die Sichtweisen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen auf Gewalt – gemeint ist hier vor allem kriegerische Gewalt – vorgestellt werden: von ‚kriegerisch-bejahend‘, über ‚theologisch-skeptisch‘ bis zu ‚intellektuell-reflektierend‘. Kapitel IV: ‚Problematisierung: Formen der Gewalt‘ (S. 137–346) geht verschiedenen Aspekten von Krieg, Bürgerkrieg, Aufständen (etwas umständlich als „kollektive Gewalt“ bezeichnet), Zweikämpfen, Attentaten („interpersonelle Gewalt“) und obrigkeitlicher Gewalt nach. Die große Bandbreite der hier untersuchten Phänomene führt vor dem Hintergrund des kontrollierten Anachronismus zu einem wenig überraschenden Zwischenfazit: „Verschiedene Formen der Gewalt im Mittelalter lassen sich eher unter der Kategorie der Ambivalenz fassen, denn als einheitliches Phänomen“ (S. 344). Wichtige Aspekte dieser Ambivalenz werden dabei schlüssig herausgearbeitet: Die Bezugnahme von Gewaltdeutungen auf die Vorstellung von Ordnung oder die Abhängigkeit der Wertungen von ständischer oder geographischer Gruppenzugehörigkeit der Gewaltakteure.

Der interessanteste Teil der Arbeit ist das Kapitel V: ‚Vertiefungen: Aspekte der Gewalt‘ (S. 347–429). Hier analysiert Mauntel auf der Grundlage der vorangegangenen Kapitel und des hier erarbeiteten Deutungsangebotes im Querschnitt der bislang geschiedenen Gewaltformen eine Reihe interessanter Aspekte, von denen hier nur einige exemplarisch angeführt werden können: etwa das Töten und Sterben als Leerstelle historiographischer Erzählungen, das Bild des Metzgers/Schlächters in seiner ambivalenten Bedeutung für das kriegeradlige Verständnis von Krieg und Gewalt oder die narrative Funktion von Vergleichen als Ausgrenzungsstrategie und Gruppenerzeugung. Hier werden verschiedene Quellenbefunde zusammengetragen und Gemeinsamkeiten herausgearbeitet, die uns den Vorstellungen der Zeitgenossen und damit unserem Verständnis der Quellen ein gutes Stück näher bringen.

Abschnitt VI beinhaltet neun farbige Abbildungen in mehrheitlich sehr guter Qualität, die freilich etwas unverbunden neben den restlichen Ausführungen stehen. In seinen ‚Schlussfolgerungen: Spannungsfelder der Gewalt‘ (S. 443–449) zieht der Verfasser ein Fazit, das weitgehend überzeugt, ohne immer zu überraschen: Das französische Spätmittelalter erscheint in den Quellen als durch Gewalt geprägt, deren Ausdeutung stark von Kontext und Perspektive abhängt: „Beklagt und kritisiert, gelobt und gefeiert wurde also nicht die Gewalt selbst, sondern die Umstände ihrer Ausübung“ (S. 446).
Quellen- und Literaturverzeichnis (S. 452–528) und ein Register beschließen diesen Band, der etliche Aspekte der narrativen Präsentation von Gewalthandlungen beleuchtet und neu interpretiert und damit einen gewichtigen Beitrag zur Geschichte des Hundertjährigen Krieges und seiner Historiographie leistet.

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