G. Marinelli-König: Die böhmischen Länder in den Wiener Zeitschriften

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Titel
Die böhmischen Länder in den Wiener Zeitschriften und Almanachen des Vormärz (1805–1848). Tschechische nationale Wiedergeburt – Kultur- und Landeskunde von Böhmen, Mähren und Schlesien – Kulturelle Beziehungen zu Wien. Teil II: Sprachwissenschaften – Philosophie, Ästhetik, Rhetorik – Geschichte – Bildungsinstitutionen


Autor(en)
Marinelli-König, Gertraud
Reihe
Österreichische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse, Sitzungsberichte 836 / Veröffentlichungen zur Literaturwissenschaft des Instituts für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte 29
Anzahl Seiten
LV, 706 S.
Preis
€ 99,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Václav Petrbok, Ústav pro českou literaturu AV ČR v.v.i.

In den letzten 25 Jahren ist es bei der neu entdeckten und aktualisierten Problematik des deutsch-tschechischen Kulturtransfers, einschließlich der Analyse der wechselseitigen Literaturbeziehungen, üblich geworden, sich einer ungewöhnlich großen Menge an methodischen Instrumenten zu bedienen. Abgesehen von den „traditionellen“ Methoden der literarischen Komparatistik (u.a. der poetologischen und rhetorischen Analyse, der Stoff- und Motivgeschichte in vergleichender Perspektive) sowie der Hermeneutik und Rezeptionsästhetik, werden auch in Tschechien immer öfter die Zugänge des New Historicism (einschl. der postkolonialen Theorien), der Semiotik und der spezifischen „cultural Turns“ (vor allem Spatial, Iconic und Translational turn) angewandt. Von der philologischen Arbeit, der lexikologischen, der biographischen und bibliographischen Forschung und der darauffolgenden kritischen Analyse wird jedoch immer mehr Abstand genommen. Als Ergebnis werden in solchen Fällen teilweise abenteuerliche Thesen aufgestellt, die noch zusätzlich einen universalen Anspruch erheben. Selbst wenn sich die Untersuchungen auf „kanonische“ Figuren und Werke beziehen, gehen sie oft erstaunlich selektiv mit den zugänglichen Quellen und immer breiterer Forschungsliteratur um. Auch die zu begrüßende Digitalisierung der historischen Zeitungs- und Buchbestände sowie ihre Publikation im Internet1 können die oft unterschätzte bibliographische Arbeit de visu jedoch kaum ersetzen.

Umso mehr soll der zweite Band „der die ‚böhmischen Länder' betreffenden Rezensionen und Bekanntmachungen, die in den Wiener Zeitschriften und Almanachen des Vormärz erschienen waren“ (S. VI) von Gertraud Marinelli-König begrüßt werden. Die insgesamt fünf geplanten Bände der Reihe „Slavica in den Wiener Zeitschriften und Almanachen des Vormärz“ sollen Material zu Literatur und Schrifttum (Bd. 1 erschien 2011), zur Kunst und zu „den übrigen Themenbereichen“ (S. XXI) umfassen. Die vorliegende Publikation beinhaltet vier thematische Kapitel: „Sprachwissenschaften“, „Philosophie–Ästhetik–Rhetorik“, „Geschichte“ und „Bildungsinstitutionen“. Im Vorwort betont Moritz Csáky zu Recht die Bedeutung der exzerpierten Berichte für die Erforschung der „historischen Kommunikationsräume“ sowie deren Grenzen in der „böhmischen kulturellen ,Semiosphäre‘“ (S. X) und vertritt die Meinung, dass „die in diesem Bande versammelten Berichte doch überwiegend ein positives Bild der sprachlich-kulturellen Heterogenität Böhmens zeichnen“ (S. IX). In der Einleitung werden von Marinelli-König die Ausgangslage (Beschreibung des Projektes und die Informationen über die personelle Besetzung der Zeitschriftenredaktionen) und die Methodik (Ansätze zur kulturwissenschaftlichen, komparatistischen und bücherkundlichen Forschung) vorgestellt. Hier wird u. a. der Aspekt der Wahrnehmung der Vorgänge und Prozesse hervorgehoben, „welche mit der Entwicklung der tschechischen Kultur einhergingen, die sich gegen die hegemoniale deutsche Kultur behaupten musste und wollte“ (S. XX). Danach folgen die Beschreibung der Quellenlage und das Verzeichnis der ausgewerteten Zeitschriften sowie schließlich die Ergebnisse, die als „keine Analyse des gesammelten Materials“ zu verstehen sind, sondern als „eine Bestandaufnahme, bzw. Inventarisierung des Materials“ (S. XXXII). Nach den einleitenden Kapiteln folgt eine umfangreiche Bibliographie (S. 1–706), sortiert nach dem alphabetischen Verzeichnis der behandelten Persönlichkeiten, bzw. Ortschaften und den einzelnen Themenbereichen. Bei einigen bibliographischen Angaben sind auch Zitate, bzw. gründliche Annotationen beigefügt. Das Namensregister wird aus verständlichen Gründen zunächst nur als Teil der digitalisierten Version zugänglich sein, was die Orientierung im Buch doch ein bisschen verkompliziert.

Dieses Pionierprojekt ist für die Erforschung des deutsch-tschechischen Kulturtransfers von großer Bedeutung, und zwar umso mehr, als die in diesem Band gesammelten Angaben heute fast unbekannt, bzw. völlig in Vergessenheit geraten sind. Das bis dato von ForscherInnen vernachlässigte Thema des Bildungs- bzw. Schulwesens oder der Sprachsituation (einschl. Codierung der später oft politisch instrumentalisierten Sprachkarten) würde hier anhand mehrerer Belege als ein wichtiger Aspekt der Reflexion des deutsch-tschechischen (intendierten sowie tatsächlichen) Sprachverhaltens sowie ein wichtiges Kapitel der Kulturgeschichte dargestellt. Auch wenn bei den Angaben immer wieder der Faktor der damals strengen Zensurmaßnahmen bedacht werden soll, zeigen zahlreiche Ankündigungen, Rezensionen und Meinungen über die wissenschaftlichen Publikationen in den böhmischen Ländern ihre methodischen und thematischen Zusammenhänge mit der österreichischen, aber auch deutschen (im Sinne der deutschen Kulturnation) Wissenschaftslandschaft. Bei den Informationen über die Ergebnisse der sich neu etablierenden tschechischen Wissenschaft kann dieses schon damals manifeste Spezifikum der neuen (sprach)nationalen Wissenschaft beobachtet werden.

Die oft vernachlässigte und dehistorisierende Rezeption und De-Kontextualisierung der kulturellen, literarischen und wissenschaftlichen Prozesse und einzelner Werke kann, wie bereits angedeutet, zu spekulativen, wenn nicht zu falschen Urteilen führen. An dieser Stelle sollen z.B. Vladimír Macuras Ausführungen zu dem angeblichen Erfindungscharakter der tschechischen Erneuerung aus seinem kanonischen Werk „Znamení zrodu“ (Das Zeichen der Geburt)2 erwähnt werden. Der in der Arbeit von Marinelli-König besprochene Transfer mehrerer (Auto)Stereotypen über die Sprache(n) aus anderen Kulturkontexten (angeblich slavische Herkunft von Lessing oder Leibniz, hier S. 35; Angabe über die Herausgabe (in Prag!) eines „Verdeutschungswörtebuch“, hier S. 67) widerlegt Macuras These gänzlich. Signifikant ist die in der Studie dargestellte frühe Wiener Rezeption des ersten Teils der „Geschichte von Böhmen“ (1836) František Palackýs3, in der die potentiellen (und später auch manifesten) politischen Deutungen (u.a. bei Johann Graf Mailáth, S. 131) formuliert waren. Schade nur, dass die Exzerption in diesem sowie auch in den anderen Bänden der Reihe nicht bis vom Anfang der 1780er-Jahre – mit dem deutlichen Periodisierungspunkt, dem Anfang der Regierung Kaiser Josef II. – durchgeführt wurde.

Für die Attribution einiger Beiträge und die Erstellung des gesamten Registers wäre es wünschenswert, die bereits erarbeiteten Bibliographien einzubeziehen. Die Autorenschaft mehrerer Beiträge, die in diesem Band als anonym geführt werden, lässt sich nämlich genau bestimmen: Beispielsweise sind Texte, die in den „(Neuen) Annalen“ 1802–08 (S. 102, 143, vielleicht auch auf S. 17–18), in der „Wiener allgemeinen Literaturzeitung“ (S. 137) oder in dem „Archiv“ 1825 (S. 50) veröffentlicht worden, Josef Dobrovský zuzurechnen. Josef Vojtěch Sedláček ist Autor des Übersichtsbeitrags über die „böhmische Literatur“ im „Neuen Archiv“ 1830 (S. 9). Das hier rezensierte Buch bietet jedoch in vielen Punkten auch eine Ergänzung der bereits vorhandenen Bibliographien: So werden z.B. die Beiträge über die Wiener Rezeption der Werke des Lexikographen und Philologen Josef Jungmann die tschechische Forschung auf jeden Fall bereichern.

Das rezensierte Buch ruft auch einige für die nicht nur tschechische Kultur- und Literaturgeschichte unangenehme Fakten ins Gedächtnis: Es erinnert an die Tatsache, dass im Disput über die tschechische Erneuerung, aber auch über das ganze Kulturleben in den böhmischen Ländern der Vormärzzeit, die Stimmen „der Anderen“ (Rezensenten und Publizisten aus der Hauptstadt der Monarchie) konsequent (mit wenigen Ausnahmen) nicht berücksichtigt wurden. Die Analyse der Dynamik der kulturellen Kommunikation (und damit auch der Literaturgeschichte) in den böhmischen Ländern und in Österreich insgesamt kann jedoch erst dann erfolgen, wenn die Primärtexte und der (kulturelle, literarische und soziologische) Kontext in der Interaktion mit ihrer Rezeption untersucht werden. Die wissenschaftliche, kulturelle und dann auch politische Modernisierung der österreichischen Monarchie am Beispiel Böhmens, Mährens und Österreichisch-Schlesiens ist als ein komplexes soziokulturelles Verfahren zu betrachten. Diese Modernisierung wurde nicht nur von ihren diskursiven Strategien und Aushandlungen, sondern auch von ihren pragmatischen Seiten mitbestimmt. Der vorliegende Band kann daher den AutorInnen künftiger kultur- sowie literaturgeschichtlichen Synthesen einen guten Dienst leisten.

Anmerkungen:

1 Vgl. die entsprechenden Liste auf der Homepage des Münchener Digitalisierungszentrums, auf der Homepage der Applikation ANNO – AustriaN Newspapers Online und schließlich auf der tschechischen Internetplattform Kramerius der Prager Národní knihovna (Nationalbibliothek).
2 Vladimír Macura, Znamení zrodu. České národní obrození jako kulturní typ, Praha 1983; 2. erweiterte Auflage 1995.
3 Franz Palacký, Geschichte von Böhmen. Größtentheils nach Urkunden und Handschriften, Band 1: Die Urgeschichte und die Zeit der Herzoge in Böhmen bis zum Jahre 1197, Prag 1836.

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