U. Fraunholz u.a. (Hrsg.): Technology Fiction

Cover
Titel
Technology Fiction. Technische Visionen und Utopien in der Hochmoderne


Herausgeber
Fraunholz, Uwe; Woschech, Anke
Reihe
1800/2000. Kulturgeschichte der Moderne 10
Anzahl Seiten
304 S.
Preis
€ 33,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martina Heßler, Neuere Sozial-, Wirtschafts- und Technikgeschichte, Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr, Hamburg

„Träumt einer, so bleibt er niemals auf der Stelle stehen“1, so Ernst Bloch, Denker der „konkreten Utopie“, der die Grenzüberschreitung des utopischen Denkens betont. Technische Wunschbilder und Zukunftsvorstellungen finden sich schon in Märchen, in denen ein Schlaraffenland existiert, Siebenmeilenstiefel zur Verfügung stehen oder Tarnkappen. Das orientalische Märchen schließlich entfaltet, wie Bloch schreibt, den vollen „Glanz technischer Wunschbilder“2: Fliegende Teppiche, Blätterkleider als nie endende Rohstoffquelle oder die berühmte Wunderlampe verweisen auf Wünsche und Vorstellungen der Übersteigerung menschlicher Fähigkeiten, der Verfüg- und Beherrschbarkeit. Der vorliegende von Uwe Fraunholz und Anke Woschech herausgegebene Sammelband fragt nach den Versprechungen einer technisierten Welt in einer spezifischen historischen Phase, der Hochmoderne. Er geht zurück auf eine Tagung im Kontext des Sonderforschungsbereichs „Transzendenz und Gemeinsinn“ der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

Der Band ist, nach zwei eher konzeptionell-theoretischen Artikeln – der Einleitung von Fraunholz, Woschech und Thomas Hänseroth sowie dem Artikel von Adelheid Voskuhl zu Ambivalenzen im Fortschrittsversprechen –, in thematische Felder gegliedert: Im ersten Block „Mobile Zukünfte“ werden so unterschiedliche Themen wie die der pneumatischen Leichenbeförderung in Wien 1874 (Florian Bettel), Raumfahrtvorstellungen in Deutschland im Jahr 1928 (Daniel Brandau), das automatische Fahren (Fabian Kröger) sowie Hochgeschwindigkeitszüge in Deutschland und Frankreich (Philipp Hertzog) behandelt. Im kürzeren zweiten Teil geht es um Energievisionen, einem in der Forschung vielfach behandelten Thema, nicht zuletzt von Fraunholz selbst.3 Detlev Fritsche befasst sich mit dem Verbundsystem und den Debatten um den Elektromotor. Alexander Gall vergleicht das Atlantropa-Projekt mit dem Wüstenstrom-Projekt Desertec. Zwei weitere Aufsätze beschäftigen sich mit sozialistischen Technikutopien, nämlich der Aufsatz von Fraunholz zu sozialistischen Automatisierungsvisionen sowie jener von Katja Böhme, der Plastik als Stoff, der das Versprechen einer besseren Zukunft in sich trägt, thematisiert. Damit gerät – auch wenn Böhme vor allem die Diskurse um Plastik untersucht – ein Stoff in den Blick und somit die Frage, inwieweit Materialität selbst Visionen impliziert; ein Aspekt, der in der Forschung zu wenig beachtet wird. Im letzten Abschnitt („Medien der Popularisierung“) analysiert Woschech technische Visionen im frühen Tonfilm und Arno Görgen und Matthis Krischel beleuchten das Computerspiel Bioshock. Ralf Bülow widmet sich den Bildern des Grafikers und Illustrators Klaus Bürgle, die dieser in den 1950er- und 1960er-Jahren für populäre Technikmagazine, Wissenschaftsbücher und Zeitschriften produzierte.

Diese Breite zeichnet den Band aus. Technikvisionen und Zukunftsvorstellungen sind zwar ein Thema, das in der Technikgeschichte und den Kulturwissenschaften bereits einige Beachtung gefunden hat, doch meist konzentrieren sich die Publikationen auf ein technisches Themenfeld.4 Darüber hinaus weist der Band weitere Besonderheiten auf: Das ist zum ersten die Rede von der technischen Utopie; zweitens die fast ausschließliche Behandlung positiver Zukunftsentwürfe und drittens die Verknüpfung des Themas technischer Utopien mit dem Konzept der Hochmoderne. Da die Besprechung der einzelnen Beiträge die Möglichkeiten einer Rezension sprengen würde, sollen diese drei Aspekte im Mittelpunkt stehen, zumal sie das Innovative und zweifellos weitere Forschungen Anregende dieser Publikation ausmachen.

Grundthese des Bandes ist die Bedeutsamkeit technischer Utopien. Sie verkörpern, widerspiegeln und befördern, so die Herausgeber/innen, den Fortschrittsoptimismus und begleiten und beeinflussen die Technikentwicklung. Zwar stehen im Titel der Einleitung die Begriffe der Visionen und der Utopie, doch wird der Visionsbegriff nicht reflektiert. Die Einleitung konzentriert sich vielmehr auf den Begriff der Utopie. Darunter verstehen Fraunholz, Hänseroth und Woschech „jene Zukunftsszenarien erwarteter, erhoffter oder befürchteter technischer Entwicklungen […], die mit normativen Vorstellungen über wünschenswerte oder nicht erwünschte Zustände sowohl der Gesellschaft als auch der Technik überformt sind“ (S. 12f.). Sie lägen, so weiter, im „Konkretheitsgrad und Zeithorizont jenseits technischer Zielsetzungen sowie Prognosen und konstituieren sich meist aus einem Mix aus Fakten und Fiktionen“ (S. 13). Die Autor/innen betonen die Besonderheit technischer Utopien, die anders als beispielsweise die frühneuzeitlichen Utopien meist kein „kritisch-reflexiver Kommentar zum politisch-gesellschaftlichen System“ (ebd.) seien. Vielmehr enthielten sie Elemente von Mach- und Planbarkeit. Der Verzicht auf eine systematische Unterscheidung der Begriffe Vision und Utopie ist zweifellos eine streitbare Entscheidung, zumal gerade in der Literatur zu Zukunftsvorstellungen zur Technik üblicherweise von Visionen die Rede ist, kaum von Utopien. Helmuth Trischler und Hans-Liudger Dienel beispielsweise konstatieren in ihrem Buch zu Verkehrsvisionen, dass in den Quellen der Begriff der Utopie fast nie verwendet werde, da er zu stark mit „Undurchführbarkeit konnotiert“ sei und den „Makel der Realitätsferne“5 habe.

Zudem wird in den einzelnen Beiträgen im Band weder durchgängig der Utopiebegriff reflektiert noch genutzt. Lediglich Hertzog führt eine Unterscheidung zwischen Utopie und Vision an, mit dem Hinweis, dass der alltagssprachliche Gebrauch häufig keine Unterscheidung treffe. Er selbst gliedert seinen Beitrag nach inspirierenden Utopien und realisierten Visionen. Brandau spricht im Kontext der Entwürfe zur Raumfahrt von „Narrativen der Innovation“ und unterstreicht das Machbarkeitspostulat und die notwendige Plausibilität dieser Narrative. Fritsch wiederum benutzt in seinem Aufsatz unter anderem den Begriff der Prognosen und der sozialpolitischen Debatten; Florian Bettel spricht im Kontext der Idee der pneumatischen Leichenbeförderung von Projekt und Konzept. Gall stellt explizit fest, dass die zeitgenössischen Akteure den Begriff der Utopie bewusst vermieden (S. 183).

Entkleidet man den Utopiebegriff nicht seines Charakters eines kritischen Gegenbegriffs zur Gegenwart mit einer Tendenz zu überschießenden, ganzheitlichen Vorstellungen einer anderen Gesellschaft, so unterscheidet er sich von den Visionen, die eher gedachte Verlängerung der technischen Gegenwart sind und zudem häufig auf technische bzw. gesellschaftliche Teilbereiche beschränkt bleiben. Gerade Visionen sind mit der Vorstellung der Machbarkeit sowie der Gestaltbarkeit der Zukunft verbunden, sicherlich ein charakteristisches Element der Hochmoderne. So würden sich in dieser Unterscheidung interessante Perspektiven für die Forschung zur Hochmoderne ergeben, die, so könnte man argumentieren, gerade nicht mehr utopisch dachte, sondern ganz in der Logik der Gestalt- und Machbarkeit.

Die zweite Besonderheit des Bandes ist die Behandlung positiver Visionen. In der Einleitung wird allerdings auf die gleichzeitig existierende Technikkritik und auf Ambivalenzen hingewiesen. Keineswegs soll suggeriert werden, dass die Epoche einheitlich fortschrittseuphorisch war, sondern vielmehr gehen die Herausgeber/innen von einem „typische[n] Amalgan aus Technikoptimismus und -kritik“ (S. 22) aus. Trotzdem war es die nachvollziehbare Entscheidung, sich in diesem Band auf positive Visionen zu konzentrieren. Dies lädt gleichwohl zu weiteren Forschungen ein, nämlich gerade das Spannungsfeld von Euphorie und Kritik für den Zeitraum der Hochmoderne gleichzeitig zu betrachten, was bislang zu wenig geschieht. Im Band befasst sich der Beitrag von Adelheid Voskuhl in diesem Sinne mit den Ambivalenzen des Fortschrittsversprechens während der Weimarer Republik. Der bereits erwähnte Text von Görgen und Krischel zum Retro-Science-Fiction-Computerspiel Bioshock interpretiert dieses als Dystopie. Der Beitrag geht damit über den sonst im Band untersuchten Zeitrahmen der Hochmoderne hinaus, insofern er aktuelle Entwicklungen und eine Kritik am Transhumanismus zum Thema macht.

Dies führt zur dritten Besonderheit des Bandes: die explizite Verknüpfung der technischen Utopien mit der Zeit der Hochmoderne. Die Hochmoderne wird von den Herausgeber/innen in Anlehnung an geschichtswissenschaftliche Debatten als einheitlicher Zeitraum von 1880 bis 1970 gefasst, eine Phase, in der es „Zukunftsvertrauen in die Lösungskompetenz von Technik gegeben“ (Vorwort) habe. Für die Zeit seit den 1970er-Jahren betonen Fraunholz und Woschech die Infragestellung und das Nachlassen des Fortschrittsglaubens; sie verwenden die Begriffe „Zukunftsgewissheitsschwund“ und „pragmatische Moderne“, verweisen aber zugleich darauf, dass der Fortschrittsoptimismus keineswegs völlig verschwunden sei und dass trotz eines „erlahmenden Utopieelans“ technische Entwicklungen nach wie vor mit „immensen Hoffnungsüberschüssen verbunden seien“ (S. 24).

Die Beiträge im Band behandeln fast ausschließlich Visionen in der Zeit der Hochmoderne, ohne allerdings die Frage nach deren Spezifika, ihrer Rolle und Bedeutung in und für die Hochmoderne explizit zu reflektieren. Eine Ausnahme ist der Vergleich des Atlantropa-Projekts von Herman Sörgel mit Desertec, den Gall vornimmt. Er vergleicht deren Entstehung im zeithistorischen Kontext, den technokratischen Gehalt und den Zeithorizont sowie die mit den Visionen verbundenen Hoffnungsüberschüsse. Er kommt zu interessanten Ergebnissen, indem er beispielsweise herausstellt, dass die negativen Erfahrungen mit technischen Großprojekten, die bei den Planungen für Desertec vorlagen, das Projekt beeinflussten und zu „eine[r] Realisierung in einzelnen Schritten“ (S. 174) führten. Für die Frage des Vergleichs von Visionen in Hochmoderne und Gegenwart bleibt Gall dann vielleicht doch etwas unentschlossen. Einerseits betont er die technokratische Logik, die in beiden herrschte, andererseits die Unterschiede, vor allem den Unterschied einer beginnenden Realisierung des Desertec-Projekts, was Atlantropa nie gelang. Gerade in solchen Vergleichen steckt viel Potenzial, um die Charakteristika der Hochmoderne zu analysieren und so das Konzept aus technikhistorischer Perspektive auf den Prüfstand zu stellen.

Was den Band auszeichnet, ist genau dies, nämlich die bisherige Debatte zur Hochmoderne um die Bedeutung technisch basierter Zukunftsvorstellungen erweitert zu haben. Dies ist von hoher Relevanz, denn es handelt sich zweifellos um eine technische (Hoch-)Moderne, ein Aspekt, der in den geschichtswissenschaftlichen Debatten mehr Beachtung verdienen würde. Gleichwohl bleibt nach der Lektüre die entscheidende Frage offen, nämlich, was nun die Visionen der Hochmoderne im Unterschied zu Utopien, zu Wunschträumen oder auch den Tarnkappen, Blätterkleidern und fliegenden Teppichen im Märchen auszeichnet.

Anmerkungen:
1 Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Bd. 1, 5. Aufl., Frankfurt am Main 1978 (1. Aufl. 1959), S. 24.
2 Ebd., Bd. 2, S. 732.
3 Uwe Fraunholz / Sebastian Beese, Ein Funken Wahrheit. Energievisionen in der technokratischen Hochmoderne. Ausstellungskatalog, Dresden 2011.
4 Brigitte Felderer (Hrsg.), Wunschmaschine Welterfindung. Eine Geschichte der Technikvisionen seit dem 18. Jahrhundert, Wien 1996; Hans-Liudger Dienel / Helmuth Trischler (Hrsg.), Geschichte der Zukunft des Verkehrs. Verkehrskonzepte von der Frühen Neuzeit bis zum 21. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1997; Beate Binder, Elektrifizierung als Vision, Tübingen 1999; vgl. die Rezension von Iris Kronauer, in: H-Soz-u-Kult, 21.08.2000, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=444> (11.06.2014); Museum für Kommunikation (Hrsg.), Wunschwelten. Geschichte und Visionen der Kommunikation, Bern 2000.
5 Dienel / Trischler, Geschichte, S. 16.

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