J. Dobler (Hrsg.): Großstadtkriminalität

Titel
Großstadtkriminalität. Berliner Kriminalpolizei und Verbrechensbekämpfung 1930 bis 1950


Herausgeber
Dobler, Jens
Erschienen
Berlin 2013: Metropol Verlag
Anzahl Seiten
275 S.
Preis
€ 22,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kurt Schilde, Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Berlin

Die Zeitgeschichte der Polizei in Deutschland1 im Allgemeinen und der Kriminalpolizei2 im Besonderen findet seit etwa zwei Jahrzehnten zunehmendes – meist fokussiert auf die NS-Zeit und deren Vor- und Nachgeschichte – Forschungsinteresse. Dies zeigen auch die Ergebnisse eines am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin durchgeführten Forschungsprojektes. Der daran – zusammen mit dem Soziologen und Historiker Herbert Reinke – beteiligte Geschichtswissenschaftler Jens Dobler hat mit Unterstützung der beiden (damaligen) studentischen Mitarbeiterinnen Irina Nowak und Julia Albert und einem zusätzlichen Beitrag von Michele Lindner einen ersten Überblick zur „Großstadtkriminalität“ in der deutschen Hauptstadt Berlin vorgelegt.

Der Ausgangspunkt, sprich: die „Quellenlage zu Kriminalität und Polizei im Nationalsozialismus für Berlin ist sehr gut“ (S. 10). Zur Auswertung stehen im Landesarchiv nahezu 150.000 Akten der Staatsanwaltschaft am Landgericht Berlin zur Verfügung. Von diesem riesigen Aktenberg sind die Bereiche Eigentumsdelikte, Körperverletzung und Sittlichkeitsdelikte für diese Untersuchung ausgewählt worden. Mittels einer „proportional geschichteten Stichprobe“ (S. 11) erfolgte die Erfassung und mit Hilfe eines standardisierten Fragebogens die quantifizierende und qualifizierende Bearbeitung.

Die politische Säuberung nach dem „Preußenschlag“ im Juni 1932 – faktisch das Ende der demokratischen Weimarer Republik – hatte bereits vielen führenden Polizisten den Job gekostet. Detailliert werden Angaben zu den Dezernaten, Dienstperioden der Polizei- und Polizeivizepräsidenten sowie der Leiter der Kriminal- und Schutzpolizei aufgelistet. Die zweite Säuberungswelle erfolgt zwischen 1936/37 und 1940 und hat zahlreiche Angehörige der Kriminalpolizei betroffen. Ist für die Reichsebene noch weitere Forschung vonnöten, hält Dobler für seine auf Berlin bezogenen Ergebnisse fest, dass die zweite Welle ausschließlich „alte Beamte der Kriminalpolizei aus der Weimarer Zeit“ (S. 71) betraf, denen offenbar nicht zugetraut wurde, „dass sie die geplanten Maßnahmen der Judenvernichtung und des Angriffskrieges mitgetragen hätten“ (S. 71).

Neben Beiträgen Doblers zu „Gefährliche Hauptstadt – Körperverletzung“ und „Saubere Hauptstadt – Sittlichkeitsdelikte“ in der NS-Zeit gibt es Aufsätze zu besonderen Aspekten. Da über das Führungspersonal des Berliner Polizeipräsidiums nur unzureichende Informationen vorliegen, ist eine biografische Studie von Kriminalkommissar Michele Lindner über Max Haertel – Leiter der Kriminalpolizei von 1937 bis 1943 – in den Band aufgenommen worden. Sie basiert auf einer 2010 als Masterarbeit an der Deutschen Hochschule der Polizei in Münster entstandenen Untersuchung. Der berufliche Weg von Haertel hat 1911 begonnen, als er die Kommissarslaufbahn einschlug. In der Zeit des Nationalsozialismus arrangierte er sich mit den Verhältnissen, trat im Mai 1933 in die NSDAP und 1937 in die SS ein, was beides seine Karriere beschleunigte. Diese endet 1945 mit der Hinrichtung des NS-Verbrechers wegen der "Tötung und Misshandlung der sowjetischen Zivilbevölkerung und gefangener Rotarmisten" (S. 92) und juristisch 1952 posthum mit seiner von einer Spruchkammer bescheinigten Entnazifizierung.

Ein weiterer Beitrag von Irina Nowak wertet Diebstahlsakten aus mit einem geschärften Blick „auf die vielen ausländischen Personen, die wir bislang nur als in Lagern internierte[r] Zwangsarbeiter[n] im Kopf hatten“ (S. 11). Nowak konnte für ihre Studie über das „Phänomen der Schutz- und Vorbeugungshaftunterbrechung“ (S. 12) auf einen Zufallsfund – die Akten der legendären Agentin Carmen Mory – zurückgreifen. Ausführlich geht sie auf den Lebensweg der 1906 in der Schweiz geborenen Gestapospitzelin ein, die vermutlich als Doppelagentin für Frankreich aktiv gewesen ist. Die u.a. im Konzentrationslager Ravensbrück inhaftierte Frau ist 1942 an die Untersuchungshaftanstalt Berlin-Moabit überstellt worden und vom Landgericht Berlin zu einer Gefängnisstrafe wegen Diebstahl und Unterschlagung verurteilt worden. Danach ist sie wieder nach Ravensbrück gebracht worden. Im zweiten Ravensbrück-Prozess 1946/47 wurde sie zum Tode verurteilt und entzog sich der Hinrichtung durch Suizid.

Julia Albert, die ihre Masterarbeit über französische „Zivilarbeiter“ vor Berliner Gerichten geschrieben hat, untersucht in einem ersten Beitrag Straftaten belgischer Staatsangehöriger, die während des Zweiten Weltkrieges freiwillig oder unter Zwang in Berlin gearbeitet haben. Die bei ihnen am häufigsten festgestellten Vergehen bildeten Eigentumsdelikte. „Fast immer ging es um Lebensmittel, Bargeld und Kleidungsstücke“ (S. 177). An zweiter Stelle stehen der verbotene Kauf bzw. Verkauf von Bezugsmarken und bezugsbeschränkten Waren, gefolgt von Betrug und Hehlerei sowie Sittlichkeitsdelikten, z.B. Homosexualität, sowie eine große Palette weiterer Straftaten.

Um „arbeitsunwillige Ausländer“ geht es auch in Alberts zweiten Beitrag zu französischen Zwangsarbeitern, in dessen Zentrum eine Bande von Zuhältern steht. Von den zehn überführten Männern waren acht Franzosen und zwei Belgier. Deren bemerkenswertes kriminelles Wirken wird von der Entstehung der Bande bis zu ihrer Entdeckung und Verurteilung beschrieben. Die vom Landgericht Berlin bzw. Berliner Sondergericht IV 1943 verhängten Urteile bewegen sich – abgesehen von einem Freispruch – zwischen einer Gefängnisstrafe von 18 Monaten und Zuchthausstrafen zwischen 15 bis 36 Monaten sowie zwei vollstreckten Todesurteilen.

„Bei den dreizehn Frauen, die sich für die Männer der Bande prostituierten, handelt es sich ausschließlich um Französinnen“ (S. 203). Die meisten von ihnen hatten bei Siemens & Halske gearbeitet. Nur in seltenen Fällen kann „von einer freiwilligen Prostitution gesprochen werden“ (S. 205). Alberts Beschreibung der Inneneinsichten des „Bandenlebens“ liefert einen interessanten und bemerkenswerten Einblick in ein „Nebeneinander von Ausbeutung und Zweckgemeinschaft“ (S. 214) sowie die Androhung von Gewalt bei der Kontaktaufnahme und das oft mit Gewalt verbundene Zwangsverhältnis zwischen den männlichen Zuhältern und weiblichen Prostituierten. Albert beschreibt die Ermittlungen der Kriminalpolizei und die Reaktionen der Justiz, wobei sie „keine Anhaltspunkte für Besonderheiten im Umgang der Justiz mit den Franzosen ausmachen“ (S. 240) konnte. In ihrem Resümee stellt sie fest: „Der Bedarf an Arbeitskräften hatte Vorrang vor möglichen Ausweisungen von straffällig gewordenen Ausländern“ (S. 246). Dem Herausgeber ist zuzustimmen, wenn er feststellt: „Für die Zwangsarbeiterforschung hat Julia Albert ein neues Kapitel aufgeschlagen“ (S. 12). Man darf auf die Fortsetzung nicht nur ihrer Forschungen gespannt sein.

Das von Jens Dobler herausgegebene Buch ist die erste wissenschaftlich fundierte Darstellung von „Organisation, Personal, Arbeitsweise und Mythenbildung der Berliner Polizei im Allgemeinen und der Kriminalpolizei im Besonderen“ (S. 12). Neben der Darstellung ausgewählter Kriminalitätsfelder – Körperverletzung, Sittlichkeitsdelikte und die „Kriminalität von belgischen und französischen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern während der Kriegszeit“ (S. 13) wird ein Blick auf das „Phänomen“ der Konzentrationslagerhaftunterbrechungen geworfen. Alle diese Untersuchungsfelder stellten bisher historische Leerstellen dar. Es wird ein wichtiger Beitrag zur Geschichte des Berliner Polizeipräsidiums – der größten Polizeibehörde im Deutschen Reich – vorgelegt.3 Damit werden weitere Untersuchungen zur Zeitgeschichte der Polizei herausgefordert.

Anmerkungen:
1 Vgl. meine Besprechungen von Wolfgang Schulte (Hrsg.), Die Polizei im NS-Staat. Beiträge eines internationalen Symposiums an der Deutschen Hochschule der Polizei in Münster (Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Polizeigeschichte 7), Frankfurt am Main 2009, in: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2010-1-028> (03.07.2014); sowie von Florian Dierl u.a. (Hrsg.), Ordnung und Vernichtung. Die Polizei im NS-Staat. Eine Ausstellung der Deutschen Hochschule der Polizei, Münster, und des Deutschen Historischen Museums, Berlin. 1. April bis 31. Juli 2011. Hrsg. von der Deutschen Hochschule der Polizei (Münster) und Florian Dierl, Mariana Hausleitner, Martin Hölzl und Andreas Mix. Dresden 2011, in: <http://www.hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2011-2-181> (03.07.2014).
2 Vgl. Patrick Wagner, Hitlers Kriminalisten, München 2002; Imanuel Baumann u.a., Schatten der Vergangenheit. Das BKA und seine Gründungsgeschichte in der frühen Bundesrepublik, Köln 2011; rezensiert für H-Soz-u-Kult von Wigbert Benz in: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2012-2-080> (03.07.2014).
3 Eine Pionierstudie zur Kölner Polizei liegt seit langem vor: Harald Buhlan/Werner Jung (Hrsg.), Wessen Freund und wessen Helfer? Die Kölner Polizei im Nationalsozialismus (Schriften des NS-Dokumentationszentrums der Stadt Köln 7), Köln 2000; Vgl. meine Besprechung in: Geschichte in Köln. Zeitschrift für Stadt- und Regionalgeschichte, 49 (Oktober 2002), S. 295–297.

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