P.A. Meyer: Die jüdische Gemeinde von Metz

Cover
Titel
Die jüdische Gemeinde von Metz im 18. Jahrhundert. Geschichte und Demographie


Autor(en)
Meyer, Pierre-André
Erschienen
Trier 2012: Kliomedia
Anzahl Seiten
500 S.
Preis
€ 42,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Annekathrin Helbig, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

1993 erschien La communauté juive de Metz au XVIIIe siècle: histoire et démographie von Pierre-André Meyer. Der Band ist lange vergriffen. Seit 2012 liegt er in deutscher Übersetzung vor und kann jetzt auch von der deutschen Forschung besser zur Kenntnis genommen werden.

Ausgangspunkt der Untersuchung von Meyer bildet die von christlichen Zeitgenossen geäußerte Unterstellung eines enormen Bevölkerungswachstums der jüdischen Bevölkerung in Metz im 17. und 18. Jahrhundert. Dafür machten Christen, wie Abbé Grégoire, religiöse, rituelle und ökonomische Faktoren, wie zum Beispiel das frühe Heiratsalter (S. 12ff.) und eine geringere Sterblichkeit der Jüdinnen und Juden (S. 16), sowie besondere jüdische Lebens- und Verhaltensweisen (S. 17), verantwortlich. Dieses vermeintlich starke Wachstum der jüdischen Bevölkerung, das zugleich als christlich antijüdisches Stereotyp bewertet werden muss, nimmt Meyer zum Ausgangspunkt, das demographische Verhalten der jüdischen Gemeinde von Metz zu analysieren.

Die Untersuchung gliedert sich in zwei Hauptteile. Der erste befasst sich mit der Geschichte und Entwicklung der jüdischen Gemeinde von Metz. Neben Entstehung und Wachstum werden u.a. die rechtlichen Rahmenbedingungen sowie die Organisation und Verwaltung der Gemeinde näher betrachtet. Nicht zuletzt wendet der Verfasser seine Aufmerksamkeit den christlich-jüdischen Beziehungen und der Wirtschaftstätigkeit der jüdischen Bevölkerung zu. Zu diesem ersten Teil ist zu bemerken, dass mit ihm eine bis heute nicht erfolgte umfassende und kontextualisierte Darstellung der Entstehung und Entwicklung der jüdischen Gemeinde von Metz vorliegt. Die Rekonstruktion der Rahmenbedingungen geschieht vornehmlich auf der Basis von Forschungsliteratur. Für die Ausführungen zum jüdischen Ghetto und dessen Bevölkerung hingegen wird vielfach auf archivalisches Quellenmaterial zurückgegriffen.

Der zweite Teil ist als eigentlicher Schwerpunkt der Arbeit anzusehen. Hier wendet sich Meyer der demographischen Untersuchung der Metzer Judenschaft zu. Die einführend vorgestellten Quellenbestände innerjüdischer Überlieferung, wie Verzeichnisse von Beschneidungen (Mohelbücher), Eheabredungen und Heiratsverträge (Tenaïm und Ketubot), Gedenk- und Memorbücher sowie Grabinschriften, spielen für den Kern der Untersuchung jedoch kaum eine Rolle. Deren eigentliche Quellenbasis bilden Familienbögen, zusammengestellt auf der Grundlage von „Tauf-, Trau- und Sterberegister[n], die die jüdische Gemeinde von Metz auf Anordnung der französischen Behörden von 1717 bis 1792 führte“ (S. 183. In diesen verpflichtend angelegten Zivilstandsregistern sollten Geburten (nicht Taufen), Eheschließungen und Sterbefälle registriert werden. Auf der Grundlage dieser Zivilstandsregister hat Meyer schließlich Heiratsverhalten, Fruchtbarkeit und Sterblichkeit der Metzer Jüdinnen und Juden ausgewertet. Diese Analyse wird durch eine Erörterung der Ein- bzw. Auswanderung in die jüdische Gemeinde von Metz ergänzt.

Durch seine Untersuchungen zur Wanderungsbewegung kann Meyer zeigen, dass die jüdische Gemeinde von Metz viel stärker von Abwanderung betroffen war, als sie von Zuwanderung profitieren konnte. Die Emigration muss sogar als „Hauptursache für das Schrumpfen und schließlich das Ende des demographischen Wachstums der jüdischen Gemeinde von Metz in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts“ (S. 288f.) angesehen werden. Bezüglich des Heiratsverhaltens werden die Herkunftsorte der Ehepartner, das Heiratsalter, familiäre und soziale Endogamie und schließlich die Wiederverheiratungen erörtert. Im Wesentlichen kann festgehalten werden, dass nur vier Prozent der untersuchten Ehen von Metzer Jüdinnen und Juden innerhalb naher Verwandtschaftsgrade geschlossen wurden und dies wiederum vor allem ein Phänomen bei reichen Familien war (S. 314). Zugleich kann Meyer zeigen, dass Heiraten innerhalb des gleichen oder ähnlichen sozialen und wirtschaftlichen Milieus bevorzugt wurden. Das Eheschließungsverhalten unterschied sich kaum von dem der christlichen Nachbarn (S. 363). Markante Differenzen, wie etwa ein früheres Heiratsalter jüdischer Frauen, waren durch religiöse Normen bedingt. Das Heiratsalter jüdischer Männer hingegen folgte ökonomischen Bedingungen und Notwendigkeiten (S. 364). Heiraten in jungem Alter wurden nur innerhalb einer kleinen und wohlhabenden jüdischen Schicht praktiziert und können nicht ohne weiteres auf die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung übertragen werden. In Hinsicht auf die eheliche Fruchtbarkeit kann Meyer schließlich ganz mit der These von der „erstaunlichen Vermehrung“ der jüdischen Bevölkerung aufräumen, da die von ihm ermittelte Fruchtbarkeitsrate der jüdischen Frauen keinen Hinweis auf ein außergewöhnliches Bevölkerungswachstum gibt. Vielmehr konnte er eine geringere Fruchtbarkeit als bei der christlichen Bevölkerung Lothringens feststellen, bei der sich die jüdischen Familien in Metz „Praktiken bewusster Geburtenbegrenzung“ bedient hätten (S. 409). Die Arbeit endet mit einem Anhang, in welchem sich unter anderem ein Orts- und Personenregister findet. Überdies sind die Hauptresultate der demographischen Analyse auf einer Seite zusammengefasst.

Kritisch bleibt anzumerken, dass Meyer stellenweise Aussagen aus Quellen übernimmt, ohne sie zu hinterfragen. Um beispielsweise den Umstand zu verdeutlichen, dass Metzer Juden mit „Waren aller Art“ handelten, bezieht sich Meyer auf die Tagebucheintragungen eines Benediktiners. Im Rahmen der Vertreibung der Jesuiten (1762) hatte dieser bei einer Versteigerung geklagt, dass „sich nur Juden ein[fänden], die Chorröcke, Messgewänder und anderes mitnehmen“ (S. 169). Ein Jude habe sich aus dem ersteigerten Mantel einen „weiten Mantel“ angefertigt, mit dem er später seine Waren zum Verkauf angeboten haben soll (S. 169). Die Aussagen des Jesuiten sind jedoch vor allem ein Exempel frühneuzeitlicher judenfeindlicher Stereotype wie des Wuchers und der Neigung zur Bereicherung auf Kosten der Christenheit, die hier obendrein durch christliche sakrale Gegenstände befriedigt wurde. Teilweise sind Meyers Schlussfolgerungen problematisch, mindestens jedoch kritisch zu hinterfragen. Zum Beispiel seine Feststellung, dass die aufgrund ökonomischer Faktoren zur Ehelosigkeit gezwungenen (ärmeren) jüdischen Männer häufig außereheliche Kontakte zu jüdischen Dienstmägden und jüdischen Mädchen ländlicher Gemeinden aufgebaut hätten, da auf dem Land „der soziale und moralische Rahmen weniger rigoros“ gewesen sei (S. 365). Der Befund eines abgeschirmten Lebens und einer Separation der Metzer Gemeinde von der christlichen Welt (S. 126) ist, nach dem Stand der heutigen Forschung, die das Miteinander von Christen und Juden betont, fraglich. Dabei zeigt Meyer selbst Beispiele auf, die sein Urteil relativieren müssten: zum Beispiel die Feststellung über die Aneignung zeitgenössischer Mode durch Metzer Jüdinnen und Juden (S. 131).

Bei der Gesamtbewertung des vorliegenden Buches ist zu berücksichtigen, dass es sich um die Übersetzung einer 20 Jahre zurückliegenden Publikation handelt, wobei inhaltlich keine Überarbeitungen vorgenommen wurden. Bei einigen Fußnoten der Übersetzung wurde aktuelle Forschungsliteratur ergänzt, dies erfolgte aber nicht durchgängig. Etwa 130 nach 1993 publizierte Titel wurden nachträglich in das Literaturverzeichnis aufgenommen. Auffällig ist, dass sich diese Literaturangaben fast ausnahmslos auf französischsprachige Publikationen beschränken.

Trotz der punktuellen Kritik stehen bei einer Gesamtbetrachtung der Arbeit eindeutig die positiven Aspekte im Vordergrund: Die Darstellungen sensibilisieren im Hinblick auf die diversen sozialen, ökonomischen und rechtlichen Bedingungen jüdischen Gemeinde- und Familienlebens in der Frühen Neuzeit. In diesem Sinn ist die Untersuchung von Meyer auch als Ausgangspunkt und Anregung für weitere Forschungen zu verstehen.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension