Titel
Karl Marx. Sein Leben und sein Jahrhundert


Autor(en)
Sperber, Jonathan
Erschienen
München 2013: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
634 S.
Preis
€ 29,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Karl Christian Führer, Historisches Seminar, Universität Hamburg

Biografen beginnen ihre Darstellung in der Regel mit einer Beweisführung (oder wenigstens doch mit der Versicherung), wie wichtig die darzustellende Person auch noch in der Gegenwart sei. Der amerikanische Historiker Jonathan Sperber wählt am Anfang seiner Lebensdarstellung von Karl Marx einen anderen Einstieg: Er will Marx ausdrücklich als Mann des 19. Jahrhunderts zeigen, als „eine Gestalt der Vergangenheit“ (S. 14), ja als „rückwärtsgewandten Menschen“, der in seinen Schriften Zustände und Erkenntnisse aus dem späten 18. und dem frühen 19. Jahrhunderts in die Zukunft projizierte (S. 9). Diese Sichtweise wird in der amerikanischen Originalausgabe mit dem Untertitel „A Nineteenth-Century Life“ weitaus prägnanter auf den Punkt gebracht als in der deutschen Übersetzung, in der die herkömmliche biografische Trias von ‚Leben, Werk und Wirkung‘ doch deutlich anklingt. Auf die naheliegende Frage, warum der ganz zur Vergangenheit gehörende Marx dennoch so interessant ist, dass wir uns aufmachen sollen, fast 600 Seiten über sein Leben zu lesen, antwortet Sperber mit einem Versprechen: Das 19. Jahrhundert sei ein „faszinierender und bedeutender Zeitabschnitt“, der gerade durch seine Andersartigkeit helfe, die Gegenwart besser zu verstehen. Zudem gäbe es in dieser fernen Zeit keinen Mangel an „guten Geschichten“ (S. 14f.).

Die Darstellung gliedert sich in drei jeweils fast gleich lange Abschnitte. „Die Prägung“ behandelt den Zeitraum von der Geburt bis ins Jahr 1847, als der damals knapp dreißigjährige Marx im belgischen Exil bereits darauf hoffte, dass die überhaupt erst noch zu schaffende bürgerlich-kapitalistische Gesellschaftsordnung in einer zweiten Revolution alsbald von den Arbeitern durch eine ganz neue kommunistische Ordnung beseitigt werden würde. „Der Kampf“ beschäftigt sich mit den Jahren bis 1869, in denen sich (im Widerspruch zu der Überschrift) sehr unterschiedliche Etappen im Leben von Marx ausmachen lassen: Auf die revolutionäre Phase um 1848, in der Marx mit durchaus breitem Echo als „Zeitungsmacher in revolutionärer Mission“ (S. 225) agierte, folgte das erneute Exil, das eine „Abfolge von Niederlagen“ (S. 245) mit sich brachte. Von 1852 bis 1859 zog sich der gescheiterte und politisch isolierte Revolutionär ganz auf die Rolle als journalistischer Kommentator der Zeitläufte zurück; erst nach 1860 arbeitete er erneut – etwa durch Kontakte mit Ferdinand Lasalle oder durch die Mitarbeit an der 1864 gegründeten „Internationalen Arbeiterassoziation“ – direkt politisch. Der Abschnitt „Das Vermächtnis“ schließlich skizziert die von Krankheiten geprägten letzten Lebensjahre von Marx, die vornehmlich dem Versuch gewidmet waren, die eigenen philosophischen Konzepte und die theoretischen Überlegungen zum Wesen des Kapitalismus systematisch auszuarbeiten.

Die durchweg sehr distanzierte Darstellung korrigiert etliche biografische Legenden, die sich in der umfangreichen hagiografischen Literatur zu Marx hartnäckig perpetuiert haben. So war seine Frau, die adelige Jenny von Westphalen, nicht die „Prinzessin“, als die sie in einigen älteren Darstellungen erschien. Sie gehörte vielmehr zum sogenannten „Dienstadel“, auf den der ‚echte‘, alteingesessene Adel herabschaute, und wegen einer fehlenden Mitgift konnte sie noch nicht einmal als gute Partie gelten. Sperber zeigt zudem, dass in dem langjährigen erbitterten Streit, den Marx mit seiner Mutter um das väterliche Erbe austrug, Recht und Gerechtigkeit bei der Witwe lagen. Marxens Freundschaft mit Friedrich Engels entstand keineswegs so rasch und spontan, wie es das traditionelle Bild von den revolutionären Dioskuren suggeriert. Auch der politische Kurs, den Marx steuerte (etwa in der wichtigen Frage, wie sich der Kommunist gegenüber bürgerlichen Demokraten zu verhalten habe), erscheint bei Sperber als windungsreich und widersprüchlich.

Die weniger sympathischen Züge im Charakter von Marx werden offen benannt: seine Unfähigkeit zu offener Selbstkritik, wenn er sich – was oft genug geschah – in neuen Texten von eigenen älteren Positionen distanzierte, der Hang zu Verschwörungstheorien auch absurder Art, sowie die Freude an beißender Polemik selbst (oder auch gerade) gegenüber Autoren, die solche Mühe kaum lohnten. Erklärungen für diese „Streitsucht“ (S. 186), mit der Marx seiner Sache zumal im Exil immer wieder schadete, fehlen, denn Sperber verzichtet fast vollständig auf psychologische Spekulationen. Nüchtern vermerkt der Autor die üblen antisemitischen Schmähungen, mit denen Marx und Engels in ihren Privatbriefen über Lasalle herzogen, und er weist kühl darauf hin, dass der selbsternannte Befreier der Arbeiter, der seit 1869 fortlaufend von Friedrich Engels finanziell unterstützt wurde, damit auf Kosten der Textilarbeiter in Manchester lebte, denen Engels seinen Wohlstand verdankte.

Vor allem in den ersten beiden Abschnitten alterniert die chronologisch vorgehende Lebensbeschreibung mit Zusammenfassungen und Interpretationen der im jeweiligen Zeitraum entstandenen wichtigsten Werke von Marx. Im dritten Teil drängt die Beschäftigung mit dem Werk die Biografie dann stärker in den Hintergrund; hier thematisiert der Autor zumindest gelegentlich auch die weitere Geschichte der kommunistischen Bewegung. In seinen Deutungen der Schriften hebt Sperber stark das Erbe von Hegel hervor: Dessen teleologisches Geschichtsbild habe Marx mit politischen und ökonomischen Begriffen fortgeschrieben, ohne dass es damit seinen idealistischem Charakter verlor. Auch „Das Kapital“ erscheint so als eine „Lesart des Hegelschen Erbes“ (S. 394). Wiederholt betont Sperber auch, wie stark Marx die Französische Revolution von 1789 bis 1793 als „Leitbild und Muster“ der kommenden kommunistischen Revolution verstand. Gerade hierin sieht er einen Beleg dafür, wie „rückwärtsgewandt“ Marx dachte (S. 564).

Als die erste umfangreiche wissenschaftliche Biografie von Marx, die sich nicht mehr in der Welt des Kalten Krieges verorten muss, hat Sperbers detailreiche und entschieden entmythologisierende Darstellung ohne Frage große Verdienste. Zwar ließe sich über viele seiner Werkdeutungen trefflich streiten. So mag man sich etwa fragen, ob die Formulierung von Marxens angeblich antiquierten Revolutionsideen nicht den Unterschied zwischen politischem Schema und sozialer Bedeutung ignoriert. Leider ist das Buch für Leser, die sich vor allem für die Entwicklung von Marx als Philosoph und Theoretiker interessieren, kaum gezielt benutzbar, denn die Überschriften der einzelnen Kapitel sind durchweg wenig aussagekräftig und geben auch keine Hinweise für eine zeitliche Einordnung. Ein Sach- sowie ein Werkregister hätten hier Abhilfe leisten können – beides fehlt jedoch.

Unabhängig davon sehe ich das entscheidende Manko von Sperbers Darstellung in einer gravierenden Lücke. „A Nineteenth-Century Life“ – das bietet Sperber ohne Frage, d.h. er erzählt von dem sehr speziellen Leben eines Bürgersohns, der sich politisch denkbar weit von seiner eigenen Klasse entfernte, und in seiner Lebensführung, trotz zeitweise drängender finanzieller Nöte, letztlich doch immer ein bürgerlicher Intellektueller blieb.

Das 19. Jahrhundert, auf das Marx in seinen Schriften reagierte, fehlt in Sperbers Buch hingegen weitgehend. Die Industrielle Revolution mit ihren sozialen Konsequenzen wird überhaupt nur einmal auf einer halben Seite am Beispiel von Manchester für die 1840er-Jahre thematisiert (S. 148f.). Daher vermittelt das Buch kaum eine Ahnung davon, wie stark sich der Kapitalismus der 1830er- und 1840er-Jahre von dem Entwicklungsstand um 1880 unterschied. Die umfassende Unsicherheit und die Perspektivlosigkeit der Arbeiter in den Zentren der Industrie, die oft genug massiv gesundheitsschädigenden Arbeitsbedingungen in den Fabriken, die politische Entrechtung der besitzlosen Schichten, die Klassenjustiz – all dies findet bei Sperber keine angemessene Darstellung. Die weder erläuterte noch belegte Bemerkung in der Einleitung, Ausmaß und Bedeutung der Industriellen Revolution würden „überschätzt“ (S. 10), soll wohl diese Lücke rechtfertigen. Gerade in einem Buch, das für das ‚allgemeine Publikum‘ gedacht ist, dürfte man in einem thematisch so bedeutsamen Punkt eine ausführliche Argumentation erwarten.

Letztlich ignoriert Sperber mit seiner Konzentration auf den bürgerlichen Denker Marx und seine Welt den moralischen, auf soziale Gerechtigkeit zielenden Impuls hinter der kommunistischen Bewegung wie auch hinter der gesamten Arbeiterbewegung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Die starke Betonung des Hegelschen Erbes macht Marx dann vollends zum rebel without a cause. Einen Revisionismus dieser Art hat die ehemalige Ikone der Weltrevolution jedoch selbst dann nicht verdient, wenn man meint, sie sei in der Abstellkammer der Geschichte gut aufgehoben.