P. Pientka: Zwangslager für Sinti und Roma in Berlin-Marzahn

Titel
Das Zwangslager für Sinti und Roma in Berlin-Marzahn. Alltag, Verfolgung und Deportation


Autor(en)
Pientka, Patricia
Erschienen
Berlin 2013: Metropol Verlag
Anzahl Seiten
239 S.
Preis
€ 19,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Tobias von Borcke, Humboldt-Universität zu Berlin

Die bisherigen Arbeiten über die Geschichte des Zwangslagers Berlin-Marzahn, in dem zwischen 1936 und 1945 insgesamt mindestens 1000 als „Zigeuner“ kategorisierte Männer, Frauen und Kinder inhaftiert waren, trugen deutliche Spuren der Auseinandersetzungen um die gesellschaftliche Anerkennung der NS-Verbrechen gegen Roma und Sinti und um ein würdiges Gedenken.1 Auch der nun vorliegenden Studie der Berliner Historikerin Patricia Pientka geht es um mehr als akademische Wissensproduktion zum Selbstzweck, so spricht sie sich etwa für eine Erneuerung der Erinnerungskultur an das Lager Marzahn aus. Der größere zeitliche Abstand zu den Ereignissen und die Tatsache, dass es wohl zumindest in Fachkreisen nicht mehr nötig sein dürfte, über den Unrechtscharakter und die rassistische Qualität der Verfolgung von Sinti und Roma in der NS-Zeit ernstlich zu streiten, mögen allerdings dazu beigetragen haben, dass nun eine so umfangreiche, differenzierte und gründliche Arbeit über die Vorgänge und das Leben im Marzahner Lager entstanden ist.

Der theoretische Rahmen, in den die Ausführungen über die Geschichte des Lagers gestellt werden, ist unter anderem angelehnt an Überlegungen des Soziologen Wulf D. Hund. So begreift Pientka das Lager Marzahn als einen Aspekt der Praxis „negativer Vergesellschaftung“ im Nationalsozialismus sowie als „Instrument zur Herstellung von Ungleichheit“ (S. 93). Hierzu stellt sie fest: „Im Verfolgungsinstrument Zwangslager manifestierte sich der Ausschluss aus der Volksgemeinschaft, hier wurde Exklusionsgewalt routiniert und radikalisiert“ (ebd.).

Die Auswertung der überlieferten Quellen führt Pientka bezüglich einiger Aspekte der Geschichte des Lagers dabei zu Einschätzungen, die von früheren Arbeiten abweichen bzw. über diese hinausgehen. So war es bisher beispielsweise üblich, die Entstehung des Lagers in erster Linie als Resultat lokaler Bestrebungen zu sehen, die damit der Verfolgung auf Reichsebene in gewisser Hinsicht vorgriffen, ähnlich, wie es sich beispielsweise in den Städten Köln und Frankfurt am Main abgespielt hat, in denen ab 1935 bzw. 1936 Zwangslager für Roma und Sinti existierten.2 Für Berlin stellt Pientka nun fest, dass lokale Akteure – in diesem Fall war neben dem Hauptwohlfahrtsamt und den Polizeibehörden offenbar auch die Gauleitung der NSDAP beteiligt – zwar schon im Sommer 1934 eine „Zusammenfassung der Zigeuner“ anstrebten, ihre Pläne jedoch nicht eigenmächtig, sondern erst nach der ausdrücklichen Autorisierung durch Wilhelm Frick als Innenminister des Reichs und Preußens umsetzten (S. 38).

Neue Erkenntnisse bietet die Studie auch hinsichtlich der Institutionen der Verfolgung. Neben einer unter anderem auf Akten aus dem Landesarchiv Berlin basierenden Darstellung der „Reichszentrale zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens“ im Reichskriminalpolizeiamt ist dabei besonders die Rekonstruktion der Strukturen der „Dienststelle für Zigeunerfragen“ bei der Berliner Kriminalpolizei zu erwähnen. Anhand eines vom Leiter dieser Stelle, Leo Karsten, 1958 verfassten stark verharmlosenden Manuskripts, das Pientka gewissermaßen gegen den Strich liest, entsteht ein genaueres Bild der polizeilichen Praxis von Erfassung, Kontrolle und Verfolgung. Unter anderem wird deutlich, dass die Dienststelle bei ihrer Tätigkeit mit der Unterstützung weiterer Polizeibehörden rechnen konnte; so wurde etwa die Registrierung der im Lager Marzahn Inhaftierten durch das 257. Revier der Kriminalpolizei in Berlin-Friedrichsfelde besorgt (S. 108f.). Über die Mitarbeiter der Dienststelle war bisher, abgesehen von Leo Karsten, kaum etwas bekannt. Pientka nennt vier weitere Personen, deren Namen sie in den überlieferten Beständen der Dienststelle und in Nachkriegsakten der Staatsanwaltschaft beim Berliner Kammergericht ausfindig machen konnte. Zumindest die Namen und einige Details zu den Biografien dieser Täter bekannt zu machen, ist ein Verdienst des Buches und weist über den Kontext der Geschichte des Lagers Marzahn hinaus auf die Verfolgung von Roma und Sinti in der Reichshauptstadt Berlin insgesamt.

Die eigentliche Stärke des Buches liegt allerdings in der gelungenen Verschränkung einer tiefgehenden Analyse von teils bekannten und teils neuen Quellen mit der Perspektive der von Inhaftierung und Gewalt Betroffenen; zu Recht beruft sich die Autorin diesbezüglich auf Saul Friedländers Konzept einer „integrierten Geschichte“ (S. 17). Neben einer differenzierten Analyse der unterschiedlichen Formen von Gewalt, die im Zwangslager gegen die dort Inhaftierten ausgeübt wurden, gelingt es ihr, die von diesen Zwangsmaßnahmen Betroffenen nicht als bloße Opfer darzustellen, sondern als Individuen, die im Rahmen des für sie Möglichen widerständige Strategien gesucht und teils auch gefunden haben. Beispielsweise haben im Zwangslager inhaftierte Jugendliche ihre gesellschaftliche Ausgrenzung mit Besuchen in Gaststätten oder Kinos unterlaufen (S. 92). Nicht allen war es freilich möglich, sich dem Verfolgungsapparat zu widersetzen oder gar zu entziehen. Die von Pientka ermittelten Zahlen sprechen hier eine deutliche Sprache: Von den nachgewiesenen 200 Personen, die in Marzahn inhaftiert waren und später nach Auschwitz-Birkenau deportiert wurden, haben mindestens 155 Auschwitz nicht überlebt. So weit die Akten Auskunft geben, haben lediglich sieben von ihnen das Kriegsende erlebt (S. 172).

Im Kapitel über die Nachgeschichte des Lagers befasst sich Pientka neben dem Umgang mit dem Ort des ehemaligen Lagers auch mit der Frage nach den Entschädigungszahlungen für die Haft im Zwangslager. Anders als vorherige AutorInnen zu diesem Thema ist sie nicht mehr Protagonistin der zähen und langwierigen Auseinandersetzungen um diese Zahlungen, sondern kann eine Art Resümee ziehen. Dass das Lager Marzahn erst 2001 auf Bundesebene als ein „entschädigungswürdiger“ Haftort anerkannt wurde, ist beschämend. Für zahlreiche Überlebende dürften solche Zahlungen und die damit verbundene moralische Anerkennung des ihnen zugefügten Leids zu spät gekommen sein.

Ähnlich wie der 2012 von Karola Fings und Ulrich Friedrich Opfermann herausgegebene Band zur ‚Zigeuner‘-Verfolgung im Rheinland und in Westfalen3 hilft Pientkas Buch, den Blick auf die lokalen und regionalen Dynamiken von Ausgrenzung, Entrechtung und schließlich genozidaler Gewalt gegenüber Roma und Sinti zu schärfen. In diesem Sinne kann die vorliegende Arbeit als vorbildlich gelten für weitere, dringend erforderliche Forschungen zur Geschichte des Völkermordes. Sie kann darüber hinaus – die Bedeutung dieses Punktes betont Pientka eigens (S. 214f.) – zu einer Erinnerungskultur beitragen, die wissenschaftlich fundiert ist und auf dieser Grundlage die individuellen Lebensgeschichten der Menschen erzählt, die im Zwangslager Marzahn inhaftiert waren.

Anmerkungen:
1 Reimar Gilsenbach, Marzahn – Hitlers erstes Lager für Fremdrassige. Ein vergessenes Kapitel der Naziverbrechen, in: Pogrom. Zeitschrift für bedrohte Völker H. 17 / 122 (1986), S. 15–17; Wolfgang Wippermann / Ute Brucker-Boroujerdi, Nationalsozialistische Zwangslager in Berlin III. Das „Zigeunerlager“ Marzahn, in: Wolfgang Ribbe (Hrsg.), Berlin-Forschungen II., Berlin 1987, S. 189–201.
2 Vgl. hierzu Karola Fings, Nationalsozialistische Zwangslager für Sinti und Roma, in: Wolfgang Benz/ Barbara Distel (Hrsg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Band 9, München 2009, S. 192–217.
3 Karola Fings / Ulrich Friedrich Opfermann (Hrsg.), Zigeunerverfolgung im Rheinland und in Westfalen 1933–1945. Geschichte, Aufarbeitung und Erinnerung, Paderborn 2012.

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