Titel
From the Womb to the Body Politic. Raising the Nation in Enlightenment Russia


Autor(en)
Kuxhausen, Anna
Erschienen
Anzahl Seiten
184 S.
Preis
$29.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alexa von Winning, Tübingen

Im Zentrum von Anna Kuxhausens Monografie steht eine Idee, die im Russland der Aufklärung eine große Anziehungskraft ausübte und den Blick auf Kinder und Kindheit grundlegend veränderte: Ärzte, Wissenschaftler, Autoren und die Herrscherin Katharina II. selbst waren beseelt von dem Gedanken, dass Säuglinge und Kinder eine unschätzbare Ressource für den Staat seien und ungeahnte Entwicklungspotentiale versprachen. Denn sie seien formbar und könnten mit der nötigen Aufmerksamkeit und Erziehung zur Grundlage eines neuen, aufgeklärten und starken Russlands werden. In ihrem kompakten Buch analysiert Kuxhausen die Pläne, Projekte und Diskurse, die ab der Mitte des 18. Jahrhunderts aus dieser Idee entstanden, und die Akteure, die das weite Feld der Pflege und Erziehung von Kindern reformieren wollten. Kuxhausen behält in ihrer Analyse die gesellschaftlichen und politischen Implikationen von Kindheit stets im Blick: Über das Prisma der Kindheit untersucht sie, wie sich die gebildeten Eliten ihre Rolle als Geburtshelfer einer aufgeklärten und zivilisierten russischen Nation vorstellten.

Mit der steigenden Bedeutung des Themas Kindheit wuchs auch die Zahl derjenigen, die sich an den Debatten um ihre Gestaltung beteiligten. Ratgeber, medizinische Richtlinien, Schulbücher, Memoiren, wissenschaftliche Publikationen und staatliche Papiere bilden die Quellengrundlage für Kuxhausens Monografie. All diese Dokumente teilten ein sehr weites Verständnis von „Wospitanije“, das am besten mit Fürsorge und Erziehung zu übersetzen ist: „Wospitanije“ sollte sich nicht mehr auf die intellektuelle Bildung älterer Kinder beschränken, sondern bereits bei Säuglingen einsetzen und neben Intellekt und Moral auch ihre physische Entwicklung fördern. Im Zentrum des Interesses an der Erziehung stand dabei der staatliche Nutzen. Mit einer sorgfältigen und aufgeklärten Erziehung aller Kinder könne Russland eine rapide Entwicklung hin zu „robuster Gesundheit, zivilisiertem Verhalten und moralischer Erneuerung auf der individuellen, gesellschaftlichen, nationalen und imperialen Ebene“ (S. 145) nehmen, so die Überzeugung aller prominenten Autoren. Diese Einschätzung des Potentials von guter Kindererziehung sei in Russland besonders enthusiastisch gewesen, was Kuxhausen mit der Überzeugung der Eliten begründet, dass Kinder einen Ausweg aus der rückständigen Position Russlands im europäischen Vergleich versprächen: „Alle der wahrgenommenen Schwächen Russlands – wie auch immer sie definiert wurden – könnten ausgeglichen werden, wenn alle Kindern des Reiches eine geeignete Erziehung erhalten würden.“ (S. 12)

Die einzelnen Kapitel des Buches folgen den Entwicklungsschritten eines Kindes von der Empfängnis bis zum Erwachsenenalter und nehmen jeweils die Absichten und Ambitionen der Reformer in den Fokus. Das erste Kapitel beschäftigt sich mit der Geburtshilfe und dem Bemühen von Ärzten und Experten, die Ausbildung der Hebammen zu verbessern. Das zentrale Ziel der Reformer, die Hebammen in ein System staatlicher Lizenzierung und wissenschaftlicher Kontrolle einzubinden, schlug jedoch fehl. Die Gründe des Misserfolgs identifiziert Kuxhausen in einem überzeugenden Vergleich: Im Gegensatz zu ähnlichen, allerdings erfolgreichen Bemühungen in Deutschland habe der russische Staat es versäumt, Mittlerinnen zwischen der männlichen Regierungswelt und den Hebammen einzusetzen, sondern sich lediglich auf Instruktionen und Gesetze gestützt und sei mit dieser zentralistischen Herangehensweise gescheitert.

Die physischen Aspekte der kindlichen Entwicklung stehen in zwei Kapiteln zum Stillen sowie zur Pflege des kindlichen Körpers im Mittelpunkt. Hier arbeitet Kuxhausen heraus, wie sich männliche Wissenschaftler und Experten bemühten, diese Tätigkeitsfelder von Frauen zu reformieren. Weiblicher Aberglaube und weibliche Traditionen sollten durch eine professionelle, männliche Wissenschaft und männliche, aufgeklärte Anleitung umgeformt werden. Die Reformer begründeten ihre Neuerungen nicht nur mit dem Verweis auf deren Wissenschaftlichkeit, sondern bemühten auch immer wieder den Nutzen, den der Staat aus einer gesunden und kräftigen Bevölkerung ziehen könne. Zwei abschließende Kapitel sind schließlich der moralischen und intellektuellen Erziehung von Kindern im Schulalter gewidmet. Bei diesen Themen ging es den Reformern explizit um den russischen nationalen Charakter. Die Grundlage für eine moderne und starke russische Identität sahen sie in der Orthodoxie, die durch aufklärerische Tugenden und Lehrmethoden verfeinert werden sollte. Dieses Idealbild galt, mit einigen Variationen nach sozialem Status und Geschlecht, für alle Kinder. Darüber hinaus entwickelten die Reformer Vorstellungen von aufgeklärter Männlichkeit und Weiblichkeit, die von den staatlichen Bildungseinrichtungen (und nicht etwa von den Eltern) vermittelt werden sollten.

Ärzte und Wissenschaftler waren die zentralen Schrittmacher der veränderten Perspektive auf die Kindheit. Darüber hinaus sieht Kuxhausen in diesen Akteuren zugleich die Repräsentanten der neuen männlichen Identität. Zentral für den Status dieser Männer waren nicht edle Herkunft, Reichtum oder Nähe zur Krone, sondern vielmehr ihre wissenschaftlichen Meriten. Sie verbanden ihre europäische Ausbildung mit einer Verwurzelung im orthodoxen Glauben, die viele von ihnen als ehemalige Seminaristen für sich beanspruchten. Diese neuen Männer brauchten jedoch aufgeklärte Frauen an ihrer Seite, wie sie beispielsweise am Smolny-Institut erzogen werden sollten.

Die gewichtige Rolle, die die aufgeklärte Autokratie unter Katharina II. bei der Kindererziehung für sich beanspruchte, arbeitet Kuxhausen an zahlreichen Stellen ihres Buches heraus. Sie will jedoch nicht das Bild einer alles dominierenden Autokratie zeichnen, sondern betont mit den Reformern der Kindheit eine Gruppe von Individuen, die im Rahmen der autokratischen Strukturen eigenständig aktiv wurden. Der Staat war für diese Reformer zweifellos der zentrale Bezugspunkt, zugleich wandten sie sich in ihren Publikationen aber explizit an eine (tatsächliche oder imaginäre) Öffentlichkeit, die über die Qualität ihrer Schriften entscheiden solle. Kuxhausen will sich so einem „nuancierten, dynamischen Blick auf Aktivität innerhalb des russischen autokratischen Staats“ (S. 7) anschließen und diesen Blick um die Dimension des Geschlechts erweitern.

Es war das Ziel der Reformer, die Kindheit aus dem privaten, vornehmlich weiblichen Bereich herauszulösen und zu einer Angelegenheit von staatlicher Wichtigkeit zu machen. Kuxhausen arbeitet heraus, warum diese Strategie im Russland unter Katharina II. erfolgreich war – und zeigt damit zugleich, dass das Thema der Kindheit tatsächlich ein großes Erkenntnispotential auch für eine allgemeine Geschichte des russischen Reichs und seiner Gesellschaft bietet. Ihre konzeptionelle Herangehensweise überzeugt und die Monografie bietet einen guten Einstieg in das Thema der Kindheit und seine Bedeutung im Russland der Aufklärung. Allerdings tun sich in der Umsetzung an einigen Stellen Lücken auf. Wichtige Teile der bestehenden Forschung zur Erziehung im 18. Jahrhundert bleiben unberücksichtigt, darunter viele russische Werke.1 Dies hat zur Folge, dass manche der Einzelthemen an anderer Stelle bereits besser oder tiefergehend untersucht worden sind, z.B. wie die Ärzte das Argument der „Wissenschaftlichkeit“ einsetzten, um ihrem medizinischen Wissen Geltung zu verschaffen.2 Spezialist/innen mögen die Monografie daher mit etwas weniger Gewinn lesen, als es der Titel verspricht.

Anmerkungen:
1 Beispielsweise Publikationen von Ol’ga E. Košeleva, einer Spezialistin zur Geschichte der russischen Kindheit: Ol’ga E. Košeleva, "Svoe detstvo" v drevnej Rusi i v Rossii ėpochi prosveščenija, Moskau 2000.
2 Andreas Renner, Russische Autokratie und europäische Medizin: organisierter Wissenstransfer im 18. Jahrhundert, Stuttgart 2010.