G. Hohendorf: Geschichte und Ethik der Sterbehilfe

Cover
Titel
Der Tod als Erlösung vom Leiden. Geschichte und Ethik der Sterbehilfe seit dem Ende des 19. Jahrhunderts


Autor(en)
Hohendorf, Gerrit
Erschienen
Göttingen 2013: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
327 S.
Preis
€ 28,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Maximilian Eberhard, Institut für Politikwissenschaft, Universität der Bundeswehr München

Der programmatische Ruf nach aktiver Sterbehilfe ertönte an der Schwelle zum 20. Jahrhundert – mit gravierenden Folgen, denn die Diskussion des Lebenswerts, die der moderne Euthanasiediskurs etablierte, stellte eine Voraussetzung nationalsozialistischer Krankenmorde dar. Gerrit Hohendorfs Monographie setzt genau an diesem Zeitpunkt an. Damit wählt sie einerseits einen kleineren Zeitausschnitt als Udo Benzenhöfers umfassende Geschichte der Euthanasie 1, andererseits transzendiert sie die Studien zur NS-„Euthanasie“ und ihrer Vorgeschichte in die Gegenwart.

Dies geschieht nicht nur aus zeithistorischem Interesse. Denn Hohendorf möchte Medizingeschichte und -ethik zusammenführen, die tatsächlich „gerne isoliert voneinander betrieben“ (S. 10) werden. 2 Es geht ihm um die „Frage nach der Bedeutung der historischen Erfahrung der NS-‚Euthanasie‘ für unsere gegenwärtigen ethischen Debatten“ (S. 7). Grundsätzlich beantwortet wird sie in einem Kapitel über die Auseinandersetzung um das Geschichtsargument. Hier werden sowohl Positionen zurückgewiesen, die eine historisch unbelastete Debatte wünschen, als auch solche, die mit simplen Analogieschlüssen arbeiten. Hohendorf zielt dagegen auf ein behutsames Lernen aus der Geschichte, und das heißt, „die Entstehungsbedingungen und die Nachwirkungen der Verbrechen zu analysieren, um dann zu einem vertieften Problemverständnis [...] zu kommen“ (S. 17f.).

Vor die Darstellung der Krankenmorde rückt daher eine Analyse des modernen Euthanasiediskurses in Deutschland. Er bewirkte eine Neudefinition des Begriffs als aktive Sterbehilfe, während die frühneuzeitliche „euthanasia medica“ bloße Sterbebegleitung angestrebt hatte. Prägnant zeichnet Hohendorf nach, wie bereits in Adolf Josts Gründungsdokument des Diskurses ein „Recht auf den Tod“ (1895) sowohl individual-, als auch sozialutilitaristisch begründet wurde. Zugleich wurde darin die Tötung auf Verlangen mit der „Erlösung“ unheilbar Geisteskranker vermengt. Stand bis zum Ersten Weltkrieg der selbstbestimmte Tod im Zentrum der Debatten, so fokussierten sie sich anschließend auf die gesetzliche „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ (1920) gemäß Binding und Hoche – eine Akzentverschiebung, die in den sozioökonomischen Krisen der Zeit widerhallte. Was das umstrittene Verhältnis von Euthanasiedebatte und Rassenhygiene betrifft, betont Hohendorf, dass sie, trotz ihrer gemeinsamen Wurzel im sozialdarwinistischen Denken, „nicht in einem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis“ (S. 38) standen. Programme negativer Eugenik konnten auf die Forderung nach Freigabe der Euthanasie verzichten, die wiederum zumeist reinen Nützlichkeitserwägungen folgte.

Dass ferner der NS-Krankenmord nicht als Ergebnis „fortschreitender Radikalisierung des rassenhygienischen Paradigmas“ (S. 99) zu betrachten ist, wird anhand der Selektionspraxis der „Aktion T4“ gezeigt. 3 Waren es doch vor allem „anstaltsspezifische Kriterien“ (S. 107) wie ökonomische Brauchbarkeit und Anpassungsfähigkeit, die – im Gegensatz zur Erblichkeit des Leidens – über Überlebenschancen entschieden. Als ideologischer Wegbereiter der Krankenmorde hat die rassenhygienische Ungleichbewertung menschlichen Lebens, so Hohendorf, gleichwohl „eine nicht zu unterschätzende Rolle“ (ebd.) gespielt. Gleiches gilt für die schon zur Weimarer Zeit geläufigen Kategorien von „Ballastexistenzen“ und „nutzlosen Essern“. Aus der Reihe von Teilaspekten von Hohendorfs Schilderung sei hier nur mehr auf zwei weitere verwiesen: So stellt er seinen übersichtlichen Skizzen verschiedener Phasen der NS-„Euthanasie“ ab 1939 Überlegungen zum Zusammenhang von Krieg und Krankenmord voran. Erst die kriegsbedingte Notsituation sollte die Tötung psychisch Kranker und geistig Behinderter als gerechtfertigt erscheinen lassen. Und gerade mit Blick auf ihre „dezentralen“ Formen hebt er hervor, dass es sich bei der NS-„Euthanasie“ um kein „einheitliches Geschehen mit klar zuzuordnender hierarchischer Befehlsstruktur“ (S. 130) handelte.

Nach einer Schilderung des zwiespältigen Umgangs mit den „Euthanasie“-Verbrechen in der Nachkriegszeit, nähert sich Hohendorf der zeitgenössischen Kontroverse. Dabei werden einige Marksteine der Debatte gestreift: die Auseinandersetzung um die „Praktische Ethik“ (1979) Peter Singers; die Diskussion um den Abbruch lebensverlängernder Maßnahmen bei Entscheidungsunfähigkeit; und die Frage nach der Zulässigkeit (ärztlicher) Suizidbeihilfe, die augenblicklich die Debatte dominiert. Probleme der Früheuthanasie und des vorausverfügten Sterbens werden, ebenso wie beispielhaft liberale Sterbehilfepraxen anderer Länder, gesondert besprochen. Resümierend lässt sich sagen: Sowohl aus juristischer, als auch medizinethischer Sicht wird heute „das Selbstbestimmungsrecht des Patienten auch in der Frage der Gestaltung seines Sterbens immer stärker betont“ (S. 147). Das „moralische Paradox“ (S. 177), das damit einhergeht, zeigt Hohendorf in seiner souveränen Skizze bioethischer Positionen im Banne des Autonomiearguments auf. Wird doch gewöhnlich individuelle Selbstverfügung über den Tod an Zulässigkeitskriterien gebunden – und dadurch eingeschränkt.

Als Ergebnis seiner Studie legt Hohendorf „epochenübergreifende Strukturmomente“ (S. 191) deutschen Euthanasiedenkens offen. Ein erstes erkennt er in der Legitimationsfunktion des Mitleids. Nicht Empathie, sondern ein „den Anderen in seinem Leiden [...] verachtendes Mitleid“ (S. 192) charakterisierte die Geschichte der NS-„Euthanasie“. Emotionale Aspekte heutiger Plädoyers seien deshalb auf die Ambivalenz des Mitleidstopos zu prüfen. Ein zweites Strukturmoment stellen Ressourcenkalküle dar. Und obgleich ökonomische Argumente derzeit nur indirekt anklingen, stellt Hohendorf die Befürwortung freiwilliger Euthanasie in den Kontext eines krisenhaften Gesundheitswesens. Als drittes Strukturmoment wird eine „Tendenz zur Ausweitung“ (S. 200) des Euthanasiepostulats ausgemacht, denn auch der zeitgenössischen Diskussion werden expansive Neigungen bescheinigt. Längst kreist sie nicht bloß um Tötung auf Verlangen bei Sterbenskranken, sondern erwägt Suizidassistenz bei schweren Leiden; die Gedankenfigur des mutmaßlichen Willens sowie Patientenverfügungen gestatten zudem Sterbehilfe bei Einwilligungsunfähigkeit (z. B. Wachkoma). Weitere Strukturmomente bestehen darin, dass auch im aktuellen Diskurs unbedingtes Recht auf Leben „vom Vorliegen personaler Eigenschaften“ (S. 203) abhängig gemacht wird und Töten als ärztliche Aufgabe gilt.

Dass Hohendorf gegen aktive Sterbehilfe auf Verlangen Partei ergreift, beruht auf dem „Slippery-Slope-Argument“, das auf Grundlage vorheriger Betrachtung formuliert wird: Ein im Grunde moralisch vertretbarer Akt sei wegen seiner verwerflichen Folgen verbotswürdig. Hohendorf denkt dabei einmal an Pflegebedürftige, die aus einem Gefühl des „Zur-Last-Fallens“ Sterbehilfe wünschen – eine ernsthafte Gefahr, da neben inneren, krankheitsbedingten auch äußere Zwänge wie sozialer Druck Entscheidungen zum Tod beeinflussen. Vor allem aber fürchtet er den „Übergang von der freiwilligen zur nichtfreiwilligen Euthanasie“ (S. 212). Er folge aus dem logischen Schluss, im Sinne der Gleichbehandlung Äußerungsunfähige nicht von Sterbehilfe auszuschließen.

Nun mahnt Hohendorf zurecht, dass das Konzept des mutmaßlichen Willens „offen für allgemeine Vorstellungen von Lebensqualität“ (S. 215) sei, und auch bei Patientenverfügungen lauert „die Gefahr der Fremdbestimmung“ (ebd.). Allerdings bleiben seine Aussagen hierzu unbestimmt: Der Bandbreite möglicher Motive, die heute soziale Lebenswerturteile begründen könnten, wird nicht systematisch auf den Grund gegangen. Die Befürchtung, dass Interessen Dritter „mit der Zeit auch explizit als akzeptable Gründe für medizinische Lebensbeendigung anerkannt werden“ (S. 213), bleibt darüber hinaus spekulativ. Letztlich verleihen, wie Hohendorf weiß, erst empirische Nachweise einem „Argument schiefer Ebene“ Geltung. Doch die entnimmt er hauptsächlich dem historischen Beispiel, das sich unter spezifischen herrschaftspolitischen und geistesgeschichtlichen Bedingungen vollzog. Argumentationslogisch mag das stimmig sein. Wird so aber nicht entgegen aller Bekundung „ein ethischer Imperativ der Geschichte“ (S. 191) abgeleitet?

Trotz solcher Unwägbarkeiten ist Hohendorfs inhaltsreiches Buch überaus lesenswert. Allen, die an einer Verknüpfung von Geschichte und Ethik der Sterbehilfe interessiert sind, bietet es wichtige Anknüpfungspunkte zum Weiterdenken. Daneben gewähren die geschichtlichen Kapitel brauchbare Überblicksdarstellungen, die nicht allein für ein Fachpublikum geeignet sind.

Anmerkungen:
1 Udo Benzenhöfer, Der gute Tod? Geschichte der Euthanasie und Sterbehilfe, Göttingen 2009.
2 Eine Ausnahme bildet der Sammelband: Andreas Frewer/Clemens Eickhoff (Hrsg.), „Euthanasie“ und die aktuelle Sterbehilfe-Debatte. Die historischen Hintergründe medizinischer Ethik, Frankfurt/M. 2000.
3 Hohendorf bezieht sich dabei auf wesentliche Ergebnisse eines DFG-Projektes zu den zugehörigen Krankenakten: Gerrit Hohendorf (als Mithrsg.), Die nationalsozialistische „Euthanasie“-Aktion T4 und ihre Opfer. Geschichte und ethische Konsequenzen für die Gegenwart, Paderborn 2010.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension