S. Norris: Blockbuster History in the New Russia

Titel
Blockbuster History in the New Russia. Movies, Memory, and Patriotism


Autor(en)
Norris, Stephen
Erschienen
Anzahl Seiten
336 S.
Preis
$ 35.00 / € 69,48
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Lars Karl, Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas, Universität Leipzig

Russland hat seinen Blockbuster zum 70. Jahrestag der Schlacht von Stalingrad und die Kulturmanager des Kreml sind begeistert – in der Tat passt der Film des Regisseurs Fedor Bondartschuk perfekt in die offizielle Linie. Zum einen entspricht er den Vorstellungen von populärem patriotischem Kino, zum anderen liegt er auf der Linie, wie Geschichte dargestellt werden soll. Der Film verbindet das traditionelle Pathos sowjetischer Heldenverehrung mit neuen Technologien und teuren Spezialeffekten – der erste russische IMAX-3D-Film. Die Produktionskosten von rund 22 Millionen Euro wurden vom Staat sowie der halbstaatlichen russischen Bank WTB mitgetragen. Fast unvermeidlich, dass das monumentale Schlachtenepos in 2014 als offizieller russischer Beitrag für die Verleihung des Oscars in der Kategorie „Bester ausländischer Film“ ins Rennen geschickt wurde. Nicht allein die Oskar-Nominierung allerdings verbindet das Werk Bondartschuks mit Nordamerika – die Arbeiten an „Stalingrad“ fanden über weite Strecken in Los Angeles statt. Jenseits der offiziellen Linie fielen die Reaktionen des russischen Publikums indes oft vielfältiger und -schichtiger aus, Filmkritiker sahen in dem kommerziell-patriotischen Stalingrad-Streifen bereits seine Mängel – von „grotesk“ über „platte Dialoge“ bis zu „höllischer Schwachsinn“ reichten die Werturteile.1

Die Bezeichnung blockbuster umreißt ein kulturelles Phänomen, das seit rund 15 Jahren auch für das post-sowjetische Kino der Russländischen Föderation symptomatisch ist und dem Stephen Norris nun erstmals eine umfassende Untersuchung gewidmet hat. Die Janusköpfigkeit des mittlerweile auch in die russische Sprache eingegangen Anglizismus ist offenkundig: Einerseits um die Übernahme westlicher, das heißt explizit US-amerikanischer Modelle in Form und Vertrieb bemüht, hegen viele der herangezogenen Publikumsmagneten doch gerade den Anspruch, eine einzigartige, „authentische“ Sicht auf die eigene Geschichte zu vermitteln. Bereits in der Einleitung kommt Norris – nach einigen skizzenhaften Ausführungen zu Amerikanisierung und theoretischem Rahmen der Arbeit – zu dem Schluss, dass sich die „patriotische Kultur“, welche Russlands Leinwände dominiere, aus anderen Quellen speise als der des Staates im Allgemeinen und Präsident Wladimir Putin im Besonderen. Die detaillierte Analyse repräsentativer, historien-bezogener Schlüsselfilme aus den vergangenen zehn Jahren soll diese These im weiteren Verlauf der Untersuchung belegen. Die generelle Theorieabstinenz der Arbeit lässt allerdings bereits an dieser Stelle einen grundsätzlichen Konstruktionsfehler erahnen: Geht es dem Autor primär um staatlich bzw. staatsnah geförderte oder um unabhängigere Filmprojekte? Geht es ihm um die in den Filmen entworfenen Geschichtsbilder oder um die kritische Auseinandersetzung durch gesellschaftliche Akteure mit ihnen?

Im ersten, der cineastischen Darstellung vergangener imperialer Größe gewidmeten Kapitel sind konsequenterweise jene Highlights zu finden, die bestens dazu geeignet sind, beim Zuschauer nostalgische Gefühle für das vorrevolutionäre Russland zu wecken: Nikita Michalkows „Der Barbier von Sibirien“ (Sibirskij zirjulnik; F/RF/I/CR 1998), Karen Schachnasarows „Der Reiter namens Tod“ (Wsadik po imeni smert, RF 2004), die Filmfassungen der äußerst populären „Fandorin“-Kriminalromane Boris Akunins, insbesondere „Türkisches Gambit“ (Turezkij gambit, RF 2005; R.: Dshanik Fajsiew; vollständiger deutscher Verleihtitel: „Türkisches Gambit: 1877 – Die Schlacht am Bosporus“) und die Fernsehserie „Doktor Schiwago“ (RF 2006; R.: Alexandr Proschkin). Norris liest die Filmwerke dabei im zeitgenössischen politischen und (populär)kulturellen Kontext ihrer Entstehung – den „Barbier“ als einen Appell für eine stärkere Präsidentschaft, den „Reiter“ als aktuellen Reflex auf terroristische Bedrohungen, „Türkisches Gambit“ als Reflexion über Russlands vergangene Größe und schließlich „Schiwago“ als russische Antwort auf das epische Vorbild US-amerikanischer Provenienz (Doctor Zhivago, USA 1965; R.: David Lean), versehen mit einer sorgfältigen Analyse von Musik und Drehbuch.

Der zweite Teil der Untersuchung ist den nach wie vor ebenso stabilen wie publikumsträchtigen Mythen über den Großen Vaterländischen Krieg gewidmet, von der 11-teiligen Fernsehserie „Strafbat“ (RF 2004; R.: Nikolaj Dostal), in welcher russisch-nationale Werte deutlich über die Sowjetideologie gehoben werden, bis zu „Bastarde“ (Swolotschi, RF 2006; R.: Alexandr Atanesjan) mit einer nicht minder patriotischen Erzählung von der „Rehabilitierung“ jugendlicher Straftäter unter Kriegsbedingungen. Hier tangiert Norris in seiner Analyse mehrmals einen erwähnenswerten Aspekt: Die geradezu obsessive Tendenz der russischen Filmpublizistik, permanent die „Wahrhaftigkeit“ dessen, was auf der Leinwand zu sehen ist, erörtern zu müssen – verbunden mit dem damit einhergehenden Abgleich mit historischen „Fakten“. Auch vor den jüngeren Kriegen in der russisch/sowjetischen Vergangenheit macht dieses Wahrnehmungsparadigma nicht halt, wie Norris anhand von Fjodor Bondartschuks Afghanistanepos „Die Neunte Kompanie“ (9 rota, RF/FIN/UKR 2005) schlüssig zu belegen vermag.

Im dritten Teil begibt sich der Autor auf die Suche nach der filmischen Nostalgie für die Breshnev-Ära – Pawel Lungins „Ostrow – The Island“ (Ostrow, RF 2006) schlägt die Brücke zwischen russischer Orthodoxie und Patriotismus, während Alexej Balabanows „Cargo 200“ (Grus 200, RF 2007) ein tragisches Bild der spätsowjetischen Gesellschaft vor dem Hintergrund des Afghanistan-Krieges entwirft. Bei den hier untersuchten Beispielen scheint das Gesamtkonzept des Buches zumindest in der Hinsicht in Frage gestellt, dass keiner der beiden Filme in dem vom Autor angeführten Sinne als (kommerzieller) blockbuster gelten kann.

Dem rein fiktionalen Umgang mit der vaterländischen Geschichte widmet sich ein Kapitel über den Animationsfilm „Prinz Wladimir“ (Knjaz Wladimir, RF 2006; R.: Jurij Kulakow), sowie – am Beispiel von Nikolaj Lebedews „The Wolfhound“ (Wolkodaw is roda Serych Psow, RF 2006; R.: Nikolaj Lebendew) – dem aktuellen Revival des Fantasy-Genres im russischen Kino. Hier ist vor allem die kenntnisreiche Bestandsaufnahme der entsprechenden Produktionsstrukturen erwähnenswert – über die staatliche Unterstützung patriotischer Projekte gibt eine kontextbezogene Analyse von Wladimir Chotinenkos 2 1/2-stündigem Historienepos „1612 – Angriff der Kreuzritter“ (1612: Chroniki smutnowo wremeni, RF 2007) Auskunft. Die Auseinandersetzung mit der Rolle des Produzenten und Fernsehdirektors Konstantin Ernst im gegenwärtigen russischen Kulturbetrieb bildet schließlich den Hintergrund für eine Diskussion der unter seiner Ägide entstandenen Fantasy-Actionfilme Timur Bechmambetows „Wächter der Nacht – Nochnoi Dozor“ (Notschnoj dosor, RF 2004) und „Wächer des Tages – Dnevnoi Dozor“ (Dnewnoj dosor, RF 2006). Auch die vom selben Regisseur produzierte und an den gleichnamigen Klassiker von Eldar Rjasanow angelehnte Liebeskomödie „Ironie des Schicksals: Fortsetzung“ (Ironija sudby: Prodolshenije, RF 2007) findet an dieser Stelle Erwähnung. Innovativ scheint hier vor allem die Einbeziehung von Internet-Debatten aus einschlägigen Online-Foren, die nach Norris’ Einschätzung dem Zuschauer die Möglichkeit geben, über den durch das jeweilige Filmprodukt eröffneten fiktional-nostalgischen Zugang Geschichte gewissermaßen „neu zu schreiben“.

Auch wenn das eingangs skizzierte Konzept des blockbusters anhand der Filmauswahl nicht durchgängig umgesetzt werden kann, offenbart die vorliegende Studie doch mitunter bemerkenswerte Einblicke in das komplexe Verhältnis zwischen Produzenten, Regisseuren und Zuschauern im heutigen Russland. Um diesem Anspruch vollends gerecht zu werden, wäre der gesamten Darstellung jedoch eine stringentere Konzentration auf jene Aspekte zugute gekommen, wie sie so nur im abschließenden, vierten Kapitel zum Tragen kommen. Hier gibt die Beleuchtung der oft vielschichtigen Produktionsgeschichte samt der daran hängenden Publikumsdebatten Antworten auf Fragen, die in den vorangegangenen Untersuchungsabschnitten meist gar nicht erst gestellt werden.

Gleichwohl die Produktionsgeschichte nicht im Vordergrund der Untersuchung stehen möchte, scheint der Umgang mit dahingehenden Basisinformationen mitunter etwas nachlässig – so war etwa die mit der Umsetzung von Nikita Michalkows filmischem Kammerspiel „Die Sonne, die uns täuscht“ (Utomlennye solnzem, RF/Frankreich 1994) beauftragte französische Produktionsfirma nicht „Channel One“ (S. 29), sondern Camera One. Der Musicalfilm „Hipsters“ (Stiljagi, RF 2008; R.: Walerij Todorowskij) wurde mal von Sojus (S. 309), dann (richtig!) von Rossija (S. 310) produziert – einem Fernsehsender, dem an anderer Stelle (S. 175) irrtümlich eine Koproduzentenrolle bei Pawel Lungins „Ostrow – The Island“ eingeräumt wird. Zudem sind die mehrmals erwähnten Unternehmen Nasche kino und Karo keine Produktions-, sondern Vertriebsfirmen.

Ungeachtet dieser in der Gesamtschau sicherlich verzeihlichen Mängel bietet Norris eine kompakte und gut lesbare Bestandsaufnahme des Versuchs, mit filmischen Mitteln die Geschichte eines Landes zu konstruierten, auf das – frei nach den Worten Nikita Michalkows – der russische Zuschauer stolz sein kann. Die kritische Auseinandersetzung innerhalb eines Publikums, das längst gelernt hat, über einschlägige Blogs im Internet zu kommunizieren, setzt hier einen nicht überhörbaren Kontrapunkt in einer Montage, welche dem Zuschauer die Handlung nicht selten in allzu beschaulichen Bildern präsentieren möchte.

Anmerkung:
1 Vgl. Julia Smirnova, Im Kino wird Stalingrad zu höllischem Schwachsinn, <http://www.welt.de/geschichte/article120608479/Im-Kino-wird-Stalingrad-zu-hoellischem-Schwachsinn.html> (11.06.2014); Kirill Schamsutdinow, Stalingrads Schützengräben in 3D, <http://de.rbth.com/lifestyle/2013/09/27/stalingrads_schuetzengraeben_in_3d_26107.html> (11.06.2014); zur Rezeption des Films in der internationalen Presse siehe <http://www.filmstarts.de/kritiken/201400/pressespiegel/> (11.06.2014).

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