F. Kolbinger: Bonaventura über Zeit und Ewigkeit

Cover
Titel
Zeit und Ewigkeit. Philosophisch-theologische Beiträge Bonaventuras zum Diskurs des 13. Jahrhunderts um tempus und aevum


Autor(en)
Kolbinger, Florian
Reihe
Veröffentlichungen des Grabmann-Institutes zur Erforschung der mittelalterlichen Theologie und Philosophie 55
Erschienen
Berlin 2014: Akademie Verlag
Anzahl Seiten
488 S.
Preis
€ 99,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan-Hendryk de Boer, Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, Georg-August-Universität Göttingen

In seiner lesenswerten Münchener Dissertation hat sich Florian Kolbinger vorgenommen, „eine einigermaßen systematische Darstellung der Gedanken Bonaventuras zu den Themen Zeit und Ewigkeit zu geben“ (S. 13). Im Zentrum steht dabei eine sorgfältige und textnahe Untersuchung der relevanten Fragen des 1250 bis 1520 entstandenen Sentenzenkommentars, ergänzt um zahlreiche Schriften aus Bonaventuras Jahren als Magister in Paris und als Ordensgeneral. Gut erschließbar wird die Studie auch für den eiligen Leser durch ein exzellentes Personen- und Sachregister; unglücklich ist hingegen die Entscheidung, auf ein resümierendes Schlusskapitel zu verzichten. Den ersten Teil der Arbeit füllen neben einer Vorstellung der herangezogenen Texte mitunter recht schematisch und sich nicht durchweg auf der Höhe der aktuellen Forschung bewegende Ausführungen zum ideengeschichtlichen Hintergrund, namentlich zur Kosmologie, zur Aristotelesrezeption des 13. Jahrhunderts, zum von Bonaventura entworfenen Verhältnis von Theologie und Philosophie sowie zu den Vorstellungen von Zeit bei Aristoteles und Augustinus. Nach diesen fast 150 Seiten einnehmenden Vorüberlegungen beginnt Kolbinger ebenso genau wie ausführlich, die Begriffe ‚Zeit‘ und ‚Ewigkeit‘ bei Bonaventura vorzustellen und mit Inhalt zu füllen.

Während etwa Thomas von Aquin bemüht war, den aristotelischen Zeitbegriff für einen möglichst großen Gegenstandsbereich nutzbar zu machen, kreisten Bonaventuras Überlegungen Kolbinger zufolge um die unhintergehbare Vielgestaltigkeit des Zeitbegriffs, den er anhand der Relation zwischen Schöpfung und Geschöpf auffächerte. Basal ist die Unterscheidung zwischen göttlicher Ewigkeit und Zeit. Letztere ist in einem allgemeinsten Sinne das Maß der unendlichen Dauer innerhalb der Schöpfung (aevum), während Zeit im engeren Sinne kosmologisch dem Raum unter dem primum mobile, der ersten beweglichen Sphäre, angehört. Hier ist wiederum zwischen einem allgemeineren Sinn zu differenzieren, worunter Zeit auch die Veränderung von Nichtsein zum Sein und damit auch den Augenblick der Schöpfung umfasst, wohingegen Zeit im eigentlichen Sinne aristotelisch als Maß auf das von natürlichen Ursachen bewirkte Werden und Vergehen von Substanzen und damit auf physikalische Veränderung bezogen ist. Wie die meisten scholastischen Theologen des 13. Jahrhunderts schied Bonaventura auf diese Weise prinzipiell drei Zeitebenen: Die nur Gott zukommende aeternitas, die weder Anfang noch Ende kennt, das dem Geschaffenen eigene unaufhaltsam fließende tempus und eine mittlere Ebene des aevum, welche die stabile Dauer innerhalb der Schöpfung bezeichnete. So konnte anhand der Dauer die unterschiedliche Nähe des Geschaffenen zu Gott begrifflich fassbar gemacht werden. Anders als die göttliche Ewigkeit ist das aevum mit der Zeit geschaffen, von der es jedoch wesentlich verschieden ist. Das Sein der Zeit (tempus) beruht für den Theologen, der sich, wenn er wollte, souverän aristotelischer Konzepte und Denkweisen bedienen konnte, auf dem Streben der Materie nach Form. Dieses Streben erscheint ihm als elementare Stufe eines alles Geschaffene prägenden Hungers nach Gott. Materie kommt in besonderer Weise die allem Geschaffenen eigene Potentialität zu. Zeit ist das Maß des Seins, das im Unterschied zum ewigen Sein Gottes aufgrund seiner Potentialität beständiger Veränderung unterworfen ist.

Während einige Theologen Einfachheit und Unteilbarkeit des aevum betonten, war Bonaventura bestrebt, es prinzipiell von der nur Gott zukommenden absoluten Einfachheit zu trennen. Daher sprach er ihm kein tota simul, sondern die successio zu, so dass es im aevum anders als in der göttlichen Ewigkeit laut Bonaventura ein Vorher und Nachher gibt. Zeit und aevum waren für den Franziskaner Akzidentien. Einheit komme dem aevum daher nur im Sinne eines abstrakten Begriffs – vergleichbar Begriffen wie ‚Menschheit‘ – zu, nicht jedoch aus sich selbst heraus. Wiederum war Bonaventura bestrebt, Schöpfer und Schöpfung klar zu trennen. Ist die Zeit das Maß, in dem Irdisches gemessen wird, so ist das aevum Maß für die Seligen, die Engel und das Empyreum, die unbewegliche Sphäre des Kosmos, die alle Übrigen umfasst. Die verschiedenen Ebenen der Dauer sind also kosmologisch und theologisch fundiert. Auf den Menschen kann der Begriff aevum insofern angewendet werden, als er von ihm als Vollkommenem spricht, der zur Ruhe der Schau Gottes gelangt ist. Im irdischen Pilgerstand wird der Mensch hingegen nicht durch das aevum, sondern durch die Zeit (tempus) gemessen. Bonaventura macht auf diese Weise deutlich, dass die aristotelische Zeitvorstellung nicht hinreicht, um die von Gott geschaffene Ordnung auszumessen, sondern in ihrer Geltung an einen Bereich gebunden bleibt. Engel sowie Selige sind für sie nicht erfassbar.

Kolbinger zeigt überzeugend, dass sich Bonaventura weniger für die Frage ‚Was ist Zeit?‘ interessierte als vielmehr dafür, Zeit als aspektreichen Ausdruck der Beziehung zwischen Gott und Geschöpf zu deuten. Das Verhältnis von Geschöpf zu Schöpfer stellt sich für den Franziskanertheologen als dasjenige von Zeitlichem zu Ewigem dar. Zeitlichkeit gehört zur Verfasstheit alles Geschaffenen, der Mensch ist daher immer als in der Zeit zu denken. Dem ersten biblischen Schöpfungsbericht entnimmt Bonaventura eine doppelte Teleologie, wonach die Schöpfung auf den Menschen wie dieser auf zukünftiges Werden hin angelegt ist. Zielpunkt des letzteren wiederum ist Gott; das Geschöpf soll in der beseligenden Schau dereinst wieder zu seinem Schöpfer zurückkehren. Die Zeitlichkeit deckt den Raum zwischen diesen Polen, zwischen Schöpfung und Schau Gottes ab. Insofern ist die menschliche Zeitverhaftetheit nicht als Folge des Sündenfalls zu verstehen, sondern als Element der conditio humana. Wie Kolbinger zu Recht hervorhebt, besitzt die Zeitlichkeit des Menschen insofern eine doppelte heilsgeschichtliche Dimension, als sein Dasein Teil der universalen Heilsgeschichte ist und es selbst auf eine personale Heilsgeschichte hin disponiert ist – eine Disposition, die allerdings im jeweiligen Lebensvollzug allererst ausgefüllt werden muss. Dass Bonaventuras Nachdenken über die Zeit insofern immer vor dem Horizont der Heilsgeschichte erfolgt, lässt Kolbingers primär pragmatisch begründete Entscheidung, auf eine ausführliche Untersuchung der eschatologischen und heilsgeschichtlichen Aspekte in Bonaventuras Theologie der Zeit zu verzichten und diese lediglich im letzten Teil der Arbeit bezogen auf die vorherigen Ausführungen zu behandeln, als inhaltlich bedauerliche Verkürzung erscheinen. Denn dadurch werden konstitutive religiöse und theologische Dimensionen seines Denkens wissentlich ausgeblendet, so dass Kolbingers Bonaventura mitunter eine philosophische Schlagseite erhält, die den Franziskaner selbst wohl sehr befremdet hätte.

Dass Kolbinger sich entschlossen hat, den philosophischen und theologischen Dimensionen in Bonaventuras Ausführungen zu Zeit und Ewigkeit gesonderte Teile seines Buches zu widmen, trägt ebenso zu diesem philosophisch gefärbten Bild bei wie die Wahl von Aristoteles und Augustinus als Referenzautoren, deren Zeitlehren als besondere Bezugspunkte der Überlegungen des Franziskaners präsentiert werden. Kolbinger nimmt damit zwar einerseits Ansätze der neueren Forschung auf1, die Bonaventura vom zu einseitigen Bild des Philosophenfressers befreien, das etwa Joseph Ratzinger entworfen hat.2 Andererseits erwächst jedoch aus Anlage des Buches und dem weitgehenden
Ausklammern der Rolle von Eschatologie und Heilsgeschichte eine nicht vollständig aufgelöste Spannung zur grundsätzlichen Einsicht Kolbingers, wie sehr Theologumena Rahmen und Ausrichtung der Überlegungen des Franziskaners zu Zeit und Ewigkeit liefern. Dass ein weniger nach Systematisierung strebender Ansatz hier hätte Abhilfe schaffen können, zeigt sich im vierten Teil der Monographie, in dem (recht ausführlich) christologische und (eher knapp) eschatologische Aspekte von Bonaventuras Zeitdenken nachholend dargestellt werden. Indem Christus im Sentenzenkommentar des Franziskaners unter der doppelten Hinsicht des verbum increatum und des verbum incarnatum behandelt wird, finden sich in ihm die beiden Dimensionen von zeitlicher Dauer, Ewigkeit und Zeitlichkeit. Insofern zeigt sich Christus auch unter der Perspektive der Zeit als rückführendes metaphysisches Mittel – ein Gedanke, den Bonaventura in seinen späten Collationes in Hexaëmeron entwickelt. Die Inkarnation bezeichnet Bonaventura als Zeit der Fülle, in der die menschliche Natur erhöht und vervollkommnet wird. Geschichtstheologisch deutet Bonaventura im Sentenzenkommentar die Inkarnation vor allem in Bezug auf das Ende der Zeit, wohingegen im Breviloquium die Vorstellung hinzutritt, die Inkarnation bedeute als Fülle der Zeit, dass die Zeit nun ihre volle Wirksamkeit erreiche. Im Hexaëmeron schließlich wird Christus als Mitte der Zeit begriffen, die Geschichte um die Inkarnation herum mit den Figuren des Hervorgehens aus Gott und der Rückkehr zu Gott organisiert. Spannend wäre es gewesen zu fragen, inwiefern in diesen späteren Texten die an Aristoteles und der zeitgenössischen Pariser Diskussion Mitte des 13. Jahrhunderts geschulte Begriffsarbeit des Sentenzenkommentars, die Kolbinger so ausführlich behandelt hat, nachwirkt oder ob Bonaventura als Ordensgeneral in einem veränderten kommunikativen Kontext, unter Verwendung anderer Textgattungen und einer deutlich stärker an Bibel und Patristik geschulten Sprache – wenn nicht explizit, so doch implizit – den Ertrag seiner feinsäuberlichen Arbeit an Konzept und Begriff revidiert oder schlicht beiseitegelassen hat. Dies hätte auch bedeutet zu untersuchen, ob die den Gepflogenheiten der Universitätstheologie entsprechende Vorgehens- und Argumentationsweise des Sentenzenkommentars als primärer Ausgangspunkt zu wählen ist, um Bonaventuras Überlegungen zur Zeit zu untersuchen, um sie erst dann anhand der späteren Schriften zu erweitern. Was wäre das Resultat von Kolbingers Bemühungen gewesen, hätte er nicht a priori angenommen, dass es eine systematisierende Einheit in Bonaventuras Lehren zu Zeit und Ewigkeit geben muss? Hätten sich stärkere Brüche, Diskontinuitäten und Widersprüche gezeigt, wenn Aussagen zu Zeit und Ewigkeit kontextsensitiv untersucht worden wären? Aufschlussreich gewesen wäre es zweifelsohne, Bonaventuras Überlegungen stärker als Teilnahme an einer zeitgenössischen Diskussion unter Theologen einerseits und zwischen Theologen und Artisten andererseits zu lesen.

Obwohl der Untertitel anderes verheißt, bleiben Kolbingers Darlegungen diesbezüglich leider in Ansätzen stecken: Mit einiger Regelmäßigkeit erwähnt wird Thomas von Aquin, ohne dass untersucht würde, inwiefern dieser einen wichtigen Bezugspunkt für Bonaventura darstellt. Andere Theologen wie Alexander von Hales oder Albertus Magnus werden allenfalls en passant und zumeist nur in den Fußnoten erwähnt, während Roger Bacon sich mit einer kleinen Nebenrolle begnügen muss. Auch ein ausführlicherer Blick auf Petrus Lombardus und seine „Sentenzen“ hätte sich zweifellos gelohnt, da er Bonaventura wichtige Autoritäten an die Hand gab, um Zeit und Ewigkeit zu diskutieren. Nicht nachzuvollziehen ist zudem schließlich, warum die Pariser Aristoteliker um Siger von Brabant und Boethius von Dacien keine prominentere Rolle spielen, hat doch Bonaventura seit den 1260er-Jahren nicht zuletzt die sich auf Aristoteles berufende Lehre von der Ewigkeit der Welt als Herausforderung seiner Vorstellungen vom Verhältnis zwischen Theologie und Philosophie, Glauben und Wissen sowie theologischem und philosophisch-aristotelischem Zeitdenken begriffen. Hier böten sich zahlreiche Möglichkeiten, Bonaventuras Vorstellungen in eine philosophisch-theologische Konstellation einzuordnen, die sie ebenso zu formen suchten, wie sie von ihr geformt wurden. Zu diesem Zweck hätten zuallererst die begrifflichen, argumentativen und doktrinalen Befunde für die einschlägigen Schriften, deren jeweilige kommunikativen und institutionellen Rahmen vorgestellt werden müssen, um diese sich einer Vorstellung von systematisierender Einheit verweigernden Befunde in einem zweiten Analyseschritt mit Bezug auf ihre jeweiligen Kontexte in Relation zueinander zu interpretieren. Kolbingers Studie wäre dann einem Paradox entronnen, das Historikerinnen und Historikern unweigerlich ins Auge fallen wird: In einer Studie, die überzeugend zeigt, dass Bonaventura den Menschen als Wesen in der Zeit begriffen hat, bleibt der untersuchte Theologe selbst gleichsam zeitlos – ein Partner im immerwährenden Gespräch großer Männer über Zeit und Ewigkeit.

Anmerkungen:
1 Andreas Speer, Bonaventure and the Question of a Medieval Philosophy, in: Medieval Philosophy and Theology 6 (1997), S. 25–46; Marianne Schlosser, Bonaventura begegnen, Augsburg 2001.
2 Joseph Ratzinger, Die Geschichtstheologie des heiligen Bonaventura, München 1959.