C. Reves: Die Brentano-Familien im 17. und 18. Jahrhundert

Cover
Titel
Vom Pomeranzengänger zum Großhändler?. Netzwerke und Migrationsverhalten der Brentano-Familien im 17. und 18. Jahrhundert


Autor(en)
Reves, Christiane
Reihe
Studien zur historischen Migrationsforschung 23
Erschienen
Paderborn 2011: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
369 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Robert Brandt, Goethe-Universität Frankfurt am Main

An Publikationen über die italienischen Kaufmannsfamilien, die seit dem 17. Jahrhundert ihre Handelskreise sukzessive in Städte und Regionen nördlich der Alpen verlagerten, herrscht kein Mangel. Rar gesät sind aber Studien, welche nicht nur die in deutschen, sondern auch in italienischen Archiven lagernden Quellen ausgewertet haben. Dies leistet die in überarbeiteter Form vorliegende Dissertation von Christiane Reves zu Migration und Netzwerken der italienischen Kaufmannsfamilien Brentano. Dominierte in der bisherigen Forschung die Untersuchung einzelner Etappen, so nimmt die Autorin den gesamten Migrationsprozess von Italien bis Deutschland in den Blick.

Aus den ca. drei Dutzend Kaufmannsfamilien, die in der Frühen Neuzeit in den Norden migrierten, hat Reves die vom Comer See stammenden Familien Brentano ausgewählt. Nach einer kurzen Einleitung, in der die Autorin ihr Verständnis von Migrationsforschung und Netzwerkanalyse erläutert, werden in sieben Kapiteln soziale und ökonomische Stellung in der Herkunftsregion, Handels- und Migrationstraditionen in Oberitalien sowie Netzwerke, ökonomische Konflikte und die Integration in der Zielregion, vor allem in Frankfurt am Main, untersucht.

Für Kaufleute und Handwerker vom Comer See lässt sich eine zum Teil bis ins Mittelalter zurückreichende Migrations- und Handelstradition nachweisen. Migration war in dieser Region meist „nicht das Resultat einer Ausnahme- oder Notsituation, sondern ein fester Bestandteil des Lebens“ (S. 63). Auch in den Brentano-Familien, die überwiegend der dörflichen Oberschicht angehörten, hatte Migration eine lange, bis ins 15. Jahrhundert nachweisbare Tradition. Ein zum Teil recht stattlicher Grund- und Immobilienbesitz, der meist verpachtet bzw. vermietet wurde, bildete die ökonomische Basis von Handel und Migration. Der Grund für die Migration war das Streben nach geschäftlicher Expansion und weiterem sozialen Aufstieg. Ab dem 17. Jahrhundert sollen „mehr als zwei Drittel aller Brentano-Familien in irgendeiner Weise an Handel und Migration beteiligt“ (S. 157) gewesen sein.

Grundlage des beachtlichen europaweiten Erfolges war ein dreistufiges Netzwerk: Die Basis bildeten vielfältige familiäre, ökonomische und kulturelle Verbindungen zur oberitalienischen Herkunftsregion, zu denen neben dem Immobilienbesitz unter anderem auch die Vergabe von Krediten und Prokura sowie kirchliche Stiftungen in den Heimatdörfern zählten. Die zweite Ebene des Netzwerks bildeten die kleinen, zeitlich begrenzten Handelsgesellschaften mit zwei bis acht Gesellschaftern, „in der Regel […] Verwandte und in Ausnahmefällen auch Freunde“ (S. 337). Ähnliches galt für die dritte Ebene, für die geschäftlichen und privaten Beziehungen der Kaufleute vom Comer See an den verschiedenen europäischen Handelsplätzen. Auch hier blieb man weitgehend unter sich; Vertrauen basierte auf Verwandtschaft, Region und gemeinsamer Kultur.

In den Zielregionen verliefen Einstieg und Etablierung auf den Märkten alles andere als konfliktfrei. Die Verteilungskämpfe auf den Frankfurter Märkten, wo es schon etliche Kaufleute und Krämer gab, die mit den gleichen Waren handelten, führten des Öfteren zu Auseinandersetzungen, die bis vor die Reichsgerichte getragen wurden. Die Brentano-Familien versuchten ihre Position auf den Märkten durch den Erwerb des Beisassenstatus oder die Aufnahme in das Bürgerrecht zu verbessern, was aber bei der mehrheitlich lutherischen Bürgerschaft auf Ablehnung stieß. Durch die Interventionen Wiens, und weil der Rat die Interessen der Bürgerschaft in dieser Frage immer öfter ignorierte, gelang nach 1730 immer mehr italienischen Kaufleuten die Aufnahme in das Bürgerrecht. In der Folge setzte allmählich die ökonomische und kulturelle Ablösung von der oberitalienischen Herkunftsregion ein; die temporäre Migration der Kaufleute ging in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sukzessive in eine dauerhafte Abwanderung über. Die Ehefrauen folgten schließlich ihren Männern, zugleich wurden immer öfter Ehen mit deutschen Frauen geschlossen. Einzelnen Brentano-Familien gelang im 18./19. Jahrhundert der Aufstieg zunächst in die ökonomische, dann in die politische Elite Frankfurts und schließlich weit darüber hinaus, wofür die Namen Clemens Brentano und Bettine von Arnim, geborene Brentano, stehen.

Die Stärke der flüssig geschriebenen Arbeit liegt in der Verbindung, die sie zwischen der älteren deutschen und der italienischen Forschung herstellt, indem zugleich die Situation in den Ausgangsorten, die Wanderung an sich sowie die Lebenssituation der Kaufleute in den Zielorten in den Blick genommen werden. Dabei kann so manche ältere Vorstellung wie die vom armen italienischen Pomeranzenhändler, der es in der Fremde zum Erfolg brachte, korrigiert werden.

Jedoch bleiben in Reves Monographie etliche Fragen offen. Die Arbeit ist überwiegend deskriptiv angelegt, ausführlich wird aus den interessanten Quellen zitiert; jedoch erfolgt zu selten eine Auswertung des Materials entlang aktueller geschichtswissenschaftlicher Debatten. Die Netzwerke beispielsweise werden beschrieben, aber eine sozialwissenschaftliche Netzwerkanalyse wird nicht geboten. Störend ist in diesem Zusammenhang die stete Verwendung des Begriffs „Clan“ für die Brentano-Familien, ohne dass dieser Begriff definiert, geschweige denn problematisiert wird.

Unklar bleiben die Veränderungen nach 1730: Die Autorin verweist auf das komplexere Netzwerk der Brentano-Familien, das es ihnen ermöglicht habe, Waren wie beispielsweise Südfrüchte über Verwandte in Italien günstig zu beziehen. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts spielten diese Netzwerke dann eine immer geringere Rolle und wurden durch neue Netzwerke in der Zielregion ersetzt. Die Akteure, Strukturen und Regeln dieser neuen Netzwerke werden aber nicht weiter beschrieben. Unklar bleibt auch, was sich nach 1750 eigentlich ökonomisch änderte, etwa ob die Brentanos mit der Integration in die städtische Gesellschaft ganz neuen Geschäften in anderen Branchen nachgingen.

Generell interessiert sich die Autorin nicht wirklich für Wirtschaftsgeschichte, obwohl sie ein genuin wirtschaftshistorisches Thema bearbeitet. Folglich werden Prozesse der Marktbildung angesprochen, aber nicht näher untersucht; eine Auseinandersetzung mit der entsprechenden Forschung fehlt weitgehend. Dabei hätten sich gerade die Brentano-Familien beispielsweise für eine nähere Betrachtung des Zusammenhangs von Rechtsbruch und vorindustriellen Märkten angeboten, war doch das bewusste Unterlaufen der geltenden Rechtsnormen zumindest in den ersten Jahrzehnten integraler Bestandteil des Geschäftsmodells der oberitalienischen Kaufleute.

Auch hätte man an dieser Stelle gerne etwas zur Konsumgeschichte gelesen; das seitenweise Aufzählen von Luxusgütern, mit denen die italienischen Kaufleute handelten, kann nur ein erster Schritt in diese Richtung sein. Die Autorin hätte sich dann gar nicht erstaunt zeigen müssen, dass der Rat den Beschwerden der bürgerlichen Krämer über die italienischen Kaufleute häufig nicht gerade energisch nachging: Auch Ratsmitglieder dürften diese Waren konsumiert haben! Der Nahrungsbegriff, mit dem die Krämer ihre Beschwerden über die italienischen Kaufleute zu untermauern versuchten, wird erwähnt; die Forschungen zur Nahrungssemantik wurden aber nicht rezipiert. Stattdessen präsentiert die Autorin die italienischen Kaufleute als Vertreter des „freien Handels“ – eine Formulierung, welche die Italiener bzw. ihre Advokaten benutzten. Die Autorin legt hier, wie an vielen anderen Stellen auch, die Quellen schlicht wörtlich aus, ohne zu berücksichtigen, dass die italienischen Kaufleute und ihre Advokaten – wie auch die Gegenseite – in ihren Supplikationen und Prozessschriften bestimmte Strategien und Semantiken wählten, um ihre Interessen beim Rat durchzusetzen. Ob die italienischen Kaufleute Anhänger von so etwas wie einer freien Marktwirtschaft waren, lässt sich diesen Quellen nicht wirklich entnehmen. Plausibler ist, dass die Brentano-Familien im 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts am jeweiligen Ort lediglich den größtmöglichen wirtschaftlichen Vorteil suchten, ohne sich lokal wirklich festlegen zu müssen; der Bruch der geltenden Handelsnormen konnte hierbei eine von mehreren Praktiken sein. Mit der sukzessiven Integration in die reichsstädtische Gesellschaft Frankfurts in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ließ man die illegalen Praktiken hinter sich und genoss bürgerliche Handelsfreiheiten bzw. Handelsprivilegien.

Die Ausführungen zur wirtschaftshistorischen Zauberformel „Vertrauen“, auf dem die Handelsunternehmen der Brentano-Familien ruhten, hätten sicher gewonnen, wäre auch die einschlägige Literatur rezipiert worden. Gerne hätte man auch Näheres über die Verlierer unter den Brentanos erfahren: An einer einzigen Stelle wird in dem Buch von der Armut unter erfolglosen Unternehmern und am Handel nicht beteiligten Brentanos gesprochen, leider ohne Beispiele und Belege (S. 123). Die Ausführungen zu den Anfang des 18. Jahrhunderts immer härter werdenden Konflikten mit den bürgerlichen Krämern in Frankfurt hätten an Kontur gewonnen, wenn deutlicher herausgestellt worden wäre, dass sie Teil eines viel größeren politischen Konflikts waren, des so genannten Frankfurter Verfassungskonflikts, der die Reichsstadt beinahe drei Jahrzehnte erschütterte.

Diese zahlreichen Einwände trüben das Gesamtbild der Arbeit: Der Erschließung vieler neuer interessanter Quellen stehen Analysen und Interpretationen gegenüber, die etliche Fragen offen lassen.

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