E. Gallas: „Das Leichenhaus der Bücher“

Titel
„Das Leichenhaus der Bücher“. Kulturrestitution und jüdisches Geschichtsdenken nach 1945


Autor(en)
Gallas, Elisabeth
Reihe
Schriften des Simon-Dubnow-Instituts 19
Erschienen
Göttingen 2013: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
351 S.
Preis
€ 64,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jürgen Lillteicher, Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung, Willy-Brandt-Haus Lübeck

Die damals hierzulande noch recht unbekannte Hannah Arendt war es, die nach 1945 in Westdeutschland mit Museumsleitern, Bibliothekschefs und Archivaren um die Rückerstattung von jüdischem Kulturgut stritt. Auf dem direkten Verhandlungsweg war jedoch nicht viel zu erreichen, die Abwehrfront war zu stark. Die gegenwärtige durch den Fall Gurlitt aufgeworfene Diskussion um versäumte Provenienzforschung an deutschen Museen erscheint nun wie eine Fortsetzung dieser Nachkriegsgeschichte. Die Strategie mancher Museumsdirektoren in Nachkriegswestdeutschland, sich die Kunstwerke aus jüdischem Besitz durch simple Verweigerung zu ersitzen, scheint langfristig doch nicht aufgegangen zu sein und holt nun deren Nachfolger im Jahre 2014 ein.

Es ist Elisabeth Gallas zu verdanken, dass die Geschichte der Rückerstattung jüdischen Eigentums nach dem Zweiten Weltkrieg nun eine wichtige Ergänzung erfährt und wir darüber hinaus neue Einblicke in die jüdische Geistesgeschichte nach 1945 gewinnen. Die Forschung hat sich in verschiedener Hinsicht mit der Restitution von erbenlosem Eigentum und den zu diesem Zwecke gegründeten jüdischen Treuhandorganisationen beschäftigt, dennoch war bisher kaum bekannt, dass jüdische Interessenorganisationen in Nachkriegsdeutschland auch auf die Gründung einer jüdischen Treuhandorganisation drängten, die sich ausschließlich um die Lokalisierung, Neuordnung und Verteilung der Überreste jüdischen Kulturguts kümmern sollte.1 Eine Spezialeinheit der amerikanischen Streitkräfte hatte auch diese Kulturgüter entdeckt und in speziellen Depots zum Zwecke der Rückführung an beraubte Staaten und an Privateigentümer sowie deren Erben zusammengetragen.2 So landeten beispielsweise die Überreste der Bibliothek des YIVO in Wilna im Archival Depot in Offenbach. In diesem „Leichenhaus der Bücher“3 lagerten Reste von Privatbibliotheken, deren Eigentümer von Nazideutschland ermordet worden waren, neben Überresten von Gemeindebibliotheken und Thorarollen sowie rituellen Gegenständen, die der Einsatzstab Rosenberg und andere Stellen in ganz Europa zusammengerafft hatten.

Gänzlich unbeleuchtet blieb bisher, dass Hannah Arendt, Lucy Dawidowicz, Gershom Sholem und Salo Baron hier eine entscheidende Rolle spielten und dass deren Tätigkeit in der Kulturrestitution einen wesentlichen Einfluss auf ihr Denken und Handeln nach 1945 hatte. Viel ist beispielsweise über Hannah Arendts Werk „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ geschrieben worden, jedoch hat bisher keiner der Exegeten eine Verbindung zwischen diesem Werk und den Erfahrungen der Autorin als Kämpferin für die Kulturrestitution gezogen. So liefert uns Elisabeth Gallas einerseits einen Beitrag zur Restitutionsgeschichte und andererseits eine Beitrag zur Ideen- und Geistesgeschichte der Juden nach dem Holocaust. Obwohl die Autorin wiederholt betont, dass die Kulturrestitution in der Gesamtgeschichte der Wiedergutmachung nach 1945 eher eine marginale Stellung hat, hat sie doch aus der Perspektive und Fragerichtung ihrer Studie eine enorme Bedeutung. Die Durchsetzung eines Kollektivanspruchs auf Eigentum, das aufgrund der Ermordung ganzer Familienverbände ohne Erben geblieben war, oder auf die noch auffindbaren Reste des Eigentums jüdischer Gemeinden aus ganz Europa war die Vorstufe zur internationalen Anerkennung eines jüdischen Staats. Obwohl dieser Staat im Krieg noch nicht existiert hatte, erkannten die Alliierten Siegermächte das jüdische Volk als reparations- und restitutionsberechtigt und damit als Rechtssubjekt nach internationalem Völkerrecht jenseits des Status einer nationalen Minderheit an. Insofern hat die Anerkennung der Jewish Cultural Reconstruction ltd. (JCR) als restitutionsberechtigte Treuhandorganisation eine entscheidende Bedeutung für die Geschichte der Juden nach 1945. Elisabeth Gallas betrachtet diesen Schritt sogar als Auftakt zu den Verhandlungen zwischen der Bundesrepublik, der Claims Conference und dem Staate Israel im Jahr 1952, denn die Anerkennung als Kollektiv hatte die Vereinigung einer Vielzahl verschiedener jüdischer Organisationen aus den USA und Israel zur Folge.

Bisher wurde die Restitutionsgeschichte in Nachkriegswestdeutschland als ein politisch- juristischer Aushandlungsprozess zwischen Westdeutschland und den alliierten Mächten, zwischen jüdischen Organisationen und den Siegermächten oder als Konfliktfeld zwischen Rückerstattungsberechtigten und Rückerstattungspflichtigen beschrieben und meist in den Kontext der Zeitgeschichte der jungen Bundesrepublik eingebettet. Indem sie sich gänzlich auf die jüdischen Protagonisten konzentriert, beschreibt Elisabeth Gallas diesen Prozess jedoch nicht im gewohnten Muster, sondern schafft eine eigene innerjüdische Geschichte mit eigenen Ordnungsprinzipien. Ein geistesgeschichtlicher Ansatz wird zum Strukturprinzip für die Restitutionsgeschichte. Dies hat jedoch seinen Preis, denn bei der Lektüre des rein geistesgeschichtlichen dritten Teils ihrer Studie zeigen sich dann häufig Dopplungen.

Lässt man sich jedoch auf diesen ungewöhnlichen Zugang ein, erkennt man schnell, welche neuen Dimensionen der Rückerstattungsgeschichte Elisabeth Gallas freilegt. So wird deutlich, welch ungeheure Bedeutung die kulturellen Überreste aus ganz Europa für die Neufundierung jüdischen Lebens in Israel, den USA und der Diaspora im Allgemeinen spielten, standen sie doch für die bisherigen Traditions- und Wissensbestände der nicht mehr existierenden europäischen Judenheiten. Diese Bedeutung ging natürlich weit über den materiellen Wert der Bücher und Texte hinaus. Die Beerdigung von Thorarollen aus Osteuropa in Israel oder in den USA im Rahmen großer Trauerfeiern mit Tausenden Beteiligten offenbarte auch die enge Verbindung, die Juden nach 1945 zwischen den Überresten und den Opfern des europäischen Judenmords selbst zogen. Die Überreste wurden zu Monumenten der Erinnerung an den Holocaust, ihre Rettung mit der Rettung von Menschen gleichgesetzt. Bücher waren konstitutiv für das Judentum und sicherten dessen Zukunft. Jeder Angriff auf Bücher wurde als Angriff auf das Kollektiv gewertet.

Mit der Verteilung der Güter entschieden die Protagonisten der Kulturrestitution auch darüber, wo die Orte jüdischen Neuanfangs künftig sein sollten, vorwiegend in Israel und den USA. Einen Neuanfang in Europa oder gar in Deutschland schlossen Hannah Arendt, Gershom Sholem, Salo Baron und Lucy Dawidowicz im Laufe ihrer Tätigkeit in Nachkriegsdeutschland und im Offenbacher Depot kategorisch aus. Eine Entscheidung, die nicht überall unwidersprochen blieb und für heftige innerjüdische Konflikte sorgte. So sprachen sich Holocaust-Überlebende wie der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Berlin Heinz Galinski sehr wohl für einen Neubeginn jüdischen Lebens und damit für den Verbleib von jüdischen Kulturgütern in Deutschland aus.

Die Arbeit für die JCR hatte auf die Akteure und ihr Denken nach dem Holocaust sehr unterschiedliche Auswirkungen. Dies zeigt Elisabeth Gallas im dritten Teil ihrer Arbeit auf sehr einleuchtende Weise, in dem sie den Geschichts-, Rechts- und Gerechtigkeitsvorstellungen insbesondere von Hannah Arendt und Lucy Dawidowicz nachgeht. Die Restitution war für Hannah Arendt nicht nur eine ökonomische und politische Wiederherstellung, sondern sie war auch ein Akt der aktiven politischen Partizipation von Juden nach dem Holocaust und damit eine Rückgewinnung von Rechtsräumen, die Nazideutschland Juden in ganz Europa zuvor genommen hatte.

Während sich Hannah Arendts Denken sehr stark in rechtlichen und politischen Kategorien des Handelns nach 1945 bewegte, wollte Lucy Dawidowicz mit ihren Analysen des Holocaust einen Gedächtnisort für die Ermordeten schaffen.

Gershom Sholem litt psychisch und physisch unter seiner Arbeit im Offenbacher Depot und fühlte sich in seiner Konzentration auf den Aufbau Israels negativ bestätigt. Salo Baron nahm seine Tätigkeit zum Anlass, vorwiegend die jüdische Infrastruktur in den USA zu stärken. Beide wollten sich nicht wie Arendt und Dawidowicz an der aufkommenden Holocaustforschung beteiligen.

Betrachtet man Elisabeth Gallas’ Studie als Ganzes, so gewinnt man den Eindruck, als habe das Ringen der Autorin um ein tieferes Verständnis von Hannah Arendts und Lucy Dawidowicz’ Schriften zu einer Arbeit über die Kulturrestitution selbst geführt, sich also im Laufe des Forschungsprozesses Frage und Antwort umgekehrt haben. Dieser Weg hat sich gelohnt, weil uns nun eine äußerst lesenswerte Geschichte der Kulturrestitution und ein ungewöhnlicher Einblick in jüdisches Geschichtsdenken nach 1945 zugleich vorliegt.

Anmerkungen:
1 Zu den weiteren Bemühungen jüdischer Überlebender, den Holocaust gleich nach dem Krieg in ganz Europa umfänglich zu dokumentieren, siehe: Laura Jokusch, Collect and Record! Jewish Holocaust Documentation in Early Postwar Europe, New York 2012. Vgl. Stephan Stachs Rezension in: H-Soz-u-Kult, 02.12.2013, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2013-4-174> (24.03.2014).
2 Die Einheit der amerikanischen Streitkräfte trug den Namen: Monuments, Fine Arts and Archives (MFAA). Dieser Einheit widmete George Clooney seinen Film „Monuments Men“.
3 Dieses Zitat „Mortuary of Books“ (Leichenhaus der Bücher) und der Titel der Studie sind entnommen aus: Lucy Dawidowicz, From that Place and Time. A Memoir 1938–1947, hg. von Nancy Sinkoff, New Brunswick, N. J. 2008, S. 316.

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