Cover
Titel
Avant-Garde to New Wave. Czechoslovak Cinema, Surrealism and the Sixties


Autor(en)
Owen, Jonathan L.
Erschienen
Oxford 2013: Berghahn Books
Anzahl Seiten
256 S.
Preis
£18.50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Volker Petzold, Berlin

Das Phänomen der sogenannten „Neuen Welle“ der tschechoslowakischen Kinematografie der 1960er-Jahre – begrifflich in Anlehnung an die französische „Nouvelle Vague“ – ist im Wesentlichen auf die Jahre 1963 bis 1969 anzusetzen. Die Rezeption der Werke dieses wichtigen Kapitels der internationalen Filmgeschichte, das sowohl in außerordentliche politische und kulturelle Veränderungen in unserem Nachbarland, aber auch in markante Trends des europäischen Kinos eingebettet war, hält bis heute an. Zahlreiche Retrospektiven und Filmschauen auf diversen Festivals und Events weltweit sowie DVD-Editionen – auch in Deutschland – zeugen von der ungebrochenen Bedeutsamkeit dieses Film-Segments. Etwas anders sieht es allerdings in der theoretischen Reflexion aus: Während die Vielzahl der Veröffentlichungen und Meinungsäußerungen zum Thema im tschechischen „Mutterland“ nur zu erahnen ist, hält sich die Publikationsfreude im deutschen und englischen Sprachraum namentlich in jüngerer Zeit in Grenzen. In Deutschland war es vor allem Lutz Haucke, der im letzten Dezennium mit Betrachtungen über die osteuropäischen „Wellen" hervortrat. 1 Im Englischen legte bereits vor fast 30 Jahren Peter Hames sein inzwischen aktualisiertes Kompendium „The Czechoslovak New Wave“ 2 sowie weitere „Randveröffentlichungen“ vor. Dem schloss sich nun Jonathan L. Owen mit seiner „Tiefenprüfung” des Kinos des Nachbarlandes der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts an – eine faszinierende und gewagte Analyse zugleich.

Owens Grundthese, die er gleich zu Beginn seiner umfänglichen Einleitung aufstellt, ist die Behauptung, dass das „tschechische Filmwunder“ nicht nur in die Avantgarde-Kunst des Landes eingebunden war bzw. von ihr beeinflusst wurde, sondern dass der Surrealismus zwar nicht den einzigen, aber den am meisten durchdringenden Einfluss ausgeübt habe (S. 2). Dies wurde in dieser Konsequenz und Stringenz so – nach Kenntnis des Rezensenten – noch nie behauptet. Zwar waren bei einigen wichtigen Filmen surreale Merkmale immer schon unverkennbar bzw. wurden mit sich annähernden Begriffen umschrieben – wie bereits sehr früh von Enno Patalas, der die von den Filmmachern gewählten Thematiken als „fernab der Wirklichkeit“ oder als sich dieser mit „erklärt illusionistischen Mitteln“ nähernd charakterisierte.3 Aber selbst Hames kann sich lediglich bei einigen Filmen zu dem Urteil einer „starken Kafkaesken Atmosphäre“ 4 oder „one or two Surrealist touches“ 5 durchringen – ausgenommen natürlich Titel, welche erklärtermaßen dem „tschechischen Poetismus“ bzw. der surrealistischen Tradition entstammten wie „Valerie – Eine Woche voller Wunder“ (OT: „Valerie a týden divů“, 1970) von Jaromil Jireš von 1970. Sogar bei Haucke, der in seinen Untersuchungen immer wieder auf die Bedeutung der tschechoslowakischen Neuen Welle als „Intellektuellenkultur“ hinweist, die sich vor allem aus der Literatur und dem Theater speiste und mit den Mitteln der Metapher, des Grotesken und des Absurden arbeitete, fällt kaum der Begriff des „Surrealismus“. Andererseits wurde das tschechoslowakische neue Kino stets auch als ein politisches wahrgenommen, das als eine Art Seismograf der gesellschaftlichen Veränderungen fungierte und in vielen Filmen einen starken Realitätsbezug aufwies – Verwandtschaften mit dem französischen cinéma vérité wurden immer wieder diagnostiziert. So schreibt Haucke denn auch: „Insbesondere den Jüngeren ging es […] auch nicht um eine neue Avantgardekunst. Sie verfolgten eine Utopie von der demokratisierenden und humanisierenden Funktion der Filmkunst.“ 6

Owen weiß um diesen Sachverhalt. Auf drei Seiten (S. 7–9) reflektiert er solche Positionen in der vor allem englischsprachigen Literatur über osteuropäische Kinematografien und polemisiert gegen eine „übertriebene Tendenz der Behandlung von Filmen als Anhängsel der Politik“, wo Film „entweder als Verlängerungskabel für offizielle Diskurse oder als ein Forum für Kritik und Widerspruch“ betrachtet würden. Dies, so Owen, sei völlig unzutreffend für die tschechische Kultur der Sechziger, die sich im beträchtlichen Umfang von Politik im engsten Sinne durch die Gewichtung anderer Aspekte der Existenz freigemacht hätte. Es käme vielmehr in Untersuchungen darauf an, einen Blick „jenseits des den Filmen innewohnenden sozio-politischen Kontextes“ zu werfen (S. 7). Weiter gestattet er sich den herausfordernden Hinweis, dass eine Überbewertung der Politik im Falle der „Neuen Welle“ verkennen würde, dass diese häufig „oppositionell und subversiv“ gerade durch das Aufgreifen solcher Themen und Ideen gewesen sei, die im vorangegangenen Jahrzehnt verschwiegen und tabuisiert worden seien. Die Reduktion dieser Filme auf ‚Äsopsche Fabeln‘, als Erklärungsmuster der unmittelbaren politischen Situation, spiele implizit die Bedeutung von Politik zu Missgeschicken totalitärer Bürokratien herunter (S. 9).
Die im Folgenden angebotenen Deutungen und Erklärungen des Autors, dies sei hier kritisch vermerkt, fallen allerdings selbst immer wieder auf diese Stufe zurück.

In der Einleitung sowie in einem speziellen Kapitel leistet Owen sich profund und aus einem üppigen Quellenfundus zehrend eine ausführliche Darstellung der tschechoslowakischen Avantgarde und der dortigen surrealistischen Strömungen vor und nach dem Zweiten Weltkrieg, um die „verschiedenen und manchmal widersprüchlichen Wege zu beleuchten, auf denen der Surrealismus auf diese Filme gewirkt hat“ (S. 3). Ausgehend von André Bretons berühmten Manifest (Surrealismus – reiner, psychischer Automatismus, durch welchen man mündlich oder schriftlich den wirklichen Ablauf des Denkens auszudrücken sucht7), versucht der Autor mit der definitorischen Einlassung „eine sich mit Träumen und anderen Produkten der Fantasie beschäftigende Bewegung“, die unterschiedlichen Meinungen über den Surrealismus auf einen kleinsten, gemeinsamen Nenner zu bringen (S. 3). Mit der Würdigung des frühen tschechischen „Poetismus’“ und der Gruppe „Devětsil“ (Doppelbedeutung – wörtlich „neun Kräfte“ sowie Bezeichnung der Pflanze Huflattich, welcher heilende Wirkungen zugeschrieben wurden) um Karel Teige in den 1920ern sowie der wenig später erfolgten Neurorientierung der tschechischen Surrealisten um vor allem Vítĕzslav Nezval wird die Nähe zu linken, marxistischen Anschauungen vermerkt, während im Nachkriegssurrealismus insbesondere um Vratislav Effenberger eine „unmissverständliche Feindschaft“ zum Kommunismus zu verzeichnen wäre und mit „Träumen und Fantasien“ eine „konkrete Irrationalität“ im Vordergrund stände (S. 32f.). Owen sieht in diesen Richtungen verschiedene und wesentliche Einflussstränge auf das Schaffen der Filmemacher-Generation der 1960er-Jahre und richtet seine Filmanalysen anschaulich auf diese Strömungen aus, wiewohl er insbesondere die wachsende Bedeutung der avantgardistischen und surrealistischen Bewegungen in der Liberalisierungsperiode der Mittsechziger belegt. Zudem bemüht er in seinen Deutungen auch immer wieder das Kafka’sche Werk oder theoretische Aspekte sowie Details der Psychoanalyse Sigmund Freuds und dessen Interpreten Jacques Lacan oder Julia Kristeva.

Den Kern des Buches bilden sechs Kapitel mit ausführlichen analytischen Betrachtungen zu ausgewählten Filmen bzw. Filmemachern. Neben dem bereits genannten Jireš-Titel sind dies kürzere Animationsfilme des wohl „handgreiflichsten“ Surrealisten unter den tschechischen Filmemachern, Jan Švankmajer, von 1960 bis 1970 sowie unter anderen berühmte Streifen wie Pavel Juráčeks „Josef Kilian“ (eigentlich: „Eine Figur, der geholfen werden muss“, OT: „Postava k podpírání“, 1963 gemeinsam mit Jan Schmidt), „Tausendschönchen“ (OT: „Sedmíkrásky“, 1966) von Vĕra Chytilová oder auch Titel, denen man den Surrealismus weniger angesehen hätte wie Jiří Menzels „Scharf beobachtete Züge“ (in Deutschland auch bekannt unter dem unsäglichen Verleihtitel „Liebe nach Fahrplan“, OT: „Ostře sledované vlaky“, 1966). Oder aber auch zwei Filme des Slowaken Juraj Jakubisko von 1968 und 1969. Owen ist sich der Begrenztheit seiner Auswahl wohl bewusst und nennt weitere Titel, die ein Aufgreifen verdient hätten (so Jan Nĕmec’ „Diamanten der Nacht“ / OT: „Démanty noci“, 1964; Juraj Herz’ „Der Leichenverbrenner“ / OT: „Spalovač mrtvol, 1968 oder Filme weiterer wichtiger Slowaken wie Štefan Uher und Dušan Hanák). Leider aber „vergisst“ er andere bedeutsame Werke jener Zeit trotz deren unverkennbarer surrealistischer Merkmale wie Zbyněk Brynychs „...und der fünfte Reiter ist die Angst“ („...a pátý jezdec je Strach“, 1965), „Der Laden auf dem Korso“ (OT: „Obchod na korze“, 1965) von Ján Kadár und Elmar Klos oder auch Karel Kachyňas „Der Wagen nach Wien“ (OT: „Kočár do Vídnĕ“, 1966).

Unmittelbar nach seiner ersten Analyse zu dem genannten (und einem weiteren) Film Juráčeks bemerkt Owen resümierend, dass der Regisseur seinerzeit nicht nur eine neue politische Freimütigkeit an den Tag gelegt, sondern zugleich neue ästhetische und philosophische Problemstellungen gesetzt hätte. Wie bei anderen Filmemachern auch sei eine nachhaltige Beschäftigung mit Fantasie, Sexualität und der Psyche zu beobachten, und diese Themen würden in einer komplexen sowie mehrdeutigen ästhetischen Sprache präsentiert werden (S. 70). Der eingehenden Untersuchung dieser Komplexität und Vieldeutigkeit fühlt sich der Autor auf allen Seiten des Buches verpflichtet. Mit Beharrlichkeit legt er bei jedem Film Schicht um Schicht von Symbolik und Bedeutung frei, springt in seiner Interpretation quasi von Stein zu Stein, um auch die dunkelsten Winkel des Werks auszuleuchten. Manche seiner subtilen Auslegungen sind augenscheinlich, manche verblüffen, bei einigen muss man den Kopf schütteln. Immer aber werden sie kenntnisreich belegt und facettenreich erläutert.

Anmerkungen:
1 Lutz Haucke, Nouvelle Vague in Osteuropa? Zur ostmittel- und südosteuropäischen Filmgeschichte 1960–1970, 2. überarb. Aufl., Berlin 2010 (1. Aufl. 2009); Ders., Die Tschechische Neue Welle (1963–1969) und die Konstituierung einer neuen Intellektuellenkultur in den 60er-Jahren in der CSSR <http://www.kulturation.de/ki_1_report.php?id=41> (17.10.2014)
2 Peter Hames, The Czechoslovak New Wave, Second edition, London 2005 (First edition Berkeley / Los Angeles / London 1985).
3 Enno Patalas, Prager Filmfrühling – Im tschechischen Film kommt eine neue Generation zum Zuge, in: Die Zeit, Nr. 49 (4.12.1964), S. 16.
4 Hames, Czechoslovak New Wave, S. 140.
5 Hames, Czechoslovak New Wave, S. 153.
6 Lutz Haucke, Nouvelle Vague in Osteuropa, S. 142.
7 André Breton, Manifestoes of Surrealism, tranlated by Richard Seaver and Helen R. Lane, Ann Arbor 1969, S. 255.

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