Cover
Titel
Wirkstoffe. Eine Wissenschaftsgeschichte der Hormone, Vitamine und Enzyme, 1920–1970


Autor(en)
Stoff, Heiko
Reihe
Studien zur Geschichte der Deutschen Forschungsgemeinschaft 9
Erschienen
Stuttgart 2012: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
IX, 387 S., 9 Abb.
Preis
€ 52,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christoph Kopke, Moses-Mendelssohn-Zentrum für europäisch-jüdische Studien, Universität Potsdam

Nur im deutschen Sprachraum gibt es den Begriff „Wirkstoffe“, der gleichermaßen Vitamine, Enzyme und Hormone umfasst. Von diesem Befund ausgehend verweist Heiko Stoff gleich zu Beginn seiner wissenschaftshistorischen Studie nicht nur auf ein zentrales Erkenntnisinteresse, sondern er führt den Leser auch umgehend zur wissenschaftstheoretischen Fundierung und Rahmung der Arbeit. Dabei nutzt der Verfasser mehrere theoretische Zugänge: Anknüpfend unter anderem an Ludwik Flecks Überlegungen zur Entstehung wissenschaftlicher Tatsachen durch die Herausbildung gemeinsamer Denkstile, an Michel Foucaults Begriff der Problematisierung und an das Konzept des Gefüges als Konstellation „von Akteuren, Dingen und Institutionen“ (S. 21), erzählt Stoff die „Geschichte der Wirkstoffe“ anhand von „Denkstilen, Praktiken, Kräften, Beziehungen und Mechanismen […], welche die Enzyme, Hormone und Vitamine im 20. Jahrhundert konstituierten und an spezifischen Problemen ausrichteten“ (S. 7f.). Es geht also um jene (sich wandelnden) Bedingungen, unter denen die Erforschung der Wirkstoffe vonstatten ging. Mit der Entdeckung, Isolierung und Bestimmung der Wirkstoffe versprachen unterschiedliche Instanzen und Akteure Lösungsangebote für differierende Probleme, vor allem in dem zu Anfang des 20. Jahrhunderts als besonders wichtig ausgemachten Beziehungsfeld von Mangel und Leistung: „Die Geschichte der Wirkstoffe ist die der Institutionalisierung, Standardisierung, Aktivierung und Prekarisierung leistungsstarker, in kleinsten Mengen wirksamer, in Bezug auf die Behebung von Mangelzuständen, Mangelsituationen und Mangelkrankheiten etablierter chemischer Agentien zur biologischen Regulierung leistungsfähiger Körper.“ (S. 11)

Dabei waren die Wirkstoffe „von Beginn an mit politischen Fragen verknüpft“ (S. 19), sei es mit Gesundheitsverhältnissen in den Kolonien, mit Heeresverpflegung oder lebensreformerisch geprägter Zivilisationskritik. Die Angst vor Mangel, Leistungsschwäche, Degeneration traf auf die nun plötzlich aufscheinenden Möglichkeiten zur Leistungssteigerung, Optimierung und Verjüngung: „Die staatliche Zurichtung leistungsfähiger Körper ging einher mit der individuellen Optimierung eines Leistungs-, Lust- und Konsumkörpers.“ (S. 20) Wirkstoffe versprachen chemisch-technische Lösungen sozialer Probleme. Die Wissenschaftler waren ihrerseits findig, den kriegswirtschaftlichen und bevölkerungspolitischen Zweck beabsichtigter Forschungen jeweils herauszuarbeiten, da nicht streng vorgegeben war, was als kriegswichtig einzustufen sei. Aufgewertet, ja neu etabliert wurde das interdisziplinäre Feld der Ernährungsforschung, galt doch in Deutschland die Sicherung der „Nahrungsfreiheit“ seit dem verlorenen Ersten Weltkrieg als Grundvoraussetzung sowohl einer erfolgreichen Kriegsführung als auch der Aufrechterhaltung der Loyalität breiter Bevölkerungsschichten gegenüber der Regierung. Konnte sich die Forschung an Wirkstoffen zwar unter den Erfordernissen und Rahmenbedingungen des Zweiten Weltkrieges recht gut entfalten und ausdifferenzieren, stellte die Niederlage des „Dritten Reiches“ gleichwohl keine wirkliche Zäsur dar. Allenfalls ist ein „semantischer Umbau“ (S. 83) zu verzeichnen, ein Verzicht auf alle Begründungen, die zuvor die Kriegswichtigkeit der Forschungsvorhaben unterstrichen hatten.

Das Buch gliedert sich in sechs große Kapitel, wobei das erste Kapitel („Problematisierung“) zugleich als Einleitung und das sechste Kapitel („Prekarisierung“) als Schluss dient. Die Leitbegriffe („Institutionalisierung“, „Standardisierung“, „Regulierung“ und „Aktivierung“ in den mittleren Kapiteln) werden jeweils eingangs näher erläutert und präzisiert. Im zweiten Kapitel werden die Wissenschaftsdisziplinen, Felder, Institutionen und Netzwerke dargestellt, die mit dem Begriff der Wirkstoffe verbunden sind. Wurden die Fragen der Hormonforschung zunächst noch innerhalb der Medizin aufgeworfen und verhandelt, führte die „Entdeckung“ der Vitamine dann im Nationalsozialismus zur Bildung eines Reichsinstituts, womit Vitaminforschung zumindest vorübergehend „einen quasi-disziplinären Status“ erhielt (S. 25). Die Entdeckung und Benennung der Enzyme war hingegen für die Herausbildung der Biochemie als eigenständiger Wissenschaftsdisziplin von entscheidender Bedeutung. Universitäre und außeruniversitäre (staatliche) Forschungseinrichtungen sowie die Forschungsabteilungen der pharmazeutischen Industrie betrachtet Stoff ebenfalls. Die Herstellung synthetischer Vitamine oder Hormone entwickelte sich für die Pharma- bzw. Chemiefirmen zu einem lukrativen Geschäft. Dies erklärt sich nur zum Teil aus der gesundheitsfördernden oder heilenden Wirkung mancher Präparate, etwa gegen vitaminmangelbedingte Erkrankungen. Vielmehr war es das aufgeworfene Versprechen von Gesundheit, Leistung oder Schönheit, das die Popularität der und die Nachfrage nach Wirkstoffen ausmachte und beförderte.1

Im Nationalsozialismus erfuhr die Wirkstoffforschung einen deutlichen Aufschwung. Die Mobilisierung und Selbstmobilisierung der Wissenschaft für die „biopolitische Entwicklungsdiktatur“ (Hans-Walter Schmuhl), für Autarkie, „Volksgesundheit“ und das Primat der „Leistung“ sowie als Teil einer den Krieg vorbereitenden und begleitenden Zweckforschung sind in den vergangenen Jahren vielfältig untersucht und dargestellt worden. Hier liefert Stoff weitere Präzisierungen und verdeutlicht, welchen wichtigen Stellenwert Grundlagen- und anwendungsorientierte Forschung im Bereich der Wirkstoffe einnehmen konnte. Wirkstoffe waren ein für den Nationalsozialismus interessantes Feld, da sie „rasch aktivierbare, wissenschaftlich realisierbare und industriell umsetzbare Lösungen“ anboten. Dies betraf „die hormonelle Steigerung der weiblichen Gebärpotenziale ebenso wie die hormonelle Sterilisierung; die Behandlung von Volkskrankheiten wie Diabetes und Rachitis; die Krebsbekämpfung; die Optimierung der körperlichen Leistungsfähigkeit der Arbeiter und Soldaten, die Verbesserung der Mastleistung und die Erhöhung des Nährwerts der Nahrung; sowie die Sicherung vitaminhaltiger einheimischer Nahrungsmittel“ (S. 66).

In welchen konkreten, auch verbrecherischen Maßnahmen sich diese Forschungen niederschlugen, wird vor allem im Kapitel 5 („Aktivierung“) an verschiedenen Beispielen erläutert. Welchen Siegeszug Hormone, Enzyme und Vitamine nach 1945 antreten konnten, wird schließlich im Kapitel 6 („Prekarisierung“) ausgeführt. Illustriert werden kann dies am Beispiel der „Pille“: Allein 1970 verkaufte Schering knapp 30 Millionen Monatspackungen seines hormonellen Empfängnisverhütungspräparats Anovlar (S. 281). Um noch ein anderes Beispiel zu nennen: Seit 1970 werden Vitamine bzw. Vitaminpräparate auch durch Drogerien verkauft. Dabei schien das „utopische Versprechen“, Krankheit zu verhindern und den Tod zurückzuweisen, auf der „dystopischen Wahrheit zu beruhen, dass es keine unbedenkliche Dosierung, keine unschuldige chemische Struktur, keine gefahrlose physiologische Leistung gebe“ (S. 282). Nichts symbolisierte dies öffentlich so sehr wie die Erkenntnis der krebsfördernden Wirkung der Anti-Baby-Pille. Der „ambivalente Status der Wirkstoffe“ (S. 291) war von der Krebsforschung freilich schon früher erkannt worden.

Heiko Stoff hat mit dieser Arbeit, die an der Technischen Universität Braunschweig als Habilitationsschrift angenommen wurde, eine im Zugriff und in der Fülle des ausgewerteten Materials beeindruckende Studie vorgelegt, die Bestand haben wird und zugleich zu weiterer Forschung einlädt. Der Verfasser verlangt dem Leser und der Leserin freilich auch einiges ab. Man sollte Fachwörterlexika in greifbarer Nähe haben: Der verständliche Wunsch nach Präzision auf hohem theoretischem Niveau führt bisweilen zur Benutzung sperriger Formulierungen und kaum gebräuchlicher Begriffe. Hier hätte ein etwas sparsamerer Gebrauch komplizierter Wendungen der Lesbarkeit der Studie genutzt. Angesichts des facettenreichen Themas hätte man sich am Ende auch ein systematisches, bilanzierendes Schlusskapitel gewünscht. Erschlossen ist diese überaus verdichtete Studie neben dem Quellen- und Literaturverzeichnis mit einem Personen- und einem Institutionenregister. Fazit: ein in vielerlei Hinsicht bemerkenswertes Buch.

Anmerkung:
1 Siehe auch die etwa zeitgleich erschienene Dissertation von Lea Haller, Cortison. Geschichte eines Hormons, 1900–1955, Zürich 2012, 2. Aufl. 2014.