Titel
Der Eiserne Vorhang. Die Unterdrückung Osteuropas 1944-1956


Autor(en)
Applebaum, Anne
Erschienen
München 2013: Siedler Verlag
Anzahl Seiten
636 S.
Preis
€ 29,99
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Werner Bührer, Fachgebiet Politikwissenschaft, Technische Universität München

Nach der mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneten Geschichte des „Gulag“ widmet sich die Historikerin und Journalistin Anne Applebaum erneut einem wichtigen Aspekt des Stalinismus – der radikalen Umwälzung einer ganzen Region nach dem Vorbild der Sowjetunion. Der Fokus liegt allerdings eindeutig auf Ungarn, Polen und der SBZ/DDR, weil diese drei Länder „so unterschiedlich“ gewesen seien (S. 24). Bei ihrer Darstellung der Entstehung und Stabilisierung des „Ostblocks“ greift Applebaum auf das Totalitarismus-Konzept zurück, das „reif für eine Renaissance“ sei. Mit den Kritikern dieses Konzepts hält sie sich nicht lange auf, deutet sie doch das sowjetische Vorgehen in Osteuropa als erfolgreichen Export der im eigenen Land bereits perfektionierten „Methoden und Techniken totalitärer Kontrolle“ (S. 15): Aufbau einer Geheimpolizei, Kontrolle des Radios, ethnische Säuberungen und Unterdrückung zivilgesellschaftlicher Organisationen und Praktiken. Dass Kommunisten an ihre eigene Lehre glaubten, ist für sie nur schwer zu verstehen – als Motive für den Beitritt zur Partei nennt sie deshalb hauptsächlich „Verzweiflung, Desorientierung, Pragmatismus, Zynismus oder Ideologie“ (S. 22). Die Rollen sind also klar verteilt: die Argumente sogenannter revisionistischer Autoren wie William Appleman Williams oder Wilfried – nicht Winfried! – Loth, die der westlichen Politik eine Mitverantwortung für die rabiate Sowjetisierungspolitik zuschreiben, wischt Applebaum kurzerhand beiseite. Ihr Anliegen ist zu verstehen, „wie gewöhnliche Menschen mit den neuen Regimen zu leben lernten“ und „wie sie bereitwillig oder widerwillig kollaborierten“ – kurz: „wie der echte Totalitarismus funktionierte“ und „das Leben von Millionen Europäern im 20. Jahrhundert prägte“ (S. 27).

Um dieses Vorhaben zu realisieren, hat sie nicht nur in zahlreichen einschlägigen Archiven in Deutschland, Polen und Ungarn, in Großbritannien, Russland und den USA geforscht, sondern auch neunzig Zeitzeugen interviewt, um deren „Darstellung der Ereignisse und Gefühle jener Zeit in ihren eigenen Worten zu hören“ (S. 26). Dies verdient schon deshalb großes Lob, weil die Zeit für solche Interviews schwindet – aber auch, weil dadurch die Perspektive „von oben“ durch jene „von unten“ ergänzt wird. Dieser Ansatz zeichnete auch schon Applebaums Werk über den „Gulag“ aus und scheint geradezu ein Markenzeichen ihres wissenschaftlichen Arbeitens zu sein. Zweifellos gewinnt die Darstellung dadurch an Farbigkeit und Authentizität. Neue Erkenntnisse oder ein besseres Verständnis der Ereignisse vermitteln diese Zeitzeugenberichte indes kaum; auch vermisst man eine Bemerkung zur Auswahl oder zur Repräsentativität der Zeitzeugen.

Die Autorin gliedert ihre Darstellung in zwei Teile. Der erste, „falsche Morgenröte“ überschrieben, umfasst die Jahre 1944 bis 1948 und damit den Zeitraum, in dem die Verhältnisse hinter dem „eisernen Vorhang“ völlig umgekrempelt wurden. Ihrem totalitarismustheoretischen Ansatz folgend untersucht Applebaum, wie die sowjetische Führung im Verbund mit der Roten Armee und einheimischen kommunistischen Kadern in verschiedenen Bereichen bzw. mit verschiedenen Instrumenten die für erforderlich gehaltenen wirtschaftlichen, politischen, gesellschaftlichen und psychologischen Veränderungen durchsetzte. Bis Ende 1948 hatten die kommunistischen Parteien Osteuropas unter sowjetischer Führung die „fähigsten […] potenziellen Gegner eliminiert“ und „die Kontrolle über jene Institutionen übernommen, die ihnen am wichtigsten erschienen“ (S. 297). Anschaulich beschreibt Applebaum in den Kapiteln „Kommunisten“, „Polizisten“, „Gewalt“, „ethnische Säuberung“, „Jugend“, „Radio“, „Politik“ und „Wirtschaft“, wie dieser Prozess ablief. Große Beachtung schenkt sie der Unterdrückung zivilgesellschaftlicher Organisationen und Verhaltensweisen; darin sieht sie zu Recht eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Errichtung eines totalitären Regimes. Erwähnt zu werden verdient auch, dass sie aufgrund ihres multiperspektivischen Zugriffs im Kapitel über die ethnischen Säuberungen eine Beschränkung auf den „meistdiskutierten“ deutschen Fall vermeidet und beispielsweise auch den „Bevölkerungstransfer an der polnisch-ukrainischen Grenze“ (S. 165) behandelt, der nicht weniger brutal vonstatten ging.

Im zweiten Teil analysiert sie die Phase des „Hochstalinismus“, indem sie sich genauer mit „reaktionären“ und „inneren Feinden“, der – misslungenen – Erziehung zum „Homo Sovjeticus“, dem „Sozialistischen Realismus“ und der Begeisterung für „Idealstädte“, „widerwilligen Kollaborateuren“, „passiven Gegnern“ und schließlich den „Revolutionen“ der Jahre 1953 und 1956 beschäftigt. Schon diese Übersicht zeigt, dass sich die Autorin keineswegs nur auf ausgetretenen Pfaden bewegt. Zu den interessantesten Kapiteln zählt das über die „widerwilligen Kollaborateure“, kommt hier ihr zentrales Anliegen – zu erklären, „warum es so wenig offene Opposition gegen die Rechthaberpartei (ein schöner Begriff, der auf das bekannte „Lied der Partei“ von Louis Fürnberg anspielt) gab“ und wie es gelang, „so viele unpolitische Menschen […] ohne großen Protest zum Mitmachen zu bewegen“ (S. 444). In diesem Kapitel lässt Applebaum sogar einen Anflug von Verständnis für die Hinwendung zum Kommunismus erkennen – „immerhin wandte sich ein großer Teil Westeuropas nach links, warum sollte Osteuropa also nicht dasselbe tun?“ (S. 445). Auch wenn es ihrer Ansicht nach „keine schlagende Erklärung“ für das Phänomen der widerwilligen Kollaboration gibt – das Kapitel liefert durchaus einige Ansätze. Ob allerdings der Begriff „Kollaborateur“ wirklich angemessen ist, darüber lässt sich streiten. Im deutschen Sprachgebrauch impliziert er nämlich eine aktivere Rolle als jenes Bemühen um „Abstand von der Staatssicherheit, von den Mächtigen und von Kontroversen“ (S. 469), das Applebaum vor allem im Blick hat.

Die Autorin hat ein interessantes, mit gutem Gespür für prägnante Details verfasstes Buch vorgelegt, dessen Stärke in der Suche nach einer mehrdimensionalen Erklärung für die in rasantem Tempo vollzogene Etablierung kommunistischer Regime in Osteuropa zu sehen ist. Seine Schwäche besteht darin, dass die „westliche Seite“ zur Erklärung dieses Prozesses nahezu vollständig ausgeblendet wird.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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