M. Wustmann: „Vertrieben, aber nicht aus der Kirche“?

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Titel
„Vertrieben, aber nicht aus der Kirche“?. Vertreibung und kirchliche Vertriebenenintegration in SBZ und DDR am Beispiel der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens 1945 bis 1966


Autor(en)
Wustmann, Markus
Reihe
Geschichte und Politik in Sachsen 30
Erschienen
Anzahl Seiten
690 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Felix Nothdurft, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München

Die Literatur zum Themenkomplex Flucht und Vertreibung sowie zur Integration der Ostvertriebenen nach 1945 ist mittlerweile kaum mehr zu überblicken.1 Trotzdem fehlt es bislang an umfassenden, systematisierenden Studien zur Rolle der evangelischen Kirche bei der Integration der Ostvertriebenen.2 Vor allem Darstellungen zu den evangelischen Landeskirchen in SBZ bzw. DDR stehen noch aus, zumal die umfangreiche Dokumentation von Hartmut Rudolph zur Rolle der EKD bei der Integration der Vertriebenen de facto auf die westlichen Landeskirchen beschränkt ist.3

Diesem Desiderat begegnet nun Markus Wustmann mit einer Studie, die er 2012 als Dissertationsschrift an der Universität Leipzig eingereicht hat. Wustmann erhebt den Anspruch, am Beispiel der Landeskirche von Sachsen den Beitrag der Kirchen zum Integrationsprozess gewissermaßen stellvertretend für die gesamte SBZ und DDR darzustellen (vgl. S. 15). Dieses Anliegen ist insofern berechtigt, da sämtliche evangelischen Landeskirchen auf dem Gebiet der SBZ bzw. der DDR mit derselben, doppelten Problemstellung zu kämpfen hatten: Einerseits die soziale Herausforderung, Millionen von Vertriebenen in die Kirche zu integrieren, andererseits die Auseinandersetzung mit der sowjetischen Militärverwaltung bzw. dem SED-Regime, das gegenüber den Kirchen eine feindliche Haltung einnahm und gegenüber den Ostvertriebenen zugleich eine radikale Assimilationspolitik verfolgte. Dies hatte letztlich eine ambivalente Stellung der kirchlichen Vertriebenenarbeit zur Folge, die ja eine soziale Gruppe seelsorgerlich anzusprechen hatte, die es „in der DDR-Gesellschaft spätestens seit Beginn der fünfziger Jahre überhaupt nicht mehr geben sollte“ (S. 178).

Wustmann versteht seine Arbeit grundsätzlich deskriptiv. Erklärtes Ziel der Studie ist es, „die Vertriebenenaufnahme in Sachsen und die Reaktion der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche auf den Vertriebenenzustrom“ (S. 28) in verschiedenen Aspekten nachzuzeichnen. Auf einen einleitenden Teil zu Hintergrund und Rahmenbedingungen – hier wären durchaus einige Kürzungen möglich gewesen, da er kaum auf eigenen Forschungen basiert – folgt die detaillierte Beschreibung der karitativen Nothilfe bis 1947/1948, welche nach kirchlichen Akteuren wie der Bahnhofsmission und des Gustav-Adolf-Vereins gegliedert ist. Kritisch bemerkt Wustmann zur materiellen Nothilfe, dass der „Anspruch des überkonfessionellen Blickwinkels“, der von der Hilfswerkleitung vertreten worden war, bei der Verteilung von Spenden von den „durchführenden Mitarbeitern“ vielfach nicht mitgetragen worden sei (S. 221).

Ab 1947/48 stellt Wustmann einen Paradigmenwechsel von der materiellen Nothilfe zur Seelsorge fest. Die Umsiedlerseelsorge wurde auf landeskirchlicher Ebene institutionalisiert und konzeptualisiert, etwa in den „Richtlinien für die Umsiedlerseelsorge in der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens“. Daneben wurden Stellen für Landespfarrer für Umsiedlerseelsorge eingerichtet und Umsiedlergottesdienste veranstaltet. Im dritten Teil skizziert Wustmann unter dem Titel „Die Vertriebenenintegration als Herausforderung der sächsischen Landeskirche“ unter anderem das Problem der Ostpfarrerversorgung, das aufgrund materieller Schwierigkeiten und der unterschiedlichen Bekenntniszugehörigkeit auch die EKD intensiv beschäftigte.4 Der Verfasser zeichnet das Bild einer „mittelfristig gelungenen Integration“ (S. 533) – trotz einer „erheblichen Assimilationsleistung“, die von den Ostpfarrern verlangt wurde (S. 578) und obwohl zu beobachten war, dass diese von einer sozialen Deklassierung betroffen waren. Hier wird auch deutlich, welchen Zumutungen Ostpfarrer seitens der Kirchenleitung ausgesetzt waren: Unter dem Vorwurf, ihre Gemeinden im Stich gelassen zu haben, erwartete diese von den Ostpfarrern noch während der Vertreibungswellen, in die Ostgebiete unter Einsatz ihres Lebens und Zurücklassung ihrer Familie zurückzukehren – notfalls „als blinde Passagiere in Güterzügen“ (S. 478).

Im nachfolgenden und spannendsten Abschnitt der Studie verlässt Wustmann die deskriptiv-rekonstruierende Ebene und bewertet den Integrationsprozess auf der Grundlage der sozialwissenschaftlichen Rational-Choice-Theorie, die in der Religionssoziologie stark rezipiert wurde. Diese Theorie geht davon aus, dass Individuen ihr Handeln und damit auch die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft einer Kosten-Nutzen-Analyse unterziehen (S. 534–537). Wustmann legt dar, dass sich nach der Überwindung der größten Not der Nachkriegszeit die „Marktsituation“ für die Religionen stark verändert habe: Das Bedürfnis nach Sinnstiftung und damit der „Nutzen“ der Religion sei mit zunehmender Konsolidierung gesunken. Gleichzeitig seien unter den Bedingungen der kommunistischen Diktatur die „Kosten“ für die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft stark gestiegen (S. 536). Wustmann überträgt dieses Konzept auf die besitz- und bindungslosen Vertriebenen, für die die Kirche mit ihrem Sinnstiftungs- und Bewältigungsangebot eine hohe Attraktivität haben musste. Er stellt fest, dass „es zu einer Kirchenaustrittsbewegung von Vertriebenen im evangelischen Bereich ersichtlich nicht kam“ (S. 544).

Sicherlich stellt die Verbindung von historischer Migrationsforschung und Religionssoziologie ein fruchtbares Unterfangen dar. Auch die beobachtete verstärkte Hinwendung der Vertriebenen zur Kirche nach dem Vertreibungsgeschehen fügt sich in die Rational-Choice-Theorie ein. Zu diskutieren wäre allerdings, inwieweit das Konzept, das ja von einer „Kosten-Nutzenoptimierung unter Marktbedingungen“ (S. 535) ausgeht auf die Bedingungen der kommunistischen Diktatur übertragbar ist. Zwar würden die Vertreter dieser Theorie auch die Entscheidung für oder gegen Repression ebenfalls als rational kalkulierbare, freie Entscheidung bewerten. Ob man ein solches, die Unterschiede von Diktatur und Demokratie relativierendes Vorverständnis vom freien Handeln teilen möchte, ist allerdings eine andere Frage. Inwieweit sich repressive Umgebungsstrukturen als „Kosten-Faktor“ in die Rational-Choice-Theorie integrieren ließen, wäre jedenfalls erst noch zu diskutieren.

Offen bleibt auch die Frage, wie sich Theorie und Empirie zueinander verhalten und welcher Erkenntnismehrwert sich aus der Theorie, der man eine gewisse Selbstevidenz nicht wird absprechen können, konkret für diese Fragestellung ergibt: Wie erklärt sich die für Sachsen beobachtete Stabilität der Kirchenmitgliedschaft von Vertriebenen (vgl. S. 544) im Lichte der Theorie, wenn die Kirchen in der DDR zumindest langfristig gesehen eigentlich einen geringen Marktwert haben müssten? Die Frage, wie genau die innerkirchliche Integration im Sinne der Beheimatung der Vertriebenen in der Kirche nun zu bewerten ist, wird, nicht zuletzt in Ermangelung statistischen Quellenmaterials auch gar nicht beantwortet. Stattdessen verweist der Verfasser auf die Eigenbeobachtungen der Zeitgenossen. Denn wie er zu Recht feststellt, hängt jede Integrationsbilanz von der individuellen Erfahrung der Betroffenen, vom eigenen Standpunkt und vom „Verständnis des je eigenen Integrationsbegriffes“ ab (S. 546). Aus der Perspektive der Betroffenen ist der Integrationserfolg schlicht nicht generalisierbar und steht in einem gewissen Gegensatz zu einer generalisierenden Theorie. So bleiben Fragen offen, andererseits werden aber auch kausale Kurzschlüsse vermieden.

Trotz dieser Einwände kann bilanziert werden, dass Wustmann eine gut strukturierte, flüssig geschriebene Studie vorgelegt hat. Dabei ist es verschmerzbar, dass manche Aspekte vernachlässigt bzw. auch bewusst ausgeklammert werden, wie beispielsweise die Rekonstruktion theologischer Deutungsmuster, die gerade für die innerkirchlichen Integrationskonzepte eine große Rolle spielten, oder das Problem der verschiedenen Bekenntnisse innerhalb des Protestantismus. Bestehende Forschungsmeinungen kann Wustmann in vielen Punkten ergänzen oder korrigieren. Im Hinblick auf die Ostpfarrerversorgung wird in Abgrenzung zu Peter Maser ein optimistischeres Bild gezeichnet, ohne die Härten und Schwierigkeiten zu relativieren (S. 531).5 Wustmann kann damit insgesamt das Verdienst zugesprochen werden, erstmals die Integration der Ostvertriebenen in einer ostdeutschen Landeskirche umfassend und gründlich auf einer breiten Quellenbasis dargestellt zu haben.

Anmerkungen:
1 Hier sei lediglich auf eine Überblicksdarstellung verwiesen: Mathias Beer, Flucht und Vertreibung der Deutschen. Voraussetzungen, Verlauf, Folgen, München 2011.
2 So auch: Karl-Ludwig Sommer, Zwischen nationalen Rechtswahrungsansprüchen, „kirchlicher Neuordnung“ und praktizierter Nächstenliebe: Die evangelische Kirche und die Flüchtlinge in den ersten Nachkriegsjahren, in: Sylvia Schraut / Thomas Grosser (Hrsg.), Die Flüchtlingsfrage in der deutschen Nachkriegsgesellschaft, Mannheim 1996, S. 395–420.
3 Hartmut Rudolph, Evangelische Kirche und Vertriebene 1945 bis 1972. Bd. I: Kirchen ohne Land. Die Aufnahme von Pfarrern und Gemeindegliedern aus dem Osten im westlichen Nachkriegsdeutschland, Göttingen 1984. Auf die Bedeutung der Rolle der Kirchen bei der Integration in SBZ /DDR weist auch hin: Michael Schwartz, Vertriebene und „Umsiedlerpolitik“. Integrationskonflikte in den deutschen Nachkriegs-Gesellschaften und die Assimilationsstrategien in der SBZ/DDR 1945–1961. Veröffentlichungen zur SBZ/DDR-Forschung im Institut für Zeitgeschichte, München 2004, S. 545; zu kirchlichen Institutionen siehe S. 544–572.
4 Vgl. Rudolph, Evangelische Kirche, S. 320ff.
5 Peter Maser, Die Aufnahme der Flüchtlinge und Vertriebenen, in: Gerhard Besier / Eckehard Lessing (Hrsg.), Die Geschichte der Evangelischen Kirche der Union. Band 3: Trennung von Staat und Kirche, Kirchlich-politische Krisen, Erneuerung kirchlicher Gemeinschaft, Leipzig 1999, S. 649–671, hier: S. 661.

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