Cover
Titel
Postwall German Cinema. History, Film History and Cinephilia


Autor(en)
Frey, Mattias
Reihe
Film Europa 14
Erschienen
Oxford 2013: Berghahn Books
Anzahl Seiten
208 S., 22 Abb.
Preis
€ 71,11
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Wedel, Studiengang Medienwissenschaft, Hochschule für Film und Fernsehen "Konrad Wolf" Potsdam

Mit einer Verzögerung von etwa einer Dekade hat der Fall der Berliner Mauer in Deutschland einen Boom an Filmen ausgelöst, die sich die nationale Vergangenheit zum Thema nehmen.

Die von der politischen der Jahre 1989/90 verspätet gezeitigte historische Wende des deutschen Films war dabei zugleich eine Hinwendung zu internationalen Märkten und der Weg zu internationaler Anerkennung: Nirgendwo in Afrika (2001), Das Leben der Anderen (2006) und die österreichisch-deutsche Koproduktion Die Fälscher (2007) gewannen jeweils den Oscar in der Kategorie des besten fremdsprachigen Films, für den in anderen Jahren Der Untergang (2004), Sophie Scholl – die letzten Tage (2005), Der Baader Meinhof Komplex (2008) und Das weiße Band (2009) zumindest nominiert waren.

In der deutschen Öffentlichkeit wurden viele dieser Produktionen – nicht trotz, sondern zumeist gerade wegen des großen Erfolgs beim zahlenden Publikum, auch im Ausland – zum Gegenstand heftiger Debatten über das von ihnen vermittelte Geschichtsbild. Neben dem vielfach geäußerten Generalverdacht, dass eine Hinwendung zur Geschichte immer gleichbedeutend sei mit der Abwendung von der gesellschaftlichen Wirklichkeit der Gegenwart, waren es vor allem zwei Positionen, die von Kritikern und Akademikern gegen die neuen deutschen Geschichtsfilme bezogen wurden: Sie würden einen naiven Historismus pflegen, dessen Detailfetischismus sich in erster Linie auf Kostüm und Dekor, nicht aber ebenso zwingend auf eine wahrheitsgetreue Wiedergabe der dargestellten Geschichtsverläufe beziehe. Damit, dies der zweite Vorwurf, erschienen die Konflikte der Vergangenheit im geschichtstouristischen Sinne einer „heritage culture“ radikal entpolitisiert und harmonisierend auf die Gegenwart hin aufgelöst. Was umso deutlicher ins Auge steche, vergleiche man die entsprechenden Nachwende-Produktionen mit den künstlerisch weitaus anspruchsvolleren und gesellschaftlich kontroversen, weil illusionsbrechenden Verfahren, mit denen etwa Alexander Kluge, Helma Sanders-Brahms, Margarethe von Trotta, Hans Jürgen Syberberg oder Rainer Werner Fassbinder in ihren Filmen der 1960er- bis 1980er-Jahre die jüngere deutsche Vergangenheit bearbeitet haben.

Matthias Frey nimmt viele Fäden dieser Debatte auf, deren schlichte binäre Logik der Gegenüberstellung von Kunst und Kommerz, Neuem Deutschen Film und Nachwendekino seines Erachtens jedoch zu kurz greift und der durchaus vorhandenen Komplexität des aktuellen filmischen Geschichtsverständnisses nicht gerecht wird. Behauptet ist damit freilich nicht, dass sich diese Komplexität in allen infrage kommenden Filmen nach 1990 entdecken lässt. Und sie erschließt sich in den von Frey herangezogenen Beispielen auch erst, so seine Kernthese, wenn man an ihnen untersucht, wie sie durch ein eng geflochtenes Netz an intertextuellen Verweisen die dargestellte Geschichte dezidiert als Filmgeschichte wiederkehren lassen und auf diese Weise mit der jeweiligen Produktionsgegenwart in Beziehung setzen. Frey erkennt darin einen grundlegenden cinéphilen Impuls und bezeichnet das resultierende ästhetische Verfahren als „Retro-Flexion“: „The term ‚retro-flection’ emphasizes how processes of retrospection in the German history film wave are functions of reflection on film history.“ (S. 13)

Die Beispiele, an denen Frey seine These entfaltet und analytisch exemplifiziert, sind chronologisch nach den jeweils dargestellten historischen Zeiträumen angeordnet. Das erste Kapitel legt hinter dem Genrediskurs von Sönke Wortmanns Das Wunder von Bern (2003) nicht nur den naheliegenden Rückgriff auf Topoi der Kriegsheimkehrersujets in Trümmerfilmen der unmittelbaren Nachkriegszeit frei. Auch belässt Frey es nicht bei der Beschreibung der von Wortmann vorgenommenen medialen und gesellschaftspolitischen Revision des Motivs der Fußballweltmeisterschaft 1954 am Ende von Fassbinders Die Ehe der Maria Braun (1979). Vielmehr arbeitet er deutliche Analogien seines Beispielfilms zur nationalsozialistischen Produktion Das große Spiel (1942) heraus, an denen das ideologische Projekt von Wortmanns Film erst eigentlich Kontur gewinnt: „The film asks, ‚What would it be like if today, in 2003, we could recover our pride to be Germans again?’ The recourse to the rhetoric of the rubble film and the echoes from Das große Spiel participate in transforming this ‚legend’ into a parable, an example to be enacted by the German nation of the twenty-first century.“ (S. 32)

Kapitel zwei ist mit Christopher Roths Baader (2002) und Uli Edels Der Baader Meinhof Komplex zwei Spielfilmen über die Frühphase des Terrorismus der Roten Armee Fraktion gewidmet. Vor allem an Baader kann Frey auf der Genrefolie des Hollywood-Biopics konkrete Anschlüsse an US-amerikanische Gangster- und Exploitationfilme aufzeigen und damit nachweisen, dass das zentrale Kalkül hinter der Inszenierung seiner historischen Titelfigur darin besteht, sie durch jene Filme hindurch zu imaginieren, die sie selbst in den 1970er-Jahren gesehen hat; und ihr damit neben den vielen den Dialog dominierenden historisch verbürgten Zitaten eine weitere, performative Ebene der Authentifizierung zu verleihen: „’Baader’ synthesizes polarized historiographies into a palimpsest, reflecting the fact that the historical record has been guided by a series of divergent memories, including the ‚Official record,’[sic!] journalistic versions, and counterculture myths. Its historical project hinges on the superimposition of unlike entities.“ (S. 75) Insofern wird sogar noch das von Andreas Baaders Biografie abweichende Ende des Films, das ihn bei einem Schusswechsel mit der Polizei ums Leben kommen lässt, als zumindest von der subjektiven Vorstellungswelt der dargestellten Figur abgesicherte Fiktion durchschaubar.

Nach einem im Vergleich zu den anderen eher kürzeren Kapitel, das die paranoide Handlungs- und Raumstruktur von Hans-Christian Schmids vielgerühmtem Porträt des Hannoveraner Computer-Hackers Karl Koch 23 (1999) in Beziehung setzt zu entsprechenden New-Hollywood-Klassikern wie The Parallax View (1974) oder Marathon Man (1976), befasst sich Kapitel vier am Beispiel von Wolfgang Beckers Good Bye, Lenin! (2003) und Florian Henckel von Donnersmarcks Das Leben der Anderen (2006) mit dem sogenannten „Ostalgie-Film“ und damit einem zentralen Kristallisationspunkt der Debatte um den filmischen Umgang mit DDR-Geschichte im wiedervereinigten Deutschland. Frey kann in seiner Darstellung der paradoxen Herstellung von Authentie-Eindrücken durch den Einsatz von historischen Requisiten und DDR-Gebrauchsgegenständen sowohl bei einem ost- wie bei einem westsozialisierten Publikum (vgl. S. 132) auf eine breite Fachdiskussion in der reichhaltig vorhandenen Literatur zurückgreifen. Hinzufügen kann er den bisherigen Analysen und Interpretationen von Good Bye, Lenin! den erhellenden Hinweis auf die Bedeutung, die Robert Zemeckis Forrest Gump (1994) für Beckers Film hat: als Muster für die zwischen verschiedenen Zeitebenen operierende Erzählstruktur, die zentrale Mutter-Sohn-Figurenkonstellation und die Ansiedlung des Sujets in einer von inneren Spannungen gekennzeichneten gesellschaftlichen Umbruchssituation.

In Kapitel fünf dient Oskar Roehlers Die Unberührbare (2000) abschließend in vielerlei Hinsicht als Gegenbeispiel zu den zuvor diskutierten stärker genreorientierten und kommerziell weitaus erfolgreicheren Geschichtsfilmen. Von ihnen hebt sich Roehlers kaum verhülltes Porträt seiner Mutter, der Schriftstellerin Gisela Elsner, durch seine deutlich in der Tradition des Neuen Deutschen Films stehende Verschränkung von persönlicher Autobiografie, weiblicher Subjektivität und nationaler Geschichte ab, ganz zu schweigen von ganz direkten Anspielungen auf Fassbinders Die Sehnsucht der Veronika Voss (1982). Frey präzisiert diesen Zusammenhang so akribisch wie noch niemand vor ihm, stellt ihm aber auch – und in der Analyse nicht weniger schlüssig herausgearbeitet – den Einfluss von Figurenkonzepten, atmosphärischen und topografischen Mustern des klassischen Film Noir an die Seite: „Die Unberührbare returns to the subtext of classic noir. Much like that form, the production attends to space and material culture and reinscribes both into the specific sociocultural environment of millenial Germany, another locus of great spatial and cultural transformation. Pursuing the film’s appropriation of noir leads to a broader discussion of how the materiality of its cinematic intertext intervenes into contemporary intellectual debates and exemplifies a possibility of German historical cinema beyond discourses of ‚heritage’ and ‚naïve authenticity’.“ (S. 143)

Im Rahmen dieser Debatten stellt Freys Buch eine Intervention dar, die Aufmerksamkeit verdient. Auch wenn Postwall German Cinema aufgrund des begrenzten Auswahlkorpus an untersuchten Filmen (und trotz seines insofern irreführenden Titels) nicht den Anspruch erheben kann, repräsentative Aussagen über den Geschichtsfilm der letzten 25 Jahre, geschweige denn des Nachwendekinos insgesamt zu treffen, lassen sich viele Hinweise aufnehmen und an anderen Beispielen weiterverfolgen. Bedauerlich an diesem ansonsten äußerst inspirierenden und sehr lesenswerten Buch ist vielleicht nur, dass die Frage, inwiefern sich in den besprochenen Filmen nicht nur nationale Entwicklungen, sondern auch übergreifende Tendenzen des „Neuen europäischen Kinos“1 widerspiegeln, zwar gelegentlich aufgeworfen, ihr aber nicht konsequent nachgegangen wird.

Anmerkung:
1 Vgl. Rosalind Galt, The New European Cinema. Redrawing the Map, New York 2006.

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