Wilfried Nippel: Klio dichtet nicht

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Titel
Klio dichtet nicht. Studien zur Wissenschaftsgeschichte der Althistorie


Autor(en)
Nippel, Wilfried
Reihe
Campus Historische Studien 69
Erschienen
Frankfurt am Main 2013: Campus Verlag
Anzahl Seiten
402 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Willing, Marburg

Die Wissenschaftsgeschichte der Althistorie hat sich seit etwa 1970 verstärkt zu einer eigenständigen Spezialdisziplin herausgebildet. Erheblichen Anteil an dieser Entwicklung hatte der Marburger Althistoriker Karl Christ (1923–2008), der mit zahlreichen Studien wesentliche Grundlagenforschung auf diesem Gebiet betrieb und nachhaltige Impulse vermittelte. Zur Erinnerung an seine herausragenden Verdienste wird seit 2013 in einem zweijährigen Turnus der Karl-Christ-Preis verliehen. Dass der Berliner Althistoriker Wilfried Nippel zum ersten Preisträger dieser Auszeichnung gekürt wurde, kann als deutliches Indiz dafür gelten, dass der Autor des vorliegenden Werkes als einer der besten Kenner der Materie zu gelten hat.

Nippel konzentriert sich bei seinem Streifzug durch die Antike-Forschung auf die Koryphäen des Faches im 19. Jahrhundert, wobei eigene Beiträge aus den letzten 15 Jahren als Grundlage dienen. Wie er einleitend ausführt, handele es sich aber nicht um „Kleine Schriften“, da die Aufsätze gründlich überarbeitet sowie durch diverse Materialien ergänzt worden seien und in einigen Fällen einen ganz neuen Zuschnitt erhalten hätten. Mit der Darstellung werde „kein eigenes Programm“ verfolgt, sondern sie solle der „methodischen Selbstreflexion des Faches“ dienen (S. 12).

Zum Auftakt geht Nippel auf „die großen Leistungen der Antiquare“ (S. 16) ein, womit die Vorarbeiten der altertumswissenschaftlichen Gelehrten zwischen Humanismus und Aufklärung gemeint sind, deren kritische Auseinandersetzung mit der antiken Überlieferung noch in den Kinderschuhen steckte. Mit dem englischen Autodidakten Edward Gibbon wendet sich die Studie anschließend einem viel behandelten „Klassiker“ der althistorischen Wissenschaftsgeschichte zu1, dessen monumentales sechsbändiges Werk „The History of the Decline and Fall of the Roman Empire“ einen Meilenstein für die Genese des Faches darstellte. In ihm behandelte Gibbon auf 3.200 Textseiten mit 8.000 Fußnoten die Geschichte des Römischen Reiches vom 2. Jahrhundert n.Chr. bis zum Fall Konstantinopels 1453. Dass die Untersuchung geradezu revolutionäre Wirkung erzielte, lag an der umfassenden Heranziehung aller literarischen Quellen, der zunehmenden Entfaltung einer quellenkritischen Arbeitsmethode, dem Einbau strukturgeschichtlicher Elemente sowie einer beißenden Kritik an Kirche und christlichem Establishment. In Deutschland rief die große Leistung Gibbons ein unterschiedliches Echo hervor, anhaltender Bewunderung stand ein gewisses Unverständnis gegenüber. Laut Nippel waren besonders bei Theodor Mommsen „die Plattheiten der Urteile […] niederschmetternd“ (S. 59).

Als nächste große Figur der Altertumswissenschaften wird Barthold Georg Niebuhr in den Blick genommen, der vielen als Begründer der historisch-kritischen Methode gilt. Er sei „ein schwieriger Gründervater“ gewesen (S. 93), da er durch die Tätigkeit als hochrangiger Finanzfachmann in preußischen Diensten einerseits und die wissenschaftlichen Aktivitäten andererseits eine „zerrissene Persönlichkeit“ (S. 94) repräsentiere. Von der Qualität seines epochalen Opus, der „Römischen Geschichte“, war Niebuhr aber vollkommen überzeugt: „Ich bin so gewiss in allem Wesentlichen die Wahrheit entdeckt zu haben, dass ich zu sagen wage, alle künftige Entdeckungen jetzt unbekannter Bücher oder Denkmähler können nur bestätigen oder vervollständigen“ (S. 116). Auf die Zeitgenossen übte der preußische Historiker eine kaum zu überschätzende Faszination aus. So urteilte der Dichterfürst Goethe am 29. Januar 1831 anlässlich des Todes von Niebuhr: „Er geht noch umher und wirkt.“2 Nippel weist am Ende des Kapitels darauf hin, dass sich Niebuhrs Ausstrahlung mit dem Ende des 19. Jahrhunderts erschöpft hatte, da seine „ständige Vermischung der wissenschaftlichen und außerwissenschaftlichen Aspekte und noch mehr sein Insistieren auf der Beweiskraft seiner genialistischen Einsichten […] angesichts der Professionalisierung des Wissenschaftsbetriebs […] keinen Bestand haben“ konnten (S. 133).

Ein kulturgeschichtlicher Abriss streift den Baseler Professor Jakob Burckhardt, ohne jedoch seiner universalhistorisch begründeten Konzeption für die Althistorie umfassend gerecht zu werden. Im Folgenden wendet sich Nippel mit Johann Gustav Droysen seinem bevorzugten Protagonisten zu.3 In das Zentrum der Betrachtung wird der Hellenismus als unscharfer Epochen-Begriff gerückt. Droysen, der Parallelen zwischen Preußen und dem antiken Makedonien zog, sah in der Suprematie der Herrscher von Pella nicht das Ende der griechischen Freiheit, sondern konnotierte sie positiv. Alexander der Große habe dabei als „Werkzeug in der Hand der Geschichte“ firmiert (S. 156) und einen Verschmelzungsgedanken zwischen Hellenen und Persern verfolgt, freilich unter griechischer Dominanz.4 Da sich Droysen in der Zunft der Kollegen heftiger Kritik ausgesetzt sah, wandte er sich in den 1840er-Jahren den neuzeitlichen Epochen zu, so dass die „Geschichte des Hellenismus“ ein „Torso“ blieb (S. 165). Während Droysen von dem Nestor der althistorischen Wissenschaftsgeschichte, Arnaldo Momigliano, als „einer der größten Historiker“ hoch geschätzt wurde, sieht Nippel in ihm eher einen „Vorwort- und Ankündigungs-Historiker“ (S. 166f.).

Anschließend erfolgt ein Vergleich Droysens mit Grote und Palacký. Während der englische „Gentleman-Historiker“ George Grote hinsichtlich der athenischen Demokratie und des Alexander-Bildes einige Erkenntnisse ermöglicht, bleibt die Heranziehung des tschechischen Nationalisten František Palacký rätselhaft, da er sich vor allem der Geschichte Böhmens seit dem Mittelalter widmete und keine Berührungspunkte zur Althistorie aufweist. „Vorläufige Schlussfolgerungen“ zur Rolle von Historikern in der Öffentlichkeit (S. 228–234) leiten über zu dem Literaturnobelpreisträger Theodor Mommsen, dem wohl bekanntesten und am besten erforschten deutschen Altertumswissenschaftler. Neben den berühmten Werken „Römisches Staatsrecht“ und „Römische Geschichte“ wird vorrangig die „rätselhafte Stellung von Senat und Princeps“ näher untersucht. Als Kritiker von Mommsen tritt dabei der Rechtshistoriker Wolfgang Kunkel in Erscheinung, der dem homo politicus an vielen Stellen eine „Vergewaltigung des von ihm mit größter Sorgfalt verzeichneten Überlieferungsbefundes durch juristische Konstruktionen“ vorhielt (S. 275). Nippel begnügt sich am Ende dieses Kapitels mit der Präsentation von zwei Zitaten, ohne selbst eine dezidierte Wertung über den Nobelpreisträger zu formulieren.

Der letzte Teil der Studie widmet sich dem Thema Abolitionismus, präziser gesagt den Positionen von christlichen Publizisten sowie Nationalökonomen, insbesondere von Karl Marx und Max Weber. In diesen Partien, die zu den besten des Buches gehören, wird eindrücklich herausgearbeitet, dass Marx der Sklaverei im Altertum nur insofern Aufmerksamkeit schenkte, wie es für seine Kapitalismus-Kritik notwendig war, während sich bei Weber eine Parallelisierung zwischen antiker und moderner „Negersklaverei“ nachweisen lässt.

Nippels Werk zeichnet sich durch große Sachkenntnis und souveräne Beherrschung des Forschungsstandes aus, wie das umfangreiche Literaturverzeichnis belegt (S. 317–392). Ferner liegen seine Stärken in der Erörterung der internationalen Wissenschaftsbeziehungen, so dass eine isolierte Betrachtung der deutschen Althistorie vermieden wird. Konzeptionell kann die Studie jedoch kaum überzeugen, da es an innerer Geschlossenheit mangelt. Dutzende Unterkapitel, teilweise fehlende Bezüge zur Althistorie und das Herauspicken von Einzelaspekten erschweren es, einen roten Faden in der Darstellung zu erkennen. Statt einer Synthese entsteht der Eindruck von chronologisch hintereinander gereihten Einzelbeiträgen, die notdürftig miteinander verklammert werden. Um es abgewandelt mit Theodor Mommsens Metapher vom „antiquarischen Bauplatz“ zu sagen: es werden zwar Ziegel hergestellt, aber kein Haus gebaut.

Anmerkungen:
1 Vgl. u.a. Karl Christ, Von Gibbon zu Rostovtzeff, Darmstadt 1972 (3. Aufl. 1989), S. 8–25.
2 Goethe an Zelter am 29.1.1831, in: Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter in den Jahren 1799 bis 1832, hrsg. v. Edith Zehm und Sabine Schäfer, München 1998, S. 1434–1436, Zitat S. 1435.
3 Wilfried Nippel, Johann Gustav Droysen. Ein Leben zwischen Wissenschaft und Politik, München 2008.
4 Dass später Althistoriker mit nationalsozialistischer Gesinnung Alexanders Idee der Anbahnung einer griechisch-iranischen Führungselite als „biologisches Sakrileg“ diffamierten, das die Gefahr eines „Rassenchaos“ heraufbeschworen habe, sei hier nur am Rande erwähnt. Vgl. Fritz Schachermeyr, Indogermanen und Orient. Ihre kulturelle und machtpolitische Auseinandersetzung im Altertum, Stuttgart 1944, S. 242f.

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