M. Großheim u.a. (Hrsg.): Staat und Ordnung im konservativen Denken

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Titel
Staat und Ordnung im konservativen Denken.


Herausgeber
Großheim, Michael; Hans Jörg Hennecke
Erschienen
Baden-Baden 2013: Nomos Verlag
Anzahl Seiten
381 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martina Steber, Institut für Zeitgeschichte München-Berlin

Die Forschung zum deutschen Konservatismus gehört seit vielen Jahren zu den Stiefkindern der Geschichtswissenschaft. Umso begrüßenswerter muss es erscheinen, wenn sich der Philosoph Michael Großheim und der Politikwissenschaftler Hans Jörg Hennecke zusammentun, um im interdisziplinären Gespräch den Gegenstand neu zu beleuchten und sich dabei auf Debatten um Staat und Ordnung zu konzentrieren. Damit werden in der Tat zwei zentrale Begriffe konservativen Denkens, Sprechens und Handelns in den Mittelpunkt der Analyse gerückt. Wie schwierig es ist, den Konservatismus als ideen- sowie politikhistorisches Phänomen zu greifen, darauf verweisen die beiden Herausgeber in ihrer kurzen Einleitung: Zum einen hafte dem Konservatismus „der Geruch des politisch Unkorrekten“ (S. 10) an; zum anderen lägen die Probleme in der konservativen Philosophie selbst begründet, die sich mehr durch Unentschiedenheit als durch definitorische Kohärenz auszeichne, und dies zumal in der historischen Längsachse.

Was aber rechtfertigt es dann, von einer Strömung des politischen Denkens mit erkennbarer Kontur seit dem frühen 19. Jahrhundert zu sprechen? Die Herausgeber bleiben in ihrer Annäherung an diese Frage vage: Grundsätzlich positioniere sich konservatives Denken in Abwehr zu rationalistischen, utopischen oder revolutionären Entwürfen und trete stattdessen für das Überkommene und nicht allein verstandesmäßig Fassbare ein. Politik solle dem Streben nach Interessen, nicht der Realisierung von Ideen dienen. Schließlich bieten die Herausgeber einen Kranz von Begriffen konservativen Denkens an: Skeptizismus, organischer Wandel, maßvolle Reform, Macht und Autorität, Religion und Moral, Dezentralität und Eigentum, Pflicht und Elite, Ordnung, Freiheit, Sicherheit, Stabilität (S. 12). Während der Konservatismus seit dem 19. Jahrhundert „meist“ einen Kurs moderater Reform verfolgt hätte, hätte er ebenso reaktionäre wie revolutionäre Varianten ausgebildet und sei mit autoritären wie totalitären Strömungen Symbiosen eingegangen.

Wie aber nun ideelle Kontinuität in solch intellektueller Pluralität gesichert wurde, in welchen Kontexten konservative Positionen formuliert wurden, wie und warum sich das politische Denken des Konservatismus in den zwei Jahrhunderten, die der Band in den Blick nimmt, veränderte – diese und viele weitere Fragen bleiben in der Einführung der Herausgeber offen, obwohl einige der Beiträge durchaus differenzierte Antworten hätten geben können. Wenig Kontur erhält auch die thematische Fokussierung des Bandes auf konservative Staatsverständnisse und Ordnungskonzeptionen. Dass „Staatsform, Staatstätigkeit, Werte und Ziele staatlicher Ordnung, Stabilität und Wandel von staatlicher Ordnung, die Einbettung in die Staatenwelt, politische und historische Identität […] wichtige Themen“ (S. 13) des konservativen Diskurses bilden, sei unbenommen, das trifft aber gleichermaßen auf jede andere Form politischen Denkens zu.

Die Wahl der Themen, mit denen sich die Beiträge des Bandes beschäftigen, bleibt unbegründet, abgesehen von dem Hinweis, dass es sich um „historische Situationen handelt, in denen konservatives Denken formuliert wurde“ (S. 14). In welchen Situationen, so mag man fragen, wurde konservatives Denken nicht formuliert? So scheinen die dreizehn Beiträge eher willkürlich zusammengestellt, zumal nur wenige sich mit dem Thema des Bandes überhaupt auseinandersetzen. Ihr Schwerpunkt liegt auf Deutschland, mit Ausgriffen nach Frankreich und in die USA, vor allem aber nach Großbritannien, dem traditionellen Referenzland des Konservatismus. Doch die so entscheidende Frage nach dem spezifischen Mischungsverhältnis von nationalen und internationalen Beständen im deutschen Konservatismus stellen die Herausgeber leider nicht, und dies obwohl die Zuspitzung auf Staats- und Ordnungsverständnis ihnen einen erhellenden Schlüssel in die Hand gegeben hätte. Nicht nur damit vergibt der Band eine Chance.

Das größte Manko der Konzeption liegt in der Unentschiedenheit ihrer Zielstellung: Geht es den Herausgebern um eine historische, der Objektivität verpflichtete Untersuchung des Konservatismus der Moderne oder um eine „Rekonstruktion des Konservatismus“ in Nachfolge Gerd-Klaus Kaltenbrunners?1 Während etwa die Hälfte der Autoren streng historisch arbeitet, bemüht sich die andere Hälfte um die Freilegung von philosophischen und politiktheoretischen Potenzialen für einen Konservatismus der Gegenwart. Dass sich daraus eine Vielzahl von Widersprüchen ergeben, kann kaum verwundern. Während die einen Aufsätze konservative Begriffe und Interpretamente historisch kontextualisieren und ein Stück weit dekonstruieren, ist es den anderen Aufsätzen daran gelegen, fern aller Historisierung diese zu affirmieren und damit zu aktualisieren.

Unter den historisch arbeitenden Beiträgen befinden sich einige wertvolle, weiterführende Arbeiten, die den Band trotz aller Einschränkungen lesenswert machen. Hans-Christof Kraus’ Analyse des konservativen Ordnungsdenkens zwischen 1789 und 1850 fächert feinteilig die Entwicklung konservativer Positionen auf und hebt dabei die Bedeutung der Juli-Revolution 1830 hervor, die den Konservatismus dazu zwang, die Revolution als säkularen, langfristigen und nicht aufhaltbaren Prozess anzuerkennen. Hier finden sich die Wurzeln der charakteristischen konservativen Selbstbeschreibung als vermittelnde, ordnende Kraft des Maßes und der Mitte zwischen den Extremen. Im Zentrum des Staatsdenkens der politischen Romantik stand die Suche nach einer lebendigen, vorpolitischen Gemeinschaft, die auf mehr basiere als auf Vertrag und Interessensausgleich, wie Richard Pohle herausarbeitet. In ihrer Gemeinschaftssehnsucht erhielt sich ein utopisches Moment, das im modernen Konservatismus, so zeigen die folgenden Beiträge, immer wieder aufleuchtete. Ganz besonders plastisch wird dies in den Staatsdebatten der konservativen Revolutionäre der Zwischenkriegszeit, die Michael Großheim differenziert behandelt. Er arbeitet die Unterschiede zwischen etatistischen und ethnizistischen Konzeptionen des Staates heraus und analysiert die vielschichtige Rezeption dieser konservativ-revolutionären Ideen durch nationalsozialistische Theoretiker zwischen Übernahme, Anverwandlung und Zurückweisung. Gerade hinsichtlich der nationalsozialistischen Schärfung des Volksgemeinschafts-Begriffs bietet der Aufsatz Erhellendes. Deutlich hervor tritt der gebändigte Pluralismus wissenschaftlicher Debatten im Nationalsozialismus, an dem die konservativen Revolutionäre trotz des Verlustes ihrer Deutungsmacht im rechten Lager lebendigen Anteil nahmen.

Vor diesem Hintergrund werden die terminologischen Fallstricke des bundesrepublikanischen Konservatismus erst verständlich. Die konservativen Begriffswelten hatten sich durch die Symbiose mit nationalsozialistischen Entwürfen diskreditiert. Mit der Transformation des Konservatismus in der Bundesrepublik beschäftigt sich Axel Schildt. Dominik Geppert blickt nach Großbritannien, wo das Zusammenspiel von Liberalismus und Konservatismus seit dem 19. Jahrhundert die Conservative Party entscheidend geprägt hat. In einer Relektüre der Forschungsliteratur stellt er drei Interpretationen dieses Zusammenspiels vor: 1. Die These von der Unvereinbarkeit von Konservatismus und Liberalismus; 2. die von der Amalgamierung von Konservatismus und Liberalismus und schließlich 3. die von der spannungsreichen Koexistenz von Liberalismus und Paternalismus als Charakteristikum des modernen Konservatismus. Besondere Brisanz erhält diese Fragestellung, weil sie bislang im Zentrum jeder Lesart des Thatcherismus stand. Geppert schließt sich Ewan Green an, der die dritte Variante vorgeschlagen hat: am Grunde des Thatcherismus liege ein Staatsverständnis, das zivilgesellschaftliche Institutionen in den Mittelpunkt rücke. Es gehe davon aus, dass eine lebendige, in kleinen Einheiten sich selbst organisierende Zivilgesellschaft das soziale Wirken des Staates unnötig mache.2 Bis in die Inkubationszeit des Konservatismus lasse sich diese Interpretationslinie verfolgen, und sie reiche, so Geppert, nicht nur bis Thatcher, sondern führe auch zu Camerons „compassionate Conservatism“.

Matthias Oppermanns Beitrag zur realistischen Schule der internationalen Beziehungen rückt die Prägekraft des US-amerikanischen Konservatismus nach 1945 in den Blick, genauso wie die zentrale Bedeutung des französischen Denkers Raymond Aron. Ausgehend von Friedrich Meinecke entwickelt Oppermann die Entstehung realistischen Denkens als transatlantischen Dialog, der sich um den Begriff der Macht gruppierte. Den „Kardinalfehler“ (S. 295) des Realismus erkennt er in der ausschließlichen Konzentration auf die Macht. Ein „amoralischer Relativismus“ (S. 296) im Zeitalter der Ideologien sei das Resultat dieses Denkens gewesen. Dagegen setzte Raymond Aron die aristotelische „Moral der Klugheit“. Arons Entwurf der frühen 1960er-Jahre weist dabei auf einen weiteren Kontext: die internationale Neuformulierung des Konservatismus nicht im Gegensatz zu, sondern im Einklang mit dem Liberalismus der westlichen Demokratie. Für Aron war der echte Liberale ein „aufgeklärter Konservativer“ (S. 302). Dieser Impuls prägte die Neuaufbrüche des bundesrepublikanischen Konservatismus der 1960er- und 1970er-Jahre, zu dessen Protagonisten Hermann Lübbe und Günter Rohrmoser zählten, die Michael Henkel beleuchtet. Für beide wurde Religion zum wichtigsten Argument für die Freiheitssicherung des demokratischen Staates in der Moderne. Die Religion bestimmte Lübbe funktional; sie war ihm ein rationales Phänomen, das es dem Individuum erlaubte, die Kontingenzerfahrung der Moderne zu bewältigen. Für Rohrmoser dagegen konnte die Religion eine solche Rolle nur erfüllen, wenn die Gesellschaft von einem lebendigen, konservativen Christentum durchdrungen sei. Beide Philosophen gingen indes von der jüdisch-christlichen Tradition aus, die Integration anderer Religionen blieb eine offene Flanke.

Die zweite Gruppe von Aufsätzen leistet selbst Legitimationsarbeit, Legitimationsarbeit für verschiedene Spielarten des gegenwärtigen Konservatismus. Christian Thies reaktiviert den Begriff der „Masse“, um die „kulturkritische Zeitdiagnose der Massentheoretiker […] plausibel zu machen“ (S. 84). Volker Kronenberg plädiert im konservativen Sinne für einen „Patriotismus von Maß und Mitte“ (S. 349). Till Kinzel findet in dem britischen Philosophen Michael Oakeshott Ansätze eines zeitgemäßen Konservatismus und sucht gleichermaßen Roger Scrutons englisch-nostalgisches, antiliberales Denken in die deutsche Debatte einzubringen. Kinzel setzt nicht nur den Duktus konservativer Selbstbeschreibungen fort, er passt Oakeshott in die Traditionslinie konservativ-revolutionären Denkens ein, wenn er behauptet, dass gegenwärtig „die Konservativen in Oakeshotts Sinne“ ob der angeblichen Zerstörung „zahllose[r] Überlieferungen in den letzten Jahrzehnten“ in eine Situation gebracht worden wären, „Traditionen erst wieder neu begründen zu müssen“ (S. 247). Inwiefern diese Interpretation mit Oakeshotts Traditionsbegriff, der Kontinuität mit Wandel verbindet, tatsächlich kompatibel ist, bleibt dem zweifelnden Leser indes verborgen. Joachim Krause glaubt eine Tradition des „aufgeklärten Konservatismus“ im Denken über internationale Beziehungen zwischen Staaten zu erkennen, die er von Edmund Burke herleitet. Von den Gefahren des Realismus, die Oppermann luzide herausarbeitet, ist bei Krause nichts zu lesen. Hans Jörg Hennecke verspricht, die Substanz des Konservatismus über seine Rationalismuskritik zu fassen, um dann altbekannte Topoi konservativer Selbstbeschreibung aneinanderzureihen. Beschrieben wird „der Konservative“ an sich und – nicht zum ersten Mal – das Bild des Gärtners bemüht. Ganz offensichtlich stand der britische Konservatismus umfassend Pate für diese konservative Selbstthematisierung.

Steffen Kluck dagegen rekurriert auf deutsche Traditionen konservativen Denkens. Er sucht den Neuhegelianismus der Zwischenkriegszeit, genauer die Staatsphilosophie Julius Binders und Karl Larenz’ und damit ein „hegelianisch geprägtes konservatives Ordnungsdenken als eine berechtigte theoretische Alternative womöglich in einigen Teilen zu rehabilitieren“ (S. 123). Die These, dass der Neuhegelianismus das Fundament der nationalsozialistischen Rechtsphilosophie geliefert hätte, „stimmt schlichtweg nicht“ (S. 99, FN 39), behauptet Kluck. Den Kniff für eine solche Argumentation liefert ihm die Unterscheidung von „theorieimmanenten“ und „opportunistischen“ bzw. „falschen“ Auslegungen. Ein Beispiel sei herausgegriffen. Der in der nationalsozialistischen Rechtssetzung und -sprechung evozierte „Volksgeist“, ein Kern neuhegelianischer Staatstheorie, könne, so Kluck, „ein Einfallstor für mindestens falsche, womöglich willkürliche Auslegungen sein […]. Theorieimmanent dürfte solche Willkür allerdings nicht vorkommen, wenn der Richter sich an den Volksgeist hält“ (S. 115). Im selben Sinne reaktiviert Kluck die Führeridee („nur ein starkes, integres Individuum vermag es, ein irregeleitetes Kollektiv zur Raison zu bringen“, S. 125), sucht Individualität und Transpersonalismus zu verbinden und die Idee des „objektiven Geistes“ wiederzubeleben („Auch ein Staat als Form eines objektiven Geistes sollte, schon aus seinem eigensten Bestandsinteresse, ein Mindestmaß an subjektiver Willkür zulassen. Es käme nur darauf an, deren kollektivzersetzende Wirkung einzuhegen“, S. 125). So meint Kluck abschließend, dass die Frage nach der Vereinnahmung des Neuhegelianismus durch den Nationalsozialismus falsch gestellt sei. Vielmehr gelte es zu erklären, warum Binder und Larenz „nationalsozialistische Einschübe“ (S. 127) nicht abgewehrt hätten. Ein Blick in Michael Großheims Aufsatz hätte ihn gelehrt, dass diese dichotomische Vorstellung – hier Konservative, dort Nationalsozialisten – sowohl an der diskursiven Realität des NS-Regimes als auch an der Gestalt nationalsozialistischer Ideologie selbst vorbei geht. Die Zeithistorikerin fröstelt es bei der Lektüre solcher Thesen im Jahr 2014.

Der Band wirft also sowohl Schlaglichter auf den historischen als auch den gegenwärtigen intellektuellen Konservatismus. Die historische Debatte bereichert er mit Beiträgen zu ausgewählten Themen, die manch anregende Frage aufwerfen, wie etwa die nach utopischen Potenzialen im modernen Konservatismus, nach seinen internationalen diskursiven Verflechtungen und seiner spannungsvollen Auseinandersetzung mit dem Liberalismus. Zugleich aber zeigt Großheims und Henneckes Band, dass sich eine ernst zu nehmende Konservatismusforschung aus den Begriffsnetzen, den Topoi und Narrativen konservativer Selbstbeschreibung lösen muss, um dem historischen Phänomen gerecht zu werden.

Anmerkungen:
1 Gerd-Klaus Kaltenbrunner (Hrsg.), Rekonstruktion des Konservatismus, Freiburg im Breisgau 1972.
2 E. H. Green, Ideologies of Conservatism. Conservative Political Ideas in the Twentieth Century, Oxford 2002; Ders., Thatcher, London 2006.

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