W. Riess: Performing Interpersonal Violence

Cover
Titel
Performing Interpersonal Violence. Court, curse, and comedy in fourth-century BCE Athens


Autor(en)
Riess, Werner
Reihe
MythosEikonPoiesis 4
Erschienen
Berlin 2012: de Gruyter
Anzahl Seiten
XI, 479 S.
Preis
€ 109,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jennifer Juliane Stracke, Institut für Geschichtswissenschaft, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

Aus althistorischer Sicht findet die Gewalt seit den 1970er-Jahren Beachtung, vorrangig im englischsprachigen Raum. Dabei geht es vor allem um juristische Fragen bezüglich Gewaltstraftaten sowie einiger Subkategorien wie etwa ‚Hybris‘. Wenig Beachtung hingegen fanden soziale oder anthropologische Fragestellungen, wenn es auch zwei Ausnahmen gibt: sowohl die Folter von Sklaven und Metöken als auch die Vergewaltigung standen im Fokus mehrerer Arbeiten.1

Der Hamburger Althistoriker Werner Riess, der bereits eine Dissertation und mehrere Aufsätze zum Thema Kriminalität und Gewalt veröffentlicht hat, beschäftigt sich in der englischen Überarbeitung seiner Habilitationsschrift unter der Überschrift „Performing interpersonal violence. Court, Curse, and Comedy in Fourth-Century BCE Athens“ erneut mit diesem Themenbereich. Er schließt dabei vorab einige Gewaltformen aus: im politischen Bereich, in der Mythologie und der Tragödie, gegen Tiere im Zuge ritueller Opfer sowie beim Sport oder im Krieg. Sein Interesse gilt vielmehr der Gewalt im zwischenmenschlichen Rahmen unter den Bürgern Athens. Als zeitliche Eingrenzung setzt er das 4. Jahrhundert v.Chr., das er explizit als „langes Jahrhundert“ versteht, da er Werke von Antiphon und Aristophanes aus den 430er-Jahren, bis hin zu den letzten Komödien des Menander, die zu Beginn des 3. Jahrhunderts datiert werden, in seine Untersuchung mit einbezieht.

Die Quellen umfassen Reden, Inschriften auf Fluchtafeln und Komödien. Diese drei Quellengattungen ermöglichen verschiedene Blickwinkel auf Gewalt bzw. Gewalthandlungen sowie ihre Wahrnehmung und Beurteilung durch die Mitglieder der athenischen Gesellschaft, da sie auf unterschiedlichen Arten der Kommunikation basieren. Das Spektrum reicht von der öffentlichen Rede über im feierlichen Kontext auftretende Bühnenaufführungen bis hin zu im Geheimen stattfindenden Verfluchungen. Den gemeinsamen Nenner aller drei Genres sieht Riess darin, dass alle in einen rituellen Rahmen eingebunden sind und Öffentlichkeit benötigen.

Der Autor will zeigen, dass die symbolische Bedeutung der Gewalt nicht vorrangig in Gesetzestexten fixiert, sondern vor allem durch Repräsentationsrituale konstruiert wurde. Die Einbettung der Gewalt in einen rituellen Rahmen trug zur Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung in Athen bei.

Nach einem einführenden Kapitel (S. 1–19) mit kurzen Bemerkungen zum Gewaltbegriff, zur thematischen Eingrenzung sowie zur Eingrenzung von Zeit und Quellen, beginnt Riess mit dem Kapitel über Gerichtsreden (S. 22–163). Kapitel drei beschäftigt sich mit den Fluchtäfelchen (S. 164–234), Kapitel vier mit der alten und neuen Komödie (S. 235–378), gefolgt von dem Kapitel mit der Zusammenfassung und den Schlussfolgerungen. Den Abschluss bilden das überaus umfangreiche Literaturverzeichnis (S. 395–440) und die Indices (S. 441–479).

Riess setzt sich mit den ausgewählten Quellen intensiv auseinander und ermöglicht durch seine Fragestellung abseits der klassischen Topoi wie Krieg oder (Wett-)Kampf eine neue Perspektive auf das Thema. So wird deutlich, dass vor allem als problematisch erkannte Gewaltformen vor Gericht oder aber auf der Bühne offen thematisiert wurden, nicht aber solche, die als alltäglich oder „normal“ betrachtet wurden. Hierzu zählen die Gewalt gegen Sklaven oder Metöken sowie die häusliche Gewalt.

Nach einer Begriffsdiskussion und einem forschungsgeschichtlichen Überblick setzt Riess im Kapitel über die Gerichtsreden den Schwerpunkt auf den Ritualcharakter der Gerichtsverfahren. Er prüft, welche Gewaltformen erlaubt und akzeptiert waren und welche abgelehnt wurden. Dies war abhängig von verschiedenen Faktoren; etwa, wer zuerst zuschlug, sowie warum und wann dies geschah, oder ob eine Handlung in aller Öffentlichkeit oder heimlich stattfand. Ebenso maßgeblich war der Einfluss von Alkohol oder ob sich jemand von Zorn zur Gewaltausübung hatte verleiten lassen.

Eng verbunden hiermit sieht der Autor das sich im 4. Jahrhundert entwickelnde neue Ideal des beherrschten Bürgers. Statt der homerischen Idealisierung der Blutrache und der Vergeltung galt Zorn jetzt als negativ konnotierte Emotion, die es zu unterdrücken galt und andere Konfliktlösungsstrategien erforderlich machte.

Als legitim anerkannte Gewalt fand zwar weiterhin offen statt, doch es erfolgte zudem ein Gewaltdiskurs, eingebettet in einen rituellen Rahmen. Diese Verständigung fand in der Regel vor Gericht statt; hier wurden die eher vagen Gesetze jedes Mal aufs Neue besprochen und ausgelegt, sodass der Diskurs einer gewissen Dynamik unterlag. Gleichzeitig betont der Autor die Überlappung der alten und der neuen Vorstellung im 4. Jahrhundert: Gerichtsverfahren lösten nach und nach die Blutrache ab, ersetzten sie aber nicht komplett.

Illegitime Gewalt wurde vor allem von den höheren Schichten thematisiert, da Mitglieder der unteren Schichten selten den Weg zum Gerichtshof fanden. Die Gerichtshöfe interpretiert Riess als eine von mehreren Möglichkeiten der ritualisierten Konfliktlösung. Vor den Richtern galt es, die selbst ausgeführte Gewalt als notwendig darzustellen. War die Überschreitung der normativen Grenzen unvermeidlich, etwa weil sie dem Wohle der Bürgerschaft diente, konnte sie als entschuldbar gelten; der Gegner musste gleichzeitig als unbeherrscht und zornig erscheinen. Aufgrund des großen Spielraumes für Interpretationen und Ermessensfreiheit waren die Gerichtsreden diesbezüglich eine scharfe Waffe und konnten dazu dienen, den Gegner bewusst zu schädigen oder ihn gar aus der Gemeinschaft auszuschließen.

Bei der Betrachtung der Fluchtafeln behandelt der Autor die in Athen gefundenen Exemplare, die größtenteils ins 4. Jahrhundert datieren. Deren Aussagekraft hinsichtlich des Ausmaßes an Gewalt und ihres Erkenntniswertes für das athenische Verständnis von Konflikten betrachtet er als unterschätzt. Verfluchungen konnten einen politischen, juristischen oder auch wirtschaftlichen Hintergrund haben; ebenso kannte man Liebeszauber oder Bitten um Gerechtigkeit. Es handelte sich um verschiedene Bereiche des Lebens, in die man nicht aktiv eingreifen konnte, sich auf diesem Wege jedoch eine Einflussnahme erhoffte.

Die Verfluchungen aus der juristischen Sphäre betrachtet der Autor als Supplement zu den Gerichtsreden. Mitglieder der Elite leisteten sich neben dem Logographen zuweilen einen Magier, der im Geheimen wirken sollte (etwa, um dem Gegner einen negativen Prozessausgang zu bescheren). Für Mitglieder der unteren Schichten stellten Fluchtäfelchen nach eigener Überzeugung meist die einzige Möglichkeit der aktiven Einflussnahme auf Konflikte dar, da ihnen der Weg zum Gericht oft nur in der Theorie offenstand. Gerichtsreden und Fluchtafeln war gemein, dass Gewalt indirekt ausgeübt werden sollte: Richter bzw. Götter trafen die Entscheidung. So sanktionierten sie sie einerseits, und andererseits ‚beschmutzte‘ man sich nicht selbst (S. 177; S. 215 und 219). Dabei betont der Autor erneut den rituellen Charakter: das Ablegen der Fluchtafeln sieht er als ritualisierte Form von indirekter Gewalt an, bestehend aus rituellen Handlungen (drômena) und Worten (legomena). Zudem solle man sich von den Formeln nicht täuschen lassen: es handele sich um „… relatively tame language on the surface but great underlying aggressions“ (S. 224).

Komödien, behandelt im letzten größeren Teilabschnitt, unterschieden sich insofern von Gerichtsverfahren oder Magie, als hier keine direkte Gewalt herbeigeführt wurde. Stattdessen fand Gewalt auf der Bühne statt und ermöglichte somit auch hier einen Diskurs. Den Ritualcharakter sieht Riess gegeben, da die Aufführung eines Dramas vor dem Hintergrund der religiösen Feierlichkeiten zu sehen ist. Einige Dramen spiegeln durchaus die sozialen, politischen oder ideologischen Konflikte dieser Zeit. Auf der Bühne konnte Gewalt in einer Komödienhandlung dargestellt werden, da es einen gewissen Abstand zum alltäglichen Leben in der Realität gab; man konnte so auch über sie lachen und sich damit auseinandersetzen.

Die ausführliche Gegenüberstellung von Aristophanes (Wespen, Vögel und Wolken werden vorrangig untersucht) und Menander (bspw. Samia, Epitrepontes oder Periceiromene) zeigt, dass die beiden Komödiendichter sich dem Thema Gewalt auf unterschiedliche Weise nähern. Verglichen wird exemplarisch ihre Darstellung von Zorn, Hybris oder Vergewaltigung sowie ihre Verwendung von Slapstick. Aristophanes etwa behandelt eher Gewalt im Bereich der polis, während es bei Menander hauptsächlich um Gewalt im Bereich des oikos geht. Beide sehen Zorn als Auslöser und stellen ihn überaus negativ dar. Erkennbar ist jedoch ein Wandel: Zorn gilt zunächst als ein Phänomen der Masse, wird aber von Menander bald als persönlicher Defekt erkannt, der auf die politische Ebene übergreifen kann. Zorn und Gewalt lehnen derweil beide als Möglichkeit der Konfliktlösung ab.

Zusammenfassend stellt Riess fest, dass Gewalt in der athenischen Gesellschaft stets präsent war und im Zuge der Entwicklung vom Ideal der Blutrache zu dem des selbstbeherrschten Bürgers nicht an Bedeutung verlor, wohl aber in der Öffentlichkeit vermieden wurde. Sie konnte unterschiedlich wahrgenommen werden und war Gegenstand eines stetigen Diskurses. Zum Thema wurde sie, so der Autor, unter drei Voraussetzungen: wenn sie Mitglieder der höheren Schichten betraf, wenn es sich um nicht akzeptierte Gewalt handelte und wenn die Öffentlichkeit eine Rolle spielte. Der ritualisierte Gewaltdiskurs hatte eine Kontrollfunktion inne und trug – diese Hypothese sieht Riess am Ende bestätigt – erheblich zur Stabilität des sozialen und politischen Systems in Athen bei (S. 388).

Der Autor bietet mit dieser Darstellung der Gewalt im Athen des 4. Jahrhunderts v.Chr. eine überaus detailliert ausgearbeitete Untersuchung ausgewählter Quellen hinsichtlich einer Fragestellung, die bisher wenig beachtet wurde. Die erzielten Ergebnisse sind überzeugend, aufschlussreich und anregend. Abseits der klassischen Untersuchungsgebiete zum Thema Gewalt zeigt er durch bewusst unterschiedliche Perspektiven, wie Gewalt im 4. Jahrhundert v.Chr. wahrgenommen und bewertet wurde, wobei er dem ritualisierten Gewaltdiskurs eine besondere Bedeutung zumisst. Ob diese Betonung auch bei einem anderen zeitlichen Rahmen und unter anderen kulturellen Bedingungen (etwa in der römischen Kaiserzeit) angemessen wäre, müssten weitere Untersuchungen zeigen.

Anmerkung:
1 Zur Folter etwa: Eugene W. Bushala, Torture of Non-citizens in Homicide Investigations, in: Greek, Roman, and Byzantine Studies 9 (1968), S. 61–68; Page DuBois, Torture and Truth, New York 1991; Michael Gagarin, The Torture of slaves in Athenian Law, in: Classical Philology 91 (1996), S. 1–18; zur Vergewaltigung: Susan Deacy / Karen Pierce (Hrsg.), Rape in Antiquity, London 1997; Rosanna Omitowoju, Rape and the Politics of Consent in Classical Athens, Cambridge 2002; vgl. auch David Cohen, Sexuality, violence, and the Athenian Law of Hubris, in: Greece & Rome 38 (1991), S. 171–188. Für eine generelle Perspektive s. zuletzt Martin Zimmermann, Gewalt. Die dunkle Seite der Antike, München 2013.

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