H. Berghoff u.a. (Hrsg.): The East German Economy, 1945–2010

Cover
Titel
The East German Economy, 1945–2010. Falling Behind or Catching Up?


Herausgeber
Berghoff, Hartmut; Balbier, Uta Andrea
Erschienen
Anzahl Seiten
X, 249 S.
Preis
£55.00 / $90.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrike Schulz, Humboldt-Universität zu Berlin

Die Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte zur DDR ist in den letzten zwanzig Jahren trotz vielfach geäußerter Skepsis zu einem produktiven Forschungsfeld gewachsen.1 Der von Hartmut Berghoff und Uta Balbier herausgegebene Sammelband „The East German Economy, 1945–2010: Falling Behind or Catching Up?“ ist hierfür ein neuer erfreulicher Beleg. Die Publikation enthält die für den Druck bearbeiteten Beiträge einer Konferenz, die 2009 am Deutschen Historischen Institut in Washington stattfand.2 Allerdings merkt man dem Band an, dass zwischen der Konferenz und der Drucklegung viel Zeit vergangen ist. Entsprechend ist der in ihm präsentierte Überblick zum Forschungsfeld nicht mehr ganz aktuell. Hinzu kommt, dass die Mehrheit der Beiträge auf Projekten basiert, die 2009 bereits fortgeschritten oder gar abgeschlossen waren; in der Mehrzahl liegen die Ergebnisse bereits seit längerem veröffentlicht vor. Deshalb ist das erste der drei in der Einleitung genannten Ziele der Herausgeber, nämlich einen Überblick zum Stand der Forschung seit Anfang 1990 zu bieten, cum grano salis zu nehmen.

Unabhängig davon versprechen die in der Einleitung dargelegten Fragen neue Perspektiven für die gegenwärtige Forschung. So lautet das zweite Ziel des Bandes, ganz verschiedene Tendenzen und Methoden der Forschung aufzugreifen und in einen Dialog zu bringen. Auf diese Weise wollen die Herausgeber das bisher dominante „Masternarrativ“ von Niedergang und Scheitern sowie die einseitige Konzentration auf die Strukturdefizite sozialistischer Zentralverwaltungswirtschaften abmildern, wenn auch keine grundsätzliche Absage erteilen. Stattdessen geht es ihnen darum, die Geschichte „komplizierter“ zu machen. Dazu gehört für sie, auf die „Koexistenz von Kontinuitäten und Brüchen“, die „Konkurrenz widersprüchlicher Trends“, die „fragmentarische Natur“ der Wirtschaft in Ostdeutschland und die „Persistenz regionaler Ungleichgewichte“ aufmerksam zu machen (S. 6). Schließlich, drittens, haben sich die Herausgeber vorgenommen, für diese Geschichte ein Narrativ zu etablieren, das über die etablierten Zäsuren hinausgeht, das also vor 1945 beginnt und das den Einigungsprozess sowie die Transformationsphase bis in die „kapitalistische Zukunft“ integriert (S. 6).

Der Band erfüllt diese Ziele auf sehr unterschiedliche Weise. Er ist chronologisch aufgebaut und behandelt die Jahre zwischen 1945 und 2010. Einzelne Aufsätze gehen explizit auf die Kontinuitätslinien von vor 1945 ein, eine systematisierende Kontextualisierung für die Zeit des Nationalsozialismus bietet der Band allerdings nicht. Den ersten einführenden Teil bestreitet neben den Herausgebern André Steiner mit einem längeren Überblicksessay über die DDR-Wirtschaft. Er begreift diese grundsätzlich als eine „independent economy“ und beschreibt deren Strukturdefizite aus einer makroökonomischen Perspektive. Ihm zufolge wirkte sich die politische Einflussnahme der SED-Granden auf die volkswirtschaftlichen Grundsatzentscheidungen fatal auf die Stabilität des Systems aus und beförderte dessen innere Erosion. Damit entspricht die von Steiner vertretene Sicht im Grunde dem etablierten „Masternarrativ“. "Verkomplizierungen“, etwa mittels der Analyse von Macht- und Kommunikationsprozessen über die Hierarchie- und Organisationsebenen des planwirtschaftlichen Systems hinweg oder die Einbettung in trans- und internationale Wirtschaftsbeziehungen finden sich kaum.

Im zweiten Teil, der die Zeitspanne von 1945 bis 1971 in den Blick nimmt, folgen die Beiträge von Burghard Ciesla und Rainer Karlsch. Sie zeigen, wie wichtig der Nationalsozialismus und die Besatzungszeit für die jeweilige wirtschaftliche Entwicklung der beiden deutsche Staaten waren. Ciesla beschreibt eindrucksvoll den Einfluss, den die Reparationsfrage für die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der DDR über ihr gesamtes Bestehen hinweg ausmachte. Rainer Karlsch stellt industrielle Schwerpunktbereiche wie die Chemische Industrie in direkte Kontinuität zu den nationalsozialistischen Autarkieprojekten. Er stellt überzeugend dar, wie diese historische Pfadabhängigkeit zum Innovationshemmnis für die gesamte Volkswirtschaft werden konnte. Die beiden weiteren Aufsätze dieses Kapitels stammen von Dolores L. Augustine und Andrew I. Port. Augustine beschreibt über einen biografischen Zugriff den beruflichen Werdegang von Werner Hartmann, einem bedeutenden Forscher auf dem Feld der Mikroelektronik. Sie zeigt, wie entscheidend der „human factor“ im komplizierten Entscheidungsgeflecht der Planwirtschaft sein konnte und häufig war. Sie macht so einen wichtigen Schritt über die einseitige Konzentration auf Strukturen hinaus. Andrew I. Port beschäftigt sich mit dem Konzept des „Eigensinns“ und macht dessen „dunkle Seite“ im DDR-Betriebsalltag aus. Er beschreibt, wie die SED über sozialpolitische Instrumente die Arbeiterschaft in den Betrieben nicht etwa stärkte, sondern im Gegenteil „entsolidarisierte“. Im Umkehrschluss sorgte diese Struktur für eine Disziplin im (Betriebs-)Alltag, die das System insgesamt stabilisierte und Opposition verhinderte.

Das dritte Kapitel umfasst den Zeitraum von 1971 bis 1989. Hier finden sich vier Beiträge, von denen drei die internationalen Beziehungen und Verflechtungen der DDR-Wirtschaft untersuchen. Ray Stokes befasst sich mit den Auswirkungen der Ölkrisen in den 1970er-Jahren auf die DDR-Wirtschaft. Er stellt fest, dass die Verantwortlichen im Gefolge der Krisen neue Versorgungs- und Lieferbeziehungen zwischen der Sowjetunion und der DDR etablierten. Diese eröffneten zwar kurzfristig neue finanzielle Spielräume, hatten langfristig jedoch negative und destabilisierende Auswirkungen auf die Energieversorgung der DDR. Silke Fengler beschreibt am Beispiel der Filmfabrik Wolfen eindrücklich und auf breiter Quellenbasis, wie sich die Bemühungen des Betriebes, arbeitsteilige Strukturen im Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) für sich zu nutzen, nachteilig auf die Innovationskraft des Betriebes auswirkten. Ralf Ahrens beschäftigt sich in seinem Beitrag mit dem Außenhandel der DDR im RGW sowie mit der Bundesrepublik bzw. Westeuropa. Angesichts der mangelnden Effizienz der ostdeutschen Wirtschaft war die DDR langfristig nicht in der Lage, über den Außenhandel die benötigten Devisen zu erwirtschaften, was das System insgesamt destabilisierte. Gegenüber diesen lesenswerten Kapiteln fällt der Beitrag von Jeffrey Kopstein aus dem Rahmen. Kopstein begreift die DDR-Wirtschaft als Faktor, der ein ostdeutsches, von der Sowjetunion kontrolliertes Militärregime ermöglichte. Daraus leitet er einen Vergleich mit dem Nationalsozialismus ab, der in seiner Argumentation an frühere Totalitarismus-Diskussionen erinnert, aber keine neuen Erkenntnisse über Charakter und Funktionieren der DDR-Ökonomie erbringt.

Der vierte und letzte Teil des Bandes betritt für die Zeit zwischen 1989 und 2010 Neuland in dem Sinne, dass die historische Erforschung der sozioökonomischen Transformation erst begonnen hat und auf wenig gesichertes Wissen zurückgreifen kann. Aus diesem Grund sind die Beiträge von Michael C. Burda, Gerhard A. Ritter und Holger C. Wolf allesamt bereichernd: Aus einer makroökonomischen Perspektive setzen sie sich mit den Ergebnissen, Auswirkungen und Erfolgen, aber auch mit den Fehlentwicklungen und Verwerfungen auseinander, die die Währungsunion, die Aktivitäten der Treuhandanstalt sowie der Transfer von westdeutschen Institutionen in die ehemalige DDR hatten und fragen nach den langfristigen Zukunftsaussichten der Wirtschaft in Ostdeutschland. Sicher ist allerdings, dass eine nur auf Ostdeutschland gerichtete Forschungsperspektive, wie sie diese Beiträge grundsätzlich einnehmen, nicht ausreicht. Auch die andere Seite, die BRD und dann das vereinigte Deutschland nach 1990 gehören als Forschungsfeld dazu und können manche Unschärfe in der Forschung beseitigen.

Insgesamt zeigt sich bei der Lektüre, wie umstritten die Bewertung der historischen Ereignisse und Akteure in diesem Forschungsfeld noch immer ist, wie nah die Deutungskämpfe an die Gegenwart heranreichen. So vermitteln einige der Beiträge trotz thematischer und zeitlicher Erweiterungen den Eindruck, dass das „Masternarrativ“ aus den frühen 1990er-Jahren fortwirkt. Andere Beiträge, insbesondere diejenigen der internationalen Forscher sowie der Vertreter einer jüngeren Forschergeneration, stellen neue Fragen an die Quellen und kommen zu Ergebnissen, denen eine differenziertere Bewertung folgen wird. So kann man den Band als einen Zwischenfazit begreifen, in dem mittlerweile zwei Forschergenerationen und mehrere Lehrmeinungen aufeinandertreffen, die, wie der Band deutlich macht, in einen produktiven Dialog miteinander treten können.

Anmerkungen:
1 Andre Steiner (Hrsg.), Überholen ohne einzuholen: die DDR-Wirtschaft als Fußnote der deutschen Geschichte? Berlin 2006.
2 <http://www.ghidc.org/index.php?option=com_content&view=article&id=988&Itemid=885p;Itemid=885> (30.04.2014).

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