S. Luehrmann: Secularism Soviet Style

Titel
Secularism Soviet Style. Teaching Atheism and Religion in a Volga Republic


Autor(en)
Luehrmann, Sonja
Reihe
New Anthropologies of Europa
Erschienen
Anzahl Seiten
275 S.
Preis
€ 22,03
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alfons Brüning, Instituut voor Oosters Christendom, Radboud Universiteit Nijmegen; VU und PThU, Amsterdam

Die Anthropologin Sonja Luehrmann wählt in dieser Studie eine vielleicht etwas eigenwillige Perspektive. Ihr Untersuchungsgebiet ist die an der mittleren Wolga gelegene autonome Republik Mari El, deren Bevölkerung sich neben ethnischen Russen und dem Titularvolk der finno-ugrischen Mari aus einigen kleineren Ethnien wie Tschuwaschen und Tataren zusammensetzt. Luehrmann hat hier die Lehrer, Prediger und Instruktoren sowohl der atheistischen Sowjetideologie als auch verschiedener postsowjetischer religiöser Gruppen befragt: Protestantische Freikirchen, die Russisch-Orthodoxe Kirche und die unter den Mari verbreitete Cimarij-Naturreligion. Es ist die Perspektive des Forschers auf die Lehrer, und durch die Lehrer auf die von jenen begründeten oder verwalteten Strukturen, die das Buch erschließt. Luehrmann kombiniert dabei die Darstellung der atheistischen Umerziehung, die sie anhand von Archiv- und Literaturrecherchen rekonstruiert, mit aktuellen Feldstudien unter den Priestern, Lehrern und Predigern postsowjetischer religiöser Denominationen. Deshalb ist der Titel der Studie im positiven Sinne irreführend, denn das Buch enthält wesentlich mehr als einen allgemeinen Beitrag zur „Säkularisierung“.

Hier werden nicht einfach Lehrinhalte verglichen. Der Fokus auf die Methoden und ihre Effekte bewirkt eine Neubewertung der Grenze zwischen Säkularismus und Religion. Bedeutsam ist eher die Affinität zwischen Formen des Atheismus als, im Anklang an Berdiaev und Eric Voegelin, „politischer Religion“ und verschiedenen kultischen Äußerungen etablierter Religionen. Mit Blick auf die didaktischen Methoden zeigt Luehrmann „Wahlverwandtschaften“ (elective affinities) auf. Wichtig ist dabei die Tatsache, dass in den in postsowjetischer Zeit aktiven religiösen Gemeinschaften häufig „konvertierte“ ehemaliger Propagandisten und Pädagogen des sowjetischen Atheismus anzutreffen sind.

Der Einleitung folgen insgesamt vier Großkapitel, die mit „affinities“, „promises“, „fissures“, und „rhythms“ überschrieben sind. Das erste dieser Kapitel thematisiert, grob übersetzt, Affinitäten oder Gemeinsamkeiten, womit aber hauptsächlich die gemeinschaftsstiftenden und Netzwerke begründenden Funktionen der jeweiligen Lehren gemeint sind. In Mari El hatte schon vor der Revolution ein eigentümliches Konstrukt aus regionalem, die Ethnien übergreifendem Gemeinschaftsbewusstsein bestanden, durchbrochen allerdings von partikularen Gruppenidentitäten ethnischer und religiöser Natur. Der sowjetische Staat setzte dagegen auf die integrierende Kraft einer neuen Identität als Sowjetbürger, die die alten Unterschiede und Konflikte nivellieren sollte, jedoch nur teilweise durchdringen konnte. Umgekehrt erschwerte ein übergreifendes Regionalbewusstsein auch in postsowjetischer Zeit die Etablierung neuer religiöser Richtungen (etwa die Errichtung einer lutherischen Gemeinde), denn bei aller sonstigen Divergenz untereinander wurden die alten Religionsgemeinschaften vor Ort als „unsere“, die neu hinzugekommenen Lutheraner dagegen zeitweise als „Fremde“ ausgemacht. Doch auch die neuen Gemeinschaften begründeten kollektives Bewusstsein.

Didaktische Methoden und der gleichsam zellulär-hierarchische Aufbau der inneren Struktur sind bis zu einem gewissen Grade sowohl dem sowjetischen Atheismus als auch den neueren protestantischen Freikirchen eigen, obwohl letztere dabei einem eigentlich aus den Vereinigten Staaten importieren Modell folgen. Auch geben protestantische Prediger bereitwillig zu, von ihrer früheren Schulung als Lehrer des Atheismus zu profitieren. Anders liegen die Dinge etwa bei der russisch-orthodoxen Kirche. Manche ihrer Priester haben die gleiche Vergangenheit wie die protestantischen Kollegen, halten diese aber für eher problematisch. Ferner sucht die orthodoxe Kirche eher im Appell an kulturelle Gemeinsamkeiten und verbindende Geschichte jene die Kollektive übergreifende Deutungshoheit zu beanspruchen, die eine Generation zuvor der Sowjetstaat für sich reklamiert hatte.

Hiermit sind bereits wesentliche „Wahlverwandtschaften“ bezeichnet, die in den nächsten Kapiteln weiter differenziert werden. Das Kapitel „promises“ befasst sich mit den zu vermittelnden Idealen und Hoffnungen: der „Macht der leuchtenden Zukunft“ in der Gesellschaft, der Erlösung und dem Heraufkommen des „neuen Menschen“ in der Religion. Das Ziel der Vermittlung bestand dementsprechend in einer Transformation des Menschen zu neuen Formen des Handelns und der Selbstidentifikation. Unternommen wird eine solche Transformation mit einer Kombination aus organisierten und standardisierten Lehrmaterialien, der Autorität des Lehrenden und dessen Anpassung an die Besonderheiten des konkreten Kontextes der Vermittlung. Erneut sind Ähnlichkeiten zwischen protestantischen Freikirchen und sowjetischem Atheismus festzustellen, doch vermag Luehrmann auch einige Unterschiede auszumachen, etwa hinsichtlich der Begründung der Autorität von Lehrenden (S. 117). Demgegenüber setzen etwa die Russische Orthodoxe Kirche, aber auch die Cimarij-Naturreligion weniger auf direkte Transformation des oder der Menschen als auf eine Eroberung des gesellschaftlichen Raumes, sei es durch Kirchenbau und Ritual, sei es durch die Ausweisung heiliger Stätten. Auch der Ausbau karitativer Aktivitäten durch die Orthodoxe Kirche gehört in diesen Zusammenhang (S. 133–135). So bleiben am Ende zwei Methoden der Transformation im Anschluss an die Versuche der Sowjetzeit zu konstatieren (S. 138f.).

Die folgenden Kapitel widmen sich etwa der methodischen Verwendung von Bildern der Rolle von Musik und „Inspiration“ im weiteren Sinne und Ritualen vor allem bei Lebenswenden des Einzelnen wie Geburt, Erwachsenwerden, Heirat und Tod. Bemerkenswerterweise hat auch der sowjetische Atheismus beizeiten die Bedeutung solcher Rituale erkannt und nach adäquaten Ersatzformen gesucht, geriet aber spätestens beim Tod mit seinen Sinngebungsmöglichkeiten ins Hintertreffen (S. 202f.). Luehrmanns Zusammenfassung macht angesichts der konstatierten Affinitäten in Methodologie und Methode noch einmal einige Fragwürdigkeiten des gegenwärtigen Säkularisierungsdiskurses deutlich. Denn in manch einem Säkularisierungsvorgang und -programm findet sich mehr „Religion“ als vermutet, während manche religiöse Praxis und Unterweisung viele Komponenten in sich trägt, die die klassische Sichtweise für profan halten würde.

Alles in allem stellt diese Studie mit ihrer Materialfülle und den zahlreichen klugen Beobachtungen eine Bereicherung auf mehreren Ebenen dar, und zwar beileibe nicht nur für Anthropologen. Denn es gibt bislang kaum derart eingehende Studien über die tatsächlichen Methoden und Mechanismen atheistischer Unterweisung in der sowjetischen Zeit. Die bisherige Literatur hat immer noch einen Schwerpunkt auf der normativen Seite. Ferner sind diese Mechanismen bisher kaum so eingehend in einer eher abgelegenen Region untersucht worden und wurde soviel Augenmerk auf lokale Mitwirkende gelegt. Schließlich folgt man mit Interesse den differenzierenden Schlussfolgerungen Luehrmanns hinsichtlich der Grenzen zwischen Säkularität, aber auch Post-Säkularität und Religion.

Diese Schlussfolgerungen bleiben aber zugleich etwas unfertig, weil Luehrmann hier ihrer eingeschlagenen Perspektive allzu treu bleibt. Vielleicht sind in der Tat eine Menge „Wahlverwandtschaften“ zwischen freikirchlichen Predigern und Propagandisten des sowjetischen Atheismus in seinen sublimeren Formen auszumachen, was deren Methodik und Menschenbehandlung angeht. Aber die in den Inhalten präsente oder entfernte Dimension der Transzendenz bewirkt vielleicht doch größere Unterschiede, als es in dieser Studie deutlich wird – ein Tatbestand, an dem freilich auch Luehrmann bei der Besprechung der Riten, spätestens der Begräbniszeremonien nicht mehr recht vorbei kommt. Und sie scheint selbst etwas unentschieden zu sein, ob das Aufgreifen solcher Unterschiede notwendigerweise eine Parteinahme und ein Aufgeben säkular-wissenschaftlicher Distanz bedeuten muss (S. 221).

Schließlich macht die gewählte Perspektive die Lektüre bisweilen mühsam. Denn das Buch enthält auch eine Fülle von Informationen und Beobachtungen über die untersuchten weltanschaulichen Gemeinschaften, deren Wertekanon, Vorgehen und reale Präsenz. Luehrmann ist durchweg bestens informiert über Literatur, Archivalien und theologische Hintergründe. Der Blick auf die Methoden, nicht der auf die Sachverhalte strukturiert die Darstellung, der man folgen muss. Man tut das dann mitunter mit Bedauern, wo Luehrmann eben noch ein anschauliches Bild von Mentalitäten oder konkreten Vorgängen zu zeichnen wusste. Hier hat die fachspezifische Disziplin ihren Preis, gerade weil die Studie auch für einen interdisziplinären Leserkreis viel zu bieten hat. Sehr empfehlen kann, ja muss man sie dennoch.

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