U. Leitner (Hrsg.): Humboldt/Friedrich Wilhelm IV. Briefwechsel

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Titel
Alexander von Humboldt / Friedrich Wilhelm IV., Briefwechsel. Mit einer einleitenden Studie von Bärbel Holtz


Herausgeber
Leitner, Ulrike
Reihe
Beiträge zur Alexander-von-Humboldt-Forschung 39
Erschienen
Berlin 2013: de Gruyter
Anzahl Seiten
616 S.
Preis
€ 99,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jörg Meiner, Berlin

„Salve! Alexandros!“ Was zunächst wie eine überschwängliche, vielleicht auch ironische Grußformel unter Freunden mit altphilologischer Bildungsattitüde anmutet, ist nichts weniger als der Ausdruck einer vermittelnden Brücke zwischen zwei Männern des 19. Jahrhunderts, die durch Herkunft und sozialen Rang zwar deutlich voneinander getrennt waren, die sich jedoch in ihrem Wollen und Wesen, ihren Vorstellungen sehr nahe standen oder sich zumindest mit äußerster Hochachtung begegneten. Der Brief vom Oktober 1850 an „Alexandros“ (S. 434f.), den schon 81jährigen Alexander von Humboldt, ist mit „Vale! FWR“ unterzeichnet und stammt aus der Feder des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. (1795–1861). Der König schreibt an seinen Kammerherrn in einem vertraulichen Ton, der Text ist durchsetzt mit geistreichen Anspielungen und französischen Einsprengseln, fast launig; er zeugt von gewährter Nähe jenseits von höfischer Rangordnung, Zeremoniell und Etikette.

Im Briefwechsel des Königs und Humboldts herrscht diese Form der Anrede von oben nach unten – abgesehen von den offiziellen Schreiben – durchgängig, während Humboldt in seinen Briefen an Friedrich Wilhelm natürlich die Form wahrt und sich stets an „Ew. Majestät“ wendet.

Der intellektuell und künstlerisch begabte Friedrich Wilhelm IV., der schon als junger Kronprinz den wesentlich älteren Humboldt schätzen lernt, war zeitlebens voller Bewunderung für den Weltwissenschaftler, den akribisch und unter Selbstaufopferung Forschenden, den Diplomaten, allwissenden Ratgeber und Unterhalter. Er zieht ihn in seine Nähe, hält ihm großzügig finanziell den Rücken frei, ehrt ihn mit Orden und anderen Gunstbeweisen, gestattet ihm wie kaum einer anderen Person des Hofstaates eine Art permanentes Audienzrecht – kurzum: Humboldt hatte gleichsam eine außerhalb gängiger Regeln angesiedelte Stellung im Staat Preußen und am Hof des Königs. Der preußische Leuchtturm im Meer der internationalen Wissenschaft genoss weltweit ein gewaltiges Ansehen und an dieser Fama zu partizipieren, dürfte dem König neben der ehrlichen Bewunderung zupass gekommen sein. Humboldt initiierte vielfach die Bemühungen Friedrich Wilhelms um Wissenschaft und Kunst, flankierte sie oder gab ihnen – wie etwa in seiner Eigenschaft als Kanzler der 1840 zu Beginn der Herrschaft Friedrich Wilhelms IV. neugeschaffenen Friedensklasse des Ordens Pour le mérite – Qualität und Glanz vor den Augen der weltweiten Forschungsgemeinschaft und des allgemeinen Publikums.

Ulrike Leitner von der Alexander-von-Humboldt-Forschungsstelle der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften hat unter der Mitwirkung von Eberhard Knobloch den bislang 429 Briefe zählenden und in der Hauptsache im Geheimen Staatsarchiv Berlin erhaltenen Schriftverkehr jetzt akribisch und kenntnisreich kommentiert herausgegeben. Über die frühere Teilpublikation Conrad Müllers von 1928 1 geht diese Edition weit hinaus; sie folgt dem Standard der textgetreuen Transkription und bietet zudem Übersetzungen der fremdsprachlichen Bestandteile der Korrespondenz. Viel aufwendiger war noch die Kommentierung der vielfach verschlungenen und anspielungsreichen Sentenzen der beiden Briefpartner, denn wer hätte etwa auf Anhieb gewusst, dass sich hinter der „pausbäckische[n] Verschönerung meines Zimmers“ (S. 402), mit der Humboldt 1848 in seinem Zimmer im Hofgärtnerhaus bei Charlottenhof vom König überrascht wurde, ein Gemälde des Berliner Malers Pauseback mit der Darstellung des Tegeler Schlosses verbirgt? Solche vielsagenden Details füllen den Kommentar und erhellen dem Leser neben dem Inhalt der Briefe auch das besondere Verhältnis von Adressat und Absender. (In diesem Zusammenhang wäre es vielleicht wünschenswert gewesen, wenn neben dem Personen- und Sachindex auch ein Ortsverzeichnis erarbeitet worden wäre.)

Die Edition leitet eine konzise Studie von Bärbel Holtz ein, die die persönlichen und politischen Momente der Beziehung zwischen König und Kammerherrn sinnfällig als eine Art symbiotische Beziehung interpretiert. Der „Weltweise“ Humboldt profitiert von der Ehre, die ihm der Hof und der König durch Stellung, Gehalt und Auszeichnungen bezeugt und umgekehrt überglänzt der Ruhm des Forschers das Königreich. Das Streben des Königs, durch Bildung das kulturelle Niveau seiner Untertanen zu erhöhen, manifestiert sich gleichsam vorbildhaft in ihm selbst, indem er sich der Nähe der größten intellektuellen Autorität seines Landes versichert und sich von ihr sozusagen unterrichten lässt. Vielleicht liegt in diesem Umstand auch ein wesentlicher Grund, warum Humboldt (gegen seinen ausdrücklichen Wunsch) in den Staatsrat berufen wurde, was ihm zwar eine außerordentlich hohe und nach außen wirkende Ehrung bedeutete, aber für die Verwirklichung seiner Ziele mehr als hinderlich erschien. Der König dagegen fügte seiner Krone mit dieser Berufung gleichsam einen hochkarätigen Diamanten ein.

Wie Holtz bemerkt, sind die Briefe zumeist in der Personalrepositur des Königs abgelegt, sie gehörten folglich zur Privatkorrespondenz Friedrich Wilhelms IV. und sind somit Zeugnis des schon angesprochenen, kaum zu unterschätzenden Vorteils, den Humboldt gegenüber anderen hohen Bediensteten des Hofes hatte – er konnte sich immediat an den König wenden, ohne die Hürden und Filter nachgesetzter Behörden wie Hofmarschallamt oder Zivilkabinett durchlaufen zu müssen. Dieses Privileg gewährte nicht nur die mitunter nötige Zügigkeit in der Erledigung der vorgestellten Probleme oder der Erfüllung von Wünschen (häufig durch den König selbst), sondern gestattete Humboldt wohl auch den mitunter durchaus nonchalanten, manchmal ironischen Ton oder auch die launig-anspielungsreich verschlüsselte Textform. Gerade letzteres findet man vielfach in Briefen Friedrich Wilhelms an vertraute Familienmitglieder, er hatte ein Faible dafür und Humboldt, so darf man annehmen, bediente mit Humor und Talent diese Vorliebe und dürfte den Grad der Vertrautheit zwischen beiden befördert haben. Kurzum, dieser Briefwechsel stellt nicht allein ein wichtiges Reservoir zur genaueren Kenntnis der Wissenschafts- und Kulturpolitik des Königreichs Preußen im 19. Jahrhundert dar, sondern die Briefe sind vielfach auch ein neugierig machendes, mitunter verrätseltes und anregendes Lesevergnügen jenseits des fachwissenschaftlichen Interesses, das man dem Inhalt dieser Schreiben entgegenbringt.

Gleichwohl muss konstatiert werden, dass die Edition zu 88 Prozent eine Sammlung von Briefen Humboldts ist – die Antworten des Königs sind naturgemäß selten, dann aber meist in Abschriften oder Konzepten in der Personalrepositur erhalten; einige wenige Originale (die meisten der an ihn gerichteten Briefe vernichtete Humboldt postwendend) haben über andere Überlieferungsstränge ihren Weg in die Gegenwart gefunden. Dieses Ungleichgewicht ist umso bedauerlicher, da die wenigen der erhaltenen Antworten des Königs – sofern sie nicht offizielle Schreiben sind – Witz und Temperament, warme Anteilnahme und auch ehrliches Bemühen gegenüber den Wünschen Humboldts verraten. Oszillierend zwischen Statuszwang und privater Zuneigung können die Briefe und Mitteilungen Friedrich Wilhelms IV. mitunter gar die Bildhaftigkeit der Sprache mit tatsächlichen Bildern würzen, sind doch einige der Briefe mit Zeichnungen des Königs versehen (S. 432, 492), die ironisch den Text flankieren.

Die Spannbreite der Themen, die der geschickte Diplomat und Taktierer Humboldt in seinen Briefen an Friedrich Wilhelm vorlegt, ist immens und zeugt von einer arbeitsintensiven Rastlosigkeit. Sie spiegeln wesentliche Momente der preußischen Kulturgeschichte von etwa 1830 an bis in die späten 1850er-Jahre, insbesondere deren personalpolitische Seite. Humboldt lässt in seinen Schreiben kaum etwas aus, was ihm wichtig erscheint. Er reagiert nicht allein auf Wünsche und Fragen des Kronprinzen und Königs mit enzyklopädischer Ausführlichkeit und Sorgfalt, sondern macht Vorschläge, regt an, verwendet sich für Wissenschaftler und Künstler, verfolgt Projekte. So nutzt er etwa den Thronwechsel im Juni 1840, um sich kurz darauf mit Vorschlägen für Neuberufungen an die Berliner Universität als Berater in Erinnerung zu bringen. Er setzt sich für Wilhelm Eduard Albrecht, Friedrich Christoph Dahlmann und die Gebrüder Grimm ein, die als Mitglieder der „Göttinger Sieben“ 1837 von der Universität relegiert wurden, weil sich sie sich gegen die Abschaffung der Verfassung aussprachen und wegen ihrer demokratischen Grundhaltung dem preußischen König suspekt gewesen sein müssen. Drei Jahre später bagatellisiert Humboldt gegenüber seinem Dienstherrn – im Dienst der Berliner Wissenschaftsqualität – den seinerzeitigen Entlassungsgrund: er läge „schon fern und gehört der Geschichte an“ (S. 172f.). Humboldt ist sich sicher, dass die Professoren „unter dem wohlthätigen Scepter Ew. Majestät, den Frieden der Monarchie nicht gefährden.“ Die Sentenz klingt fast ein wenig anmaßend, was wohl auch dem politisch liberal denkenden Humboldt bewusst war, lässt er doch den Brief geschickt enden, indem er sich selbst als den „Waldmenschen des Orinoco“ bezeichnet und ironisch die traditionell den „Wilden“ nachgesagte Unverdorbenheit nutzt, um vor dem Monarchen offene Worte zu finden: „Ein hochherziger, geistreicher Fürst erschrikt vor keiner Verschiedenheit der Weltsicht, wenn ein ganzes vielbewegtes Leben die Reinheit der Gesinnungen verbürgt“ (S. 172f.). Dieser offene Ton prägt immer wieder die Briefe Humboldts bis zum Ende der Regierung Friedrich Wilhelms IV., bis in kleinste Details hinein kümmert er sich um die Belange von Wissenschaftlern wie Olfers, Lepsius, von Künstlern vom Schlage Rückerts, Mendelssohns, Cornelius’ oder Bettina von Arnims und wirft sich auch für Verurteilte in die Bresche, um beim König mildere Voten oder gar Begnadigungen herbeizuführen.

Das vorletzte der erhaltenen Schreiben des Königs im Zusammenhang mit einer Bitte Humboldts, der König möge ihn nach seinem Tode von den letzten seiner im Dienst für die Wissenschaft angehäuften Schulden befreien, wirkt wie der Schlusssatz einer Symphonie, die den großen Geist und Intellektuellen Humboldt mit der sensitiv veranlagten und – zumindest im Falle Humboldts auch toleranten – Königsmacht zusammenbrachte. Friedrich Wilhelm IV. reagierte am 22. März 1857 auf Humboldts Dank, dass der König seiner Bitte entsprochen habe und schreibt dem „verehrteste[n] Freund“ sichtlich bewegt: „Ich bin ein schwacher Sterblicher wie andre. Das will sagen: ich bin der Knecht der Bewunderung, der Liebe, der Anhänglichkeit gegen Männer, die wie Saul der Sohn Kis’, einen Kopf höher denn Alles Volk sind. Werden nun die KopfLängen mehr, um Eins, um Zwey, um 10, um 100, so muss ich mein ganzen Christenthum in’s Feld rufen, um nicht GötzenDiener zu werden“ (S. 519f.). Dass dies keine schmeichelnde Plattitüde war, lässt sich in der vorliegenden Sammlung an vielen Stellen mit Gewinn nachlesen.

Anmerkung:
1 Alexander von Humboldt und das Preußische Königshaus: Briefe aus den Jahren 1835–1857, hrsg. v. Conrad Müller, Leipzig 1928.

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