J. Häberlen: Vertrauen und Politik im Alltag

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Titel
Vertrauen und Politik im Alltag. Die Arbeiterbewegung in Leipzig und Lyon im Moment der Krise 1929–1933/38


Autor(en)
Häberlen, Joachim
Reihe
Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 210
Erschienen
Göttingen 2013: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
367 S.
Preis
€ 64,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Mike Schmeitzner, Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung, Dresden

Wie zahlreiche Studien vor ihm versucht Joachim C. Häberlens 2011 an der Universität Chicago angenommene Promotionsschrift die Frage zu beantworten, weshalb es in den letzten Jahren der Weimarer Republik nicht zu einem Abwehrbündnis zwischen SPD und KPD gekommen ist, warum – ganz im Gegenteil – von einer „kampflosen Kapitulation“ (Manfred Scharrer) vor der rechtsextremen Gefahr gesprochen werden kann. Die Arbeit möchte einen „Beitrag zum Verständnis eines entscheidenden Moments in der jüngeren deutschen Geschichte“ leisten – dem Ende der Republik und dem Aufstieg der NSDAP. Dass es dazu einer „komplexen und multikausalen Antwort auf verschiedenen Ebenen“ (S. 9) bedarf, ist Häberlen bewusst. Mittels eines vielversprechenden Vergleichs mit Frankreich und der dort wesentlich erfolgreicher agierenden Linken (1929–1938) möchte er untersuchen, welche Umstände und Faktoren in dem einen Fall (Deutschland) zur Niederlage, in dem anderen Fall (Frankreich) zum (relativen) Erfolg der Arbeiterbewegung geführt haben könnten.

Doch wie vergleichbar sind diese Fälle überhaupt? Sind die hier avisierten Vergleichsebenen bzw. Vergleichsgegenstände möglicherweise so verschieden, dass ein Vergleich wenig sinnvoll, ja sogar wissenschaftlich unfruchtbar erscheint? Häberlen kennt die Fallstricke und Einwände, die hier zu Buche schlagen könnten. In einer klug abwägenden Einleitung versucht er, die Plausibilität seiner Vergleichsanordnung zu begründen. So stellt er selbst einige der (möglichen) Einwände auf den Prüfstand: Gegen die von Hermann Weber herausgestrichene Bedeutung von Entscheidungen der Moskauer Komintern macht er – im Anschluss an Klaus-Michael Mallmann – mit einigem Recht die „Relevanz lokaler Dynamiken“ (S. 12) stark, wobei jedoch die Studie des Weber-Schülers Bert Hoppe unberücksichtigt bleibt.1 Auch den Einwand, dass aufgrund des zeitversetzten Vergleichs Deutschland doch als „warnendes Beispiel“ (S. 37) getaugt haben mag, kann Häberlen mit Hinweis auf den weit stärker rezipierten spanischen Bürgerkrieg entkräften. Plausibel erscheinen zudem seine Einlassungen zu den unterschiedlichen Ausgangssituationen beider Länder (einschließlich der Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise), den (verschiedenen) Bedrohungspotentialen der Rechtsextremen sowie zur divergierenden organisatorischen Prägung und Stärke beider Arbeiterbewegungen.

Im Zentrum der Arbeit stehen zwei zentrale Konzepte, nämlich ‚Vertrauen’ und ‚Politik’, mit denen Häberlen die lokalen Dynamiken an der Basis beider Arbeiterbewegungen ausloten möchte. Die politische Dimension des Alltags von Kommunisten und Sozialdemokraten und ihres Verhältnisses mittels der Ressource ‚Vertrauen’ aufschließen zu wollen, ist gewiss ein äußerst innovativer Ansatz – und ein schwer einlösbarer außerdem. Deutlich wird dies am konzeptionellen Aufbau der Studie: Häberlen verzichtet ganz bewusst auf einen systematisch angelegten Binnen- und Mikrovergleich, um nicht die „Kohärenz der jeweiligen Fallstudien aufzugeben“ (S. 39). Ein solches Vorgehen erscheint aber nur deswegen konsequent, weil die Leipziger Fallstudie systematisch gegliedert ist, die Lyoner Fallstudie aber streng chronologisch, um das Auf und Ab der Volksfrontbemühungen in den Blick zu bekommen.

Trotz der unterschiedlichen Zugänge können das der Arbeit zugrunde liegende Konzept und die daraus resultierenden Ergebnisse überzeugen. Bei seiner Untersuchung zu Leipzig knüpft Häberlen an Klaus-Michael Mallmanns Forschungen an, die er jedoch in wesentlichen Punkten modifiziert. Im Falle Leipzigs wird deutlich, dass das bestehende sozialistisch-proletarische Milieu nicht per se parteiübergreifend pazifizierend wirkte. Zwar engagierten sich Kommunisten und Sozialdemokraten in den zahlreichen Arbeitersport- und Kulturvereinen der Stadt gemeinsam, doch war ihr Verhältnis auch und gerade in dieser Hochburg der Arbeiterbewegung eben nicht so sehr von Vertrauen geprägt, sondern von tief greifendem Misstrauen. Das hing in erster Linie mit den „gegensätzlichen Politikverständnissen“ (S. 82) von Kommunisten und Sozialdemokraten zusammen. Während etwa Gewalt ein „essentieller Bestandteil kommunistischer politischer Praxis“ (ebd.) war, wurde eben diese von Sozialdemokraten prinzipiell abgelehnt. Die gewaltsame Abwehr nationalsozialistischer Eindringversuche in proletarische Viertel und die – mitunter gezielt und offensiv eingesetzte – Gewalt gegen politische Gegner (darunter auch die tödliche Attacke gegen einen jungen Sozialdemokraten) ließen Vertrauen zu Sozialdemokraten nicht entstehen, die überdies wegen ihrer Regierungsfunktionen (in Leipzig stellten sie den Polizeipräsidenten) als feindliche „Staatsmacht“ (S. 324) wahrgenommen wurden. Auch das Bestreben der KPD, den Alltag „möglichst vollständig“ (S. 91) in ihrem Sinne zu politisieren, die SPD mit Spitzeln zu unterwandern und selbst am Arbeitsplatz einen „permanenten Kleinkrieg“ (S. 125) auszutragen, ließ das Misstrauen eher wachsen.

Ganz anders gestaltete sich die Lage in Lyon, wo die traditionell stärkeren Gewerkschaften den Ton angaben und nicht die wesentlich schwächer verankerten Parteien. Dass hier Vertrauen wachsen konnte, und über den Höhepunkt der Volksfront (1936) hinaus zu gemeinsamem Handeln führte, hatte viel mit der überparteilich-syndikalistischen Tradition der Gewerkschaften, der Konzentration kommunistischer Politik auf den Arbeitsplatz (und nicht auf die proletarischen Viertel), der bisherigen Regierungsabstinenz der Sozialisten sowie der kaum vorhandenen Gewaltbereitschaft zu tun. Parteipolitische Spannungen existierten zwar auch in Lyon, doch konnten die Gewerkschaften die „spaltenden und demobilisierenden Effekte“ (S. 228) verhindern. In den ab 1934 geschaffenen „antifaschistischen Komitees“ arbeiteten gar Kommunisten und Sozialisten zusammen. In Lyon waren es also der „Druck von der Basis“ und die „Einsicht der Parteiführung“ (S. 322) bzw. der Komintern, die eine gemeinsame Front ermöglichten.

Häberlens Untersuchung ist im Ganzen gesehen eine innovative, erfrischend vorurteilsfrei argumentierende und quellengesättigte vergleichende Studie, die meist abseits der „großen“ Politik dem Verhältnis von Kommunisten und Sozialdemokraten nachspürt und auf diese Weise bemerkenswerte Einsichten zu präsentieren vermag. Es bleibt – für die deutsche Ebene – allerdings abzuwarten, inwieweit das Leipziger Beispiel tatsächlich repräsentativ ist oder aber durch weitere Lokalstudien relativiert werden muss.

Anmerkung:
1 Vgl. Bert Hoppe, In Stalins Gefolgschaft. Moskau und die KPD 1928–1933, München 2007.

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