R. Winter: Geschichtspolitiken und Fernsehen

Cover
Titel
Geschichtspolitiken und Fernsehen. Repräsentationen des Nationalsozialismus im frühen österreichischen TV (1955–1970)


Autor(en)
Winter, Renée
Reihe
Histoire 46
Anzahl Seiten
320 S.
Preis
€ 35,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Heinz P. Wassermann, Institut Journalismus und Public Relations, FH Joanneum Graz

Forschungsdesiderata zu füllen ist unter dem Aspekt der Innovation ein Kriterium wissenschaftlichen Arbeitens, das unter anderem thematisch oder methodisch bewerkstelligt werden kann. Im mittlerweile geradezu unüberschaubaren Forschungsfeld zur Erinnerungskultur liegt mit der überarbeiteten Dissertation von Renée Winter eine Monografie vor, die den Aspekt der Innovation auf den ersten Blick in zweifacher Hinsicht, was den Medientyp und den Zeitraum betrifft, erfüllt.

Winter widmet sich dem österreichischen Fernsehen zwischen 1955 und 1970 „als Schauplatz für Verhandlungen österreichischer Zeitgeschichte“ (S. 15). „In diesem Zeitraum entwickelten sich […] die televisuellen Geschichtsformate, etablierte sich ein Bilderkanon zum Nationalsozialismus und war die (politische) Rolle des Mediums Fernsehen Gegenstand von Auseinandersetzungen.“ (S. 14) Dementsprechend plausibel erscheint es, diesen bisher vernachlässigten Zeitraum zu untersuchen – „nicht zuletzt als Grundlage für weitere Fernsehforschungen“ (ebd.).

Im Zentrum der Arbeit steht die „Auseinandersetzung mit Geschichtsfernsehen“ (S. 23), wobei Winter von zwei Vorannahmen ausgeht: „Erstens, dass die Rekonstruktion von Geschichte immer auf Medien angewiesen ist“ und „zweitens, dass Geschlecht ein ‚bestimmendes, wenn auch verstecktes Idiom der Erinnerung‘ […] darstellt. Bisher gab es wenige konkrete Thesenbildungen zu Geschlechtercodes in österreichischen Geschichtsdarstellungen und Selbstbildern“ (ebd.), womit eine dritte Forschungslücke benannt ist, die die Arbeit füllen möchte. Die Verfasserin verfolgt das Ziel, zu „zeigen, dass […] nicht grundsätzlich von einem Schweigen über Nationalsozialismus und Shoah im Fernsehen gesprochen werden kann“ (S. 34), was beim Abgleich mit einschlägigen Forschungen auf Basis anderer Medientypen allerdings keine neue Erkenntnis darstellt.1

Im ersten Kapitel untersucht Winter die diskursive Verortung des Geschichtsfernsehens in der Matrix des Mediums und seinem zentralen „Versprechen der Demokratisierung“ (S. 42) sowie dessen Bildungsfunktion einerseits und den „spezifische[n] Geschlechtercodierungen“ (S. 37) andererseits. Die Analysen basieren neben der einschlägigen Sekundärliteratur auf zwei Fernsehzeitschriften („Telespiegel“ und der Österreichausgabe von „Hör Zu“) sowie acht partiell ausgewerteten österreichischen Tageszeitungen. Summa summarum fokussiert dieser Abschnitt darauf, wie die Vermittlung von Zeitgeschichte als Aufgabe des Fernsehens thematisiert wurde.

Der theoretische Rahmen findet im folgenden Kapitel seine praktische Umsetzung. Dazu hat Winter in weiteren Programmzeitschriften wie „Funk und Film“ und „Blick“, im Fernsehteil der „Arbeiter Zeitung“, in der Datenbank des ORF-Archivs und anderen audiovisuellen Materialien recherchiert (vgl. S. 83). Zentrale Erkenntnis des ersten Analyseteils ist die Verschiebung des Gedenkens an den „Anschluß“ im März 1938 vom Radio zum Fernsehen und, dass die zentralen Gedenktage der 1960er-Jahre der 13. März 1938 und der 15. Mai (Unterzeichnung des österreichischen Staatsvertrages) gewesen sind. Im zweiten Abschnitt des Kapitels werden Sendungsprotokolle und die printmediale Rezeption der „im dritten Kapitel analysierten und dokumentierten Eigen- und Auftragsdokumentationen des ORF [formal] beschrieben und kontextualisiert“ (S. 123).

Jene zwischen 1961 und 1970 ausgestrahlten sieben Dokumentationen („‚Was sagt uns der 13. März?‘“, „Zeitgeschichte aus der Nähe. Teil 2: 1938–1945“, „Der österreichische Widerstand 1938–1945“, „Die Republik der Überzeugten“, „Die Iden des März“, „50 Jahre unsere Republik“ und „27. April. Wiedergeburt einer Republik“) untersucht die Autorin im Folgenden nach sechs formalen Kriterien („verbale Narration/Voice-Over“, „Archivfotos“ und „-film“, „Zeitzeug_innen“, „Ton“ und „fiktionale Elemente“). In diesem Abschnitt werden historische Narrative und geschichtspolitische Funktionen der erwähnten Dokumentationen anhand von zwei Themenkomplexen analysiert: Erstens die Verfolgung und Ermordung von Jüdinnen und Juden (vgl. S. 146) und zweitens Handlungsmöglichkeiten und Handlungsspielräume unterm Hakenkreuz (vgl. S. 152), wobei jeweils eine geschichtswissenschaftliche bzw. forschungsbasierte Einordnung erfolgt. Die Analysen in diesem Abschnitt, der gewissermaßen das Herzstück des Buches darstellt, wurden mit äußerster Sorgfalt durchgeführt und sind ebenso wie die Schlussfolgerungen nachvollziehbar und plausibel. Das diffizile Analyseschema wird der Komplexität des Bild-Ton-Mediums Fernsehen im Allgemeinen und der historischen TV-Dokumentation im Speziellen gerecht. Darüber hinaus gelingt es Winter, das zugrunde liegende Fernsehmaterial durch prägnante Interviewtranskripte und durch den punktuellen Abdruck von Bildmaterial für den Leser nachvollziehbar zu „übersetzen“. Der äußerst knapp gehaltene „Schluss“ (S. 281–284) ist zum einen Conclusio der Forschungsleistung, zum anderen Thematisierung von offenen Fragestellungen bzw. Forschungsfeldern.

Sowohl die prägnanten Einführungen jeweils am Beginn als auch die konzisen (Kurz-)Zusammenfassungen am Ende der jeweiligen Kapitel sind positiv zu vermerken. Winter positioniert das österreichische Fernsehen nachdrücklich und gut begründet als geschichtspolitischen Akteur und punktuell relevanten Player, wobei es in dieser sehr frühen Phase – dieser Aspekt hätte durchaus mehr an Vertiefung vertragen – weniger die historischen Dokumentationen waren: Die österreichische nationalsozialistische Vergangenheit wurde vielmehr vor allem durch das mittels Fernsehen verbreitete Kabarett (vgl. S. 107–114) kontinuierlich(er) thematisiert.

Sofern es die Integration von Sekundärliteratur betrifft, fällt das Resümee gespalten aus. Auf sicherem Terrain bewegt sich Winter bezogen auf den theoretischen Diskurs und methodische Aspekte. Problematisch ist jedoch, dass sie Aussagen von Dokumentationen aus den 1960er-Jahren mit dem (mehr oder minder) derzeit (und nicht seinerzeit) aktuellen Forschungsstand abgleicht. Würde dies der Korrektur dienen, könnte man diesem Zugang durchaus etwas abgewinnen. Störend ist in diesem Kontext jedoch Winters gelegentlich belehrender Duktus aus der Perspektive von 40 Jahren danach. Darüber hinaus sollte sie sich im Klaren darüber sein, dass eine Fernsehdokumentation von 30 oder 45 Minuten kein mehrbändiges Fachwerk mit all seinen diffizilen Argumentationen darstellt.

Was der Arbeit teilweise fehlt, ist die durchgehende und konsequente Integration bzw. der Abgleich mit Forschungsergebnissen, die zwar denselben Zeitraum abdecken, allerdings auf einen anderen Medienmix fokussieren. Ein solches Vorgehen hätte gezeigt, dass die von ihr analysierten Dokumentationen – gerade ob deren Schwerpunktsetzungen, Verzerrungen und Auslassungen – die „Normalität“ des Umgangs mit der NS-Vergangenheit darstellten. Dieser Punkt tritt unter anderem im Kontext der „Schulfunksendungen“ zu Tage, wo – sieht man von einem Hinweis auf eine Diplomarbeit ab – die Integration der einschlägigen Forschungsergebnisse fehlt.2

Des Weiteren finden sich in der Arbeit gelegentlich überschießende bzw. höchst problematische Interpretationen. „Die Eingliederung des Fernsehens in die Schule geschieht durch Disziplinierungsprozesse auf mehreren Ebenen. […] Zum anderen wird versucht, die Rezeptionshaltung zu kontrollieren: Es gilt, nicht zu essen, nicht zu reden und dem Verlauf der Sendung zu folgen.“ (S. 70) Der Rezensent weiß zwar nicht, welche Schule Winter besucht hat, aber diese „Disziplinierung“ war/ist der Schule (und nicht nur dieser) ganz allgemein inhärent und weniger ein fernsehschulisches Spezifikum. Ferner mangelt es den geschlechtsspezifischen Zuschreibungen bisweilen an Historisierung: „Die existierenden Bilder vom [27.] April 1945 zeigen Karl Renner, der mit seinem Hut in die Menge winkt, und tanzende Menschen – in der Mehrheit Frauen – vor dem Parlament. Was die gewählten Bilder vom Dezember 1945 [Bildung der Regierung Figl] und Mai 1955 [Unterzeichnung des Österreichischen Staatsvertrags] gemein haben, ist die Repräsentation von Männern in Anzügen, die etwas unterschreiben.“ (S. 122f.) Dass im April 1945, vor Kriegsende, in Wien kein Männerüberschuss geherrscht haben dürfte, scheint ebenso nicht sehr weit hergeholt zu sein, wie auch der Umstand, dass – sieht man von Helene „Hella“ Postranecky in der provisorischen Regierung Renner ab – mit Grete Rehor erstmals 1966 eine Frau in Österreich ein Regierungsamt bekleidet hat und somit „etwas“ hätte unterschreiben können. Dass die unterzeichnenden Außenminister im Oberen Belvedere ebenfalls ausschließlich Männer waren, sollte auch bekannt sein.

Schließlich haben sich einige sachliche Fehler eingeschlichen: Obwohl der nachmalige „Presse“-Chefredakteur Otto Schulmeister eine bedenkliche publizistische Nähe zum Nationalsozialismus aufwies3, war er keineswegs – wie Winter an zwei Stellen (S. 55 und S. 121) schreibt – Mitglied der NSDAP. Dass es sich bei Kurt Schuschnigg, Wilhelm Miklas und Engelbert Dollfuß um „positive Identifikationsfiguren“ der „Nachkriegs-ÖVP“ (S. 170) gehandelt hat, ist dahingehend zu revidieren, dass Miklas nach 1945 innerhalb der Volkspartei nicht mehr stattfand und Schuschnigg aus dem Parteigedächtnis geradezu getilgt wurde.

Sieht man von einigen an dieser Stelle nicht weiter auszuführenden wissenschaftlich-formalen Mängeln ab, füllt das Buch die oben erwähnten Forschungslücken bravourös und ist ein viel versprechendes Grundlagenwerk für weitere Forschungen.

Anmerkungen:
1 Vgl. beispielsweise Heidemarie Uhl, Transformationen des „österreichischen Gedächtnisses“. Krieg, Nationalsozialismus und Holocaust in der Erinnerungskultur der Zweiten Republik, Graz 2004; Heinz P. Wassermann, „Zuviel Vergangenheit tut nicht gut!“ Nationalsozialismus im Spiegel der Tagespresse der Zweiten Republik, Innsbruck 2000.
2 Vgl. u.a. Eduard Fuchs, Schule und Zeitgeschichte. Oder wie kommen Jugendliche zu politischen Klischeevorstellungen, Wien 1986; Heinz P. Wassermann, Verfälschte Geschichte im Unterricht. Nationalsozialismus und Österreich nach 1945, Innsbruck 2004.
3 Vgl. Fritz Hausjell, Otto Schulmeister 70: Materialien zur Vergangenheit, in: Medien & Zeit (1986), H. 1/2, S. 75–83.

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