J. Schröder: Die Münchner Polizei und der Nationalsozialismus

Cover
Titel
Die Münchner Polizei und der Nationalsozialismus.


Autor(en)
Schröder, Joachim
Reihe
Veröffentlichungen des Bayerischen Polizeimuseums 1
Erschienen
Anzahl Seiten
208 S.
Preis
€ 18,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sven Deppisch, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München

Angestoßen durch die Pionierarbeit von Christopher Browning und die „Goldhagen-Debatte“1 entwickelte sich die Geschichte der Polizei im NS-Staat in den vergangenen 20 Jahren zu einem wichtigen Bereich zeitgeschichtlicher Forschung. Eine wachsende Anzahl entsprechender wissenschaftlicher Studien sowie einige Ausstellungen liefern dafür den Beweis.2 Für den süddeutschen Raum waren derlei Initiativen lange Zeit allerdings ein ausgesprochenes Desiderat. Jüngst stellte sich jedoch die Polizei in München dem dunkelsten Kapitel ihrer Vergangenheit: Mit ihrer unrühmlichen Rolle im „Dritten Reich“ befasste sich die Ausstellung „Die Münchner Polizei und der Nationalsozialismus“. Sie gastierte vom 9. November 2012 bis Anfang des darauffolgenden Jahres im Rapportsaal des Polizeipräsidiums und wurde durch eine kleine Vortragsreihe ergänzt. Um dieses Vorhaben zu realisieren, hatten seit 2009 zehn Polizeibeamte in einem Arbeitskreis die Geschichte ihrer Behörde untersucht, wobei sie eine Forschergruppe des NS-Dokumentationszentrums unterstützte, die der Historiker Joachim Schröder leitete. Er fungiert auch als Autor des gleichnamigen Katalogs zur Ausstellung, der knapp ein Jahr später erschienen ist. Die meisten Beiträge tragen daher seinen Namen, wobei zehn weitere Verfasser an der Publikation ebenfalls mitgewirkt haben.

Das 208 Seiten umfassende Buch besteht aus drei Teilen, die sich in insgesamt 20 Unterkapitel gliedern. Diese basieren auf jenen Plakaten, aus denen die Ausstellung hauptsächlich bestand. Das Werk behandelt die Geschichte der Münchner Polizei von der Weimarer Republik bis in die Nachkriegszeit, wobei die Phase der NS-Diktatur aus naheliegenden Gründen den Großteil der Publikation einnimmt.

Im ersten Teil des Ausstellungskataloges widmen sich Walter Nickmann und Joachim Schröder der Frage, wie die Münchner Staatsmacht auf den Aufstieg der Nationalsozialisten in den 1920er-Jahren reagierte. Die „Ordnungszelle Bayern“ war nach der gescheiterten Räterevolution ein Hort für rechtsradikale Gegner der jungen Demokratie. Wie die Autoren darlegen, begünstigte diesen Umstand Ernst Pöhner, der als Polizeipräsident in der Landeshauptstadt sogenannte Fememörder wie die terroristische Organisation Consul deckte. Dadurch entstand ein Klima, in dem etliche Münchner Polizisten mit der NSDAP sympathisierten und sich in ihr sogar betätigten. Beim vereitelten Hitler-Putsch im November 1923 versuchten die Aufständischen etwa den späteren Reichsinnenminister Wilhelm Frick, der seinerzeit einen hohen Posten in der damaligen Polizeidirektion bekleidete, zum Polizeipräsidenten zu machen. Auch wenn die Staatsgewalt nach diesem Ereignis deutlich schärfer gegen die Nationalsozialisten vorging, konnte sie die Machtübernahme Hitlers nicht verhindern.

Der zweite Teil konzentriert sich zunächst auf die Phase der „Machtergreifung“. Immo Opfermann und Joachim Schröder betonen zu Recht, dass der Reichsführer-SS Heinrich Himmler seine steile Karriere im März 1933 als Polizeipräsident von München begann. Der spätere Chef der Deutschen Polizei etablierte zusammen mit Reinhard Heydrich, dem Chef des Sicherheitsdienstes der SS, ein System des Terrors, welches zum Modell für den gesamten NS-Staat wurde. Obwohl die Führungspositionen innerhalb der Münchner Polizei nun an linientreue Nationalsozialisten fielen, veränderte sich ihr Personalbestand nur geringfügig. Schließlich bot das Regime vielen Beamten Möglichkeiten zu rasantem Aufstieg, worauf der Beitrag von Schröder, Daniel Fritsch und Martin Winkler hinweist.

Doch von einer „normalen“ Tätigkeit der Staatsmacht kann keine Rede sein: Wie im übrigen Reichsgebiet verfolgte die Polizei auch in München politisch und rassisch definierte Gegner, zu denen etwa Widerstandskämpfer, Homosexuelle, ausländische Zwangsarbeiter und Juden zählten. Diesen Terror, den die nächsten fünf Kapitel recht allgemein beschreiben, verübten die Gestapo, aber auch andere Sparten der Polizei. Spezialisiert auf die Verfolgung von Sinti und Roma war die „Dienststelle für Zigeunerfragen“ der Münchner Kriminalpolizei. Wie Schröder und Fabian Frese zeigen, verwirklichten zahlreiche ihrer Mitarbeiter auch auf Reichsebene eine Politik, die während des Zweiten Weltkriegs für die meisten ihrer Opfer den sicheren Tod bedeutete. Auch die Münchner Polizei deportierte zahlreiche „Zigeuner“ nach Auschwitz, wo sie ermordet wurden.

Die drei folgenden Kapitel widmen sich sodann den Verbrechen von Einheiten der Münchner Sicherheits- sowie der Ordnungspolizei im „auswärtigen Einsatz“ und deren Rolle im Holocaust. Marcus Schreiner-Bozic befasst sich etwa mit dem Reserve-Polizeibataillon 72, das in München aufgestellt, Ende 1939 nach Polen und im April 1941 nach Slowenien entsendet wurde. In diesen Besatzungsgebieten verübte diese Einheit der Ordnungspolizei zahlreiche Verbrechen an Juden sowie an der hiesigen Zivilbevölkerung. Welche Taten das Polizeibataillon konkret beging und wie deutsche Gerichte seine Angehörigen nach Kriegsende strafrechtlich verfolgten, wird nur allzu knapp abgehandelt, obwohl die gängigen Handbücher dazu genauere Informationen liefern.3

Der Beitrag „Handlungsspielräume“ von Heike Mattern und Joachim Schröder zeigt ferner, dass Polizisten sich vielfach dem NS-System anpassten, jedoch im Einzelfall auch dem Druck des Staatsapparats standhalten konnten. Dieses Verhaltensspektrum offenbart sich nicht zuletzt in der Fülle an Kurzbiographien, mit denen das Buch angereichert ist. Angenehm fällt auf, dass diese knapp umrissenen Werdegänge individuelle Lebensgeschichten schildern, was der Münchner Institution ein Gesicht gibt. Dazu tragen auch die zahlreichen Abbildungen und Fotografien bei, die das Buch durchziehen. Dadurch wirkt es jedoch weniger wie das Produkt wissenschaftlicher Forschung als vielmehr wie ein aufwendig gestaltetes Bilderbuch zur Geschichte der Münchner Polizei.

Im dritten Teil des Katalogs erfährt der Leser schließlich, wie die amerikanischen Besatzer die Münchner Polizei nach Kriegsende reformierten – und wie ehemalige Beamte des „Dritten Reichs“ wieder in den Staatsdienst gelangten, obwohl sie an den Verbrechen des nationalsozialistischen Polizeistaats beteiligt waren. Die Täter wurden nur in den wenigsten Fällen strafrechtlich zur Verantwortung gezogen; die Verfahren endeten jedoch zumeist mit geringen Strafen oder gar Freisprüchen. Auch einige der alten Denkweisen innerhalb der Beamtenschaft bestanden in der Nachkriegszeit fort. Die Ordnungshüter nahmen erneut Homosexuelle oder Sinti und Roma ins Visier, die in der Bundesrepublik lange Zeit darum kämpften, als Opfer des NS-Terrors anerkannt zu werden. Bis in die 1980er-Jahre hinein dienten den bayerischen Behörden etwa die Unterlagen der Münchner „Zigeunerpolizeistelle“ dazu, diese Minderheiten zu überwachen und weiterhin zu diskriminieren.

Die kurzen Kapitel führen in leicht verständlicher Sprache durch die Geschichte der Münchner Ordnungsmacht. Die Texte regen den Appetit des Lesers an, ohne diesen jedoch angemessen zu stillen. Dies liegt daran, dass die Beiträge die einzelnen Themen nicht erschöpfend behandeln und deshalb bestimmte Informationen unterschlagen. So erwähnt das Buch beispielsweise nicht, welche Rolle die Polizei bei den antisemitischen Krawallen in München im Frühjahr 1935 spielte.4 Zwar darf nicht vergessen werden, dass es sich bei dem Werk um einen Begleitband zur Ausstellung handelt. Doch waren die Macher zu sehr bemüht, die Gestalt ihrer Schau auch auf das Medium Buch zu übertragen, wodurch sie das Potenzial des Forschungskomplexes leider nicht ausschöpften. Sachkundige wie auch jene Leser, welche gerade Polizeigeschichte für sich entdecken, hätten zweifellos mehr profitiert, wenn die Autoren die einzelnen Themen eingehender ausgearbeitet hätten.

Der Arbeitskreis betont, er habe „nicht den Anspruch verfolgt, die bis heute von der Forschung insgesamt bemerkenswert vernachlässigte Geschichte der Münchner Polizei umfassend aufzuarbeiten und darzustellen“ (S. 11). Aus diesem Grund hält sich leider auch der wissenschaftliche Mehrwert dieser Publikation deutlich in Grenzen. Denn wer grundlegend neue Erkenntnisse erwartet, wird eher enttäuscht. Anzuerkennen bleibt, dass sich die Polizei in München aus ihren eigenen Reihen heraus mit ihrer Vergangenheit befasst und ein Werk erarbeitet hat, das für jene Leser gedacht sein dürfte, die sich erstmalig mit dem Thema konfrontiert sehen. Auf diese Weise vermag das Buch einer breiten Öffentlichkeit auch außerhalb der bayerischen Landeshauptstadt vor Augen zu führen, wie deutsche „Gesetzeshüter“ im NS-Staat und in Hitlers Vernichtungskrieg tätig waren. Angesichts der knapp vier Jahre dauernden Arbeit und der Größe der Forschergruppe ist der Katalog daher zwar schön anzuschauen, als Ergebnis einer solch intensiven Recherche jedoch eher kläglich.

Anmerkungen:
1 Vgl. Christopher R. Browning, Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die „Endlösung“ in Polen, Reinbek 1993; Daniel Jonah Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, Berlin 1996.
2 Vgl. u.a. Wolfgang Schulte (Hrsg.), Die Polizei im NS-Staat. Beiträge eines internationalen Symposiums an der Deutschen Hochschule der Polizei in Münster, Frankfurt 2009; Florian Dierl u.a. (Hrsg.), Ordnung und Vernichtung. Die Polizei im NS-Staat. Eine Ausstellung der Deutschen Hochschule der Polizei, Münster, und des Deutschen Historischen Museums, Berlin, 1. April bis 31. Juli 2011, Dresden 2011.
3 Vgl. Stefan Klemp, „Nicht ermittelt“. Polizeibataillone und die Nachkriegsjustiz. Ein Handbuch, 2. erw. u. überarb. Aufl., Essen 2011, S. 208–212; Wolfgang Curilla, Der Judenmord in Polen und die deutsche Ordnungspolizei 1939–1945, Paderborn 2011, S. 521–523.
4 Vgl. etwa Saul Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden. Verfolgung und Vernichtung 1933–1945, Bonn 2007, S. 154f.; Peter Longerich, Politik der Vernichtung. Eine Gesamtdarstellung der nationalsozialistischen Judenverfolgung, München 1998, S. 84.

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