C. Wanner (Hrsg.): State Secularism and Lived Religion

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Titel
State Secularism and Lived Religion in Soviet Russia and Ukraine.


Herausgeber
Wanner, Catherine
Erschienen
Anzahl Seiten
346 S.
Preis
€ 82,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrike Huhn, Forschungsstelle Osteuropa, Universität Bremen

Nicht der lange Zeit recht einseitige Blick auf antireligiöse Kampagnen und die institutionellen Ausformungen von Religion, sondern staatliche forcierte Säkularisierung und ihre Folgen für „gelebte Religion“ stehen im Zentrum dieses Sammelbandes. Nach einer ganzen Reihe von Publikationen, die sich um das Feld „gelebter Orthodoxie“ vor allem im russischen Zarenreich rankten1, wagt sich dieser Band in die Sowjetunion vor. Dabei beschränkt er sich geographisch auf die Ukraine und den europäischen Teil Russlands, um in diesem Raum ein ganzes Panorama verschiedener Religionen und Konfessionen – von der russischen Orthodoxie über jüdische Familienidentitäten bis hin zu Baptisten und Zeugen Jehovas – nachzeichnen zu können. Gemeinsame Klammer ist die Frage nach dem Wechselverhältnis von Säkularisierungsbemühungen und religiösen Praktiken über den gesamten Zeitraum des Bestehens der Sowjetunion. Catherine Wanner geht in ihrem instruktiven Vorwort von der Frage aus, wie die schnelle Abfolge von einer scheinbar tief greifenden Säkularisierung und dem plötzlichen Aufleben der Religion – oft gepaart mit nationalistischen Tönen – in der Spätphase der Sowjetunion sowie nach deren Zerfall erklärt werden könne. Zwar gelang es den sowjetischen „Himmelsstürmern“, Religion aus dem öffentlichen Raum zu verbannen und deren institutionelle Stützen zu schwächen, nicht aber, den Glauben an transzendente Kräfte zu beseitigen. Religion und Säkularisierung seien in der Sowjetunion, so Wanner, nicht einfach als Gegensatzpaar zu fassen bzw. Säkularisierung mit den Worten von Max Weber nicht als „Entzauberung“ oder schlicht als Verlust von Religion zu verstehen. Vielmehr habe sich Religion unter sowjetischen Bedingungen verändert und wurden religiöse Praktiken oftmals „in nicht-institutionelle, oft improvisierte Erfahrungen von Alltagsreligiosität integriert“. Genau dies sei „eine der zentralen Konsequenzen sowjetischer Säkularisierungsbemühungen“ (S. 9).

Es liegt dabei in der Natur eines Sammelbandes, dass sich nicht alle Artikel gleichermaßen in diese Grundüberlegungen einfügen. Die vier Artikel, die sich explizit mit orthodoxen religiösen Praktiken beschäftigen, bilden einen nahezu einhelligen Konsens über die Widersprüchlichkeit sowjetischer Säkularisierungsbemühungen und ihre unerwarteten Konsequenzen ab. So kommt Gregory Freeze in seinem Aufsatz zu den Folgen antireligiöser Kampagnen in der Ukraine in den 1920er Jahren zu dem Schluss, dass die orthodoxen Gemeinden mittelfristig durch die staatlichen Maßnahmen gegen Geistliche der Russisch-Orthodoxen Kirche gestärkt wurden, weil dadurch den Laien größere Bedeutung zukam. Die 1920er Jahre waren eine Zeit der selbst organisierten Ikonenprozessionen, gegen die Kampagnen gegen „Aberglauben“ kaum Aussicht auf Erfolg hatten, weil sie sich den Weltvorstellungen orthodoxer Bauern entzogen. Mit Wallfahrten und Prozessionen beschäftigt sich auch Stella Rock. Sie bilanziert, dass sowjetische Funktionäre zwar Reliquien beseitigen und Kirchen schließen konnten, teils sogar im Einverständnis mit orthodoxen Würdenträgern, die sie zu Verbündeten im Kampf gegen den „Aberglauben“ machten. Im Verständnis vieler Pilger konnte sich das Heilige jedoch immer wieder neu materialisieren – ja, bewies genau damit seine Potenz! – und wurde daher nicht angetastet. Orthodoxe Pilger mussten folglich zwar oft auf die Vermittlung der Kleriker, nicht aber auf religiöse Erfahrungen verzichten. Stärker nach den Handlungsspielräumen für die Institution Kirche fragt Scott M. Kenworthy mit seinem Aufsatz zu dem 1946 wieder eröffneten Dreifaltigkeitskloster von Sergijew Possad, dem wichtigsten Heiligtum der russischen Orthodoxie. Kenworthy zeigt überzeugend, wie die Klostervorsteher in den Nachkriegsjahren und selbst auf dem Höhepunkt von Chruschtschows antireligiöser Kampagne geschickt auszunutzen wussten, dass das Kloster ausländischen Besuchern den Anschein von Religionsfreiheit in der Sowjetunion demonstrieren sollte. Den Klerikern gelang es so, die innere Autonomie des Klosters immer wieder zu verteidigen. Dagegen konzentriert sich Nadieszda Kizenko in ihrem Beitrag zur Bedeutung des Beichtsakraments in der Sowjetunion ganz auf eine religiöse Praxis. Sowohl die Furcht, in der Beichte Informationen an eine besonders bedrängte Gruppe – den Geistlichen – weiterzugeben, als auch schlicht der Mangel an geöffneten Kirchen führten dazu, dass in der Sowjetunion statt der Einzelbeichte zunehmend die Kollektivbeichte Verbreitung fand. Parallel entwickelten sich oft außerhalb der Kirchenräume im Umfeld besonders anerkannter und charismatischer Geistlicher ganze „Beichtfamilien“, so dass die Gespräche im kleinen Kreis als eine besondere, intime Form andere verdrängte religiöse Praktiken kompensieren konnten – und folgerichtig mit der explosionsartigen Wiederöffnung von Kirchen nach dem Zerfall der Sowjetunion an Bedeutung verloren.

Ebenfalls mit einem Blick auf die longue durée, aber bezogen auf das Selbstverständnis sowjetischer Juden, fragt Anna Shternshis, wie sowjetische Juden der ersten Generation, das heißt einer zwischen 1900 und 1930 geborenen Kohorte, Entscheidungen zu Eheschließungen und Familiengründungen trafen und welche Rolle religiöse Aspekte und jüdische Ethnizität dabei spielten. Dabei zeigt sich, dass die Wahl nichtjüdischer Ehepartner trotz familiärer Erwartungen durchaus anschlussfähig war an einen „internationalistischen“ Diskurs der sowjetischen Frühzeit, weil es schon vor 1917 eine starke innerjüdische Kritik an arrangierten Ehen gab – und dass hier vor allem Gender-Erwartungen den Ausschlag dafür gaben, dass jüdischen Frauen die Wahl eines jüdischen Ehepartners wichtig war. Erst die Nachkriegsgenerationen entschieden sich unter dem Eindruck des Holocaust wie auch angesichts des staatlichen Antisemitismus trotz schwindender religiöser Kenntnisse wieder bewusster für jüdische Partner.

Damit ist ein zweites starkes Moment des Bandes angesprochen, das freilich weder im Titel noch in der Binnengliederung besonders herausgestellt wird: das Verhältnis von Religion und Ethnizität bzw. nationalem Engagement. Seltsam isoliert wirkt daher der Beitrag von John-Paul Himka, der das Dilemma des Lwiwer Erzbischofs Andrej Scheptyzky zwischen dessen Eintreten für eine unabhängige Ukraine und der von ihm abgelehnten Brutalität der Bandera-Bewegung nachzeichnet. Besser fügt sich der Beitrag von Sonja Luehrmann zu den atheistischen Kampagnen in der späten Sowjetunion in der multireligiösen und -ethnischen Region Mari ein, in dem sie danach fragt, wie die standardisierten Maßnahmen in einem Kontext wirkten, in dem lokale (ethnische) Identität stark an religiöse Marker gebunden waren. Einerseits wussten lokale Funktionäre zum Beispiel die Kampagne gegen eigentlich protestantische „Sekten“ für sich so auszuweiten, dass sie die ebenfalls ohne institutionelle Vermittlung praktizierten traditionellen Opferzeremonien der Mari damit attackieren konnten. Andererseits wuchs unter den sowjetischen Religionsexperten mehr und mehr die Einsicht, dass Religion eine soziale Funktion hatte, die das Gefühl lokaler Zugehörigkeit und Verantwortung stärkte – und damit in der Spätphase der Sowjetunion schließlich sogar als Verbündeter angesehen werden konnte. Dies galt allerdings explizit nicht dort, wo wie in der Ukraine Bestrebungen zu einer nationalen Unabhängigkeit als Gefahr für die Stabilität der gesamten Sowjetunion gesehen wurden, wie Viktor Yelensky in seiner sehr deskriptiven Rundumschau des religiösen Wiederauflebens in der Ukraine der 1970er und 80er Jahre zeigt.

Fast spiegelbildlich lassen sich die beiden Artikel von Zoe Knox und Olena Panych lesen, die sich mit sowjetischer Presse und Feindbildkonstruktionen zu den Zeugen Jehovas sowie der Verarbeitung von Verfolgungserfahrungen in der im Untergrund verbreiteten Memoirenliteratur von Baptisten befassen: Beide Gattungen zielten in erster Linie darauf, bereits überzeugte Anhänger der eigenen Position weiterhin zu binden, nicht aber, Anhänger der Gegenseite zu überzeugen. Insbesondere die Zeugen Jehovas waren indes eine extrem abgeschottete Schicht – mehr Aufschluss über deren Binnendynamiken wird hier in Kürze von der Monographie von Emily Baran zu erwarten sein.2

Herausgekommen ist damit ein Band, der spannende Einzelstudien namhafter Experten im Feld sowjetischer Kirchen- und Religionsgeschichte zusammenbindet und trotz mancher Sprünge den Blick auf die Macht religiöser Bedürfnisse und Erfahrungen in einem nur vordergründig säkularen, weil zwar „entkirchlichten“ bzw. de-institutionalisierten, aber nicht religionsfreien Umfeld weitet.

Anmerkungen:
1 Vgl. dazu den Forschungsüberblick von Christine Worobec, Lived Orthodoxy in Imperial Russia, in: Kritika: Explorations in Russian and Eurasian History 2/7 (2006), S. 329–350 sowie Paul W. Werth, Lived Orthodoxy and Confessional Diversity. The Last Decade on Religion in Modern Russia, in: Kritika: Explorations in Russian and Eurasian History 4/12 (2011), S. 849–865.
2 Emily B. Baran, Dissent on the Margins. How Soviet Jehovah’s Witnesses defied Communism and Lived to Preach about It, Oxford, New York 2014.

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