D. Güven: Nationalismus und Minderheiten

Titel
Nationalismus und Minderheiten. Die Ausschreitungen gegen die Christen und Juden der Türkei vom September 1955


Autor(en)
Güven, Dilek
Reihe
Südosteuropäische Arbeiten 143
Erschienen
München 2012: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
198 S.
Preis
€ 29,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Malte Fuhrmann, Türkisch-Deutsche Universität, Istanbul

Die Ausschreitungen vom 6. und 7. September 1955 (Eylül olayları/Septemvriana) in der Türkei gelten als der Wendepunkt auf dem Weg zur endgültigen Vertreibung der Griechen aus Istanbul und dem Rest des Landes. Während die Kolonialmacht Großbritannien mit Griechenland und der Türkei als Fürsprecher der dortigen Bevölkerungsgruppen über den zukünftigen Status von Zypern in London verhandelte, wurde bekannt, dass auf das Geburtshaus Mustafa Kemal Atatürks, das türkische Generalkonsulat in Thessaloniki, angeblich ein Attentat verübt worden sei. Daraufhin kam es in Istanbul und vereinzelt auch in anderen türkischen Städten zu Unruhen, in deren Verlauf zwischen 11 und 15 Menschen umgebracht und über 10.000 Wohnungen, Geschäfte und Institutionen verwüstet wurden.

Mit dem Buch Dilek Güvens, Forscherin am Zentrum für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin, liegt nun auf Deutsch eine eingehende historische Auseinandersetzung mit der Septemvriana vor. Trotz der politisch heiklen Thematik ist es der Autorin gelungen, einschlägige Quellen zu lokalisieren. Zwar waren keine relevanten türkischen oder griechischen Regierungsakten zugänglich; dies kompensierte Güven jedoch durch Quellen anderer Provenienz: Die konsularischen Beobachtungen von vier Drittstaaten, Interviews mit Opfern und Tätern sowie gerichtliche Unterlagen aus dem Yassıada-Prozess und dem Fahri Çoker-Dossier. Auf der Insel Yassıada rechneten 1960 die neuen Machthaber mit der Regierung Menderes ab, die zuvor in einem Putsch abgesetzt worden war. Dabei wurden der ehemalige Premierminister Adnan Menderes und seine Mitarbeiter auch für die Septemvriana zur Rechenschaft gezogen. Ein noch interessanterer Quellenfundus stellt das Dossier des Richters Fahri Çoker dar, der sich bereits 1956 beim Prozess gegen die Teilnehmer der Septemvriana unabhängig um Aufklärung der Hintergründe bemühte und hierzu Beweismaterial sammelte.

Güven rekonstruiert zunächst die Ereignisse des 6. und 7. Septembers in knapper aber anschaulicher Weise. Sie kommt dabei zum Schluss, dass die Ausschreitungen orchestriert waren: Die sorgfältige Vorbereitung und Koordinierung, der systematische Auftritt von Agitatoren, das meist einheitliche Vorgehen (möglichst umfassender Sachschaden für die Minderheitenangehörigen bei vergleichsweise wenigen Fällen von Plünderung, Vergewaltigung, Körperverletzung und Totschlag) sind hier eindeutig. Alsdann verfolgt das Buch die unmittelbaren staatlichen Reaktionen auf die Ausschreitungen. In der Analyse ergibt sich, dass die geleistete Kompensation eher einer von Regierungsseite initiierten Spendenkampagne unter staatsnahen Institutionen gleichkam, als einer den Opfern mit den Garantien eines Rechtsstaats zustehende Entschädigung. Gleichermaßen diente die Strafverfolgung der Täter, die anfängliche Massenverhaftungen aber nur relativ wenige Verurteilungen zur Folge hatte, eher dem Anschein, dass die Regierung Menderes um Aufklärung bemüht sei.

Die Untersuchung der Monate vor der Septemvriana bestätigt die ausschlaggebende Rolle von staatlichen Akteuren. Mit der Hilfe von Mitarbeitern des Geheimdienstes Milli Emniyet Hizmetleri hatte die Regierung Menderes das Bombenattentat auf das Atatürk-Geburtshaus inszeniert und hierüber in der Nachmittagsausgabe vom 6. September 1955 des Istanbul Ekspres reißerisch berichten lassen. Für die Koordinierung der Ausschreitungen war hingegen vor allem der Verein „Zypern ist türkisch“ (Kıbrıs Türktür Cemiyeti) verantwortlich, der sich auf Initiative Menderes’ konstituiert hatte und sich personell aus konformistischen Gewerkschafts- und Studentenverbänden speiste.

Im weiteren Teil widmet sich das Buch der Kontextualisierung der Septemvriana in synchroner, diachroner und internationaler Perspektive. Die regierende Demokratische Partei war angesichts eines stagnierenden Wachstums und sinkender Popularität zu politischer Repression und schließlich zur Instrumentalisierung der Zypernfrage übergegangen. Bereits im Vorfeld strafversetzte sie Richter und Beamte sowie Hochschullehrer, schränkte deren Möglichkeiten zu politischem Engagement ein oder versetzte sie in den frühzeitigen Ruhestand. Die Ereignisse des Septembers und die mit ihnen verbundene Beschuldigung der Kommunisten gaben dann Anlass zu weiteren Repressionen, insbesondere Verbote, Restriktionen und Einschüchterung gegenüber der Presse und Verhängung des Ausnahmezustandes.

Mit der Hetze und den Übergriffen des Septembers 1955 beendete die Demokratische Partei ihre liberale Minderheitenpolitik, die laut Güven lediglich wahltaktischen und bündnispolitischen Rücksichten geschuldet gewesen war, und schwenkte auf die Homogenisierungslinie ein, die bereits in der Spätphase der Jungtürken (1913-1918) und während der vorangegangenen Einparteienherrschaft der Republikanischen Volkspartei (CHP, 1923-1950) maßgebend gewesen war. Unter der CHP waren die Durchsetzung des Türkischen als einziger legitimer Sprache im öffentlichen Raum ebenso Programm, wie die Etablierung einer muslimischstämmigen Bourgeoisie in der Wirtschaft und die demografische Dominanz der muslimischstämmigen und türkischsprachigen Bevölkerungsgruppe durch eine autoritäre Siedlungspolitik. In diesem Rahmen wurden bedeutende Teile der kurdischsprachigen Bevölkerung zwangsumgesiedelt, die Armenier Anatoliens in Istanbul konzentriert sowie die Juden Thrakiens 1934 mit Hilfe eines Mobs vertrieben. Die Parallelen zu Thrakien 1934 und die Tatsache, dass 1955 nicht nur Griechen, sondern auch Juden und Armenier Opfer der Übergriffe wurden, beweisen laut Güven, dass die Septemvriana nicht so sehr durch den sich anbahnenden Zypernkonflikt, sondern vielmehr im Rahmen des Projekts einer ethnisch türkischen Wirtschaftsbourgeoisie verstanden werden muss. Allerdings räumt die Autorin ein, dass die britischen Archive auch Hinweise darauf enthalten, dass Großbritannien antigriechische Unruhen in der Türkei herbeisehnte und möglicherweise an ihrem Entstehen mitwirkte, um die griechische Position in den Verhandlungen um die Zukunft Zyperns zu schwächen und die britische Herrschaft über die Insel durch eine konstruierte Rolle als imperialer Schlichter ethnischer Spannungen zu legitimieren.

Da das vorliegende Buch bereits 2005/2006 zum 50-jährigen Jubiläum der Ereignisse in türkischer und griechischer Übersetzung erschienen war (ausgehend von Güvens zeitgleicher Dissertation bei Fikret Adanır in Bochum), kann die Autorin bereits eine vorläufige Bilanz seines bisherigen Wirkens ziehen. Trotz Drohungen und Übergriffen von türkischen Nationalisten zieht Dilek Güven eine positive Bilanz: Viele Türken hätten sich anlässlich der Veröffentlichung oder der begleitenden Ausstellung zur kollektiven Verantwortung für die Ereignisse bekannt und sich öffentlich entschuldigt. Mehrere Griechen hätten hingegen begrüßt, dass die Untersuchung anstatt pauschaler Verurteilungen klar Akteure, Motive und Kontext der Verbrechen benennt. Das Buch steht in der Tradition vorbehaltloser, engagierter, quellenversierter und multilingualer Forschungen zur südosteuropäischen Zeitgeschichte, die sich in den letzten Jahren erheblich weiterentwickelt hat.

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