K. Wilhelm u.a. (Hrsg.): Neue Städte für einen neuen Staat

Cover
Titel
Neue Städte für einen neuen Staat. Die städtebauliche Erfindung des modernen Israel und der Wiederaufbau in der BRD. Eine Annäherung


Herausgeber
Wilhelm, Karin; Gust, Kerstin
Reihe
Urban Studies
Anzahl Seiten
348 S., zahlr. Abb.
Preis
€ 34,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ines Sonder, Moses-Mendelssohn-Zentrum für europäisch-jüdische Studien, Universität Potsdam

Der Aufsatzband basiert auf dem internationalen Symposion „Neue Städte für einen neuen Staat. Edgar Salin und das ‚Israelprojekt‘ der List-Gesellschaft“, das Ende 2011 in Berlin stattgefunden hat.1 Die Tagung zog eine erste Bilanz des DFG-geförderten Projekts mit demselben Titel, das von Karin Wilhelm und Joachim Trezib an der Technischen Universität Braunschweig geleitet wurde. Zu den Beiträgern des Bandes gehören 25 Forscherinnen und Forscher aus Israel, der Schweiz und Deutschland.

Im Zentrum steht die Initiative des aus Frankfurt am Main gebürtigen und seit 1927 in Basel lehrenden Nationalökonomen Edgar Salin (1892–1974). Im Rahmen der List-Gesellschaft, deren (Neu-)Gründer und Schriftführer er war, koordinierte Salin zwischen 1957 und 1968 das „Israel Economic and Sociological Research Project“ (IESRP), kurz „Israel Research Project“ genannt. Initiiert als Untersuchungsreihe zur Raumplanung und Infrastrukturentwicklung Israels seit 1948, wurden insgesamt 15 Einzelstudien veröffentlicht, darunter Abhandlungen zu den genossenschaftlichen Siedlungsformen des Kibbuz und Moschav, zur Textilindustrie und Energiewirtschaft. 1966 erschien die letzte Publikation des Projekts: „Neue Städte / New Towns in Israel“, eine soziologische Studie von Erika Spiegel, die anhand von umfangreichem Bild- und Tabellenmaterial über die israelische Stadt-, Regional- und Landesplanung der ersten zwei Dekaden reflektierte.2 Spiegels Arbeit wurde von Salin als ‚krönender Abschluss’ des „Israel Research Projects“ bezeichnet und kann mit ihrer Bestandsaufnahme und kritischen Analyse der israelischen Urbanisierung infolge des zwischen 1948 und 1952 erarbeiteten ersten Nationalplans – des „Sharon-Plans“3 – bis heute als wegweisend gelten.

Ein zentrales Moment von Spiegels Studie war die Frage, inwieweit Israel – als eines der wenigen Länder, wo nach dem Zweiten Weltkrieg planmäßig und in größerem Umfang neue Städte gegründet wurden – als Modellfall für ‚Entwicklungsländer‘ angesehen werden könne. Das Ergebnis wurde insofern positiv eingeschätzt, als sich viele Länder ebenfalls vor der Aufgabe sähen, „eine unzureichende oder veraltete Siedlungsstruktur zu erneuern und zu ergänzen“.4 Vor diesem Hintergrund bietet die vorliegende Untersuchung „Neue Städte für einen neuen Staat“ einen wahrnehmungs- und wirkungsgeschichtlichen Vergleich, der in der Forschungslandschaft zum israelischen Planungsdiskurs neu ist: die Rekonstruktion der konzeptionellen Wurzeln in der Städtebaupraxis zwischen Israel und der Bundesrepublik nach der Gründung beider Staaten 1948/49. „Es geht also darum, die New Towns, die ‚Neuen Städte Israels’ und deren bundesdeutsche Parallelentwicklung im Wiederaufbau der kriegszerstörten Städte zu betrachten und zu beurteilen.“ (Einführung der Herausgeberinnen, S. 12f.) Angesichts der Geschichte beider Länder ist dies kein unproblematischer Vergleich, der auch problembezogen diskutiert wird – angefangen mit der zaghaften Annäherung beider sich neu konstituierender Staaten und Gesellschaften, die 1952 in das Luxemburger Abkommen und 1965 in die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mündete.

„Die israelische Raumpolitik des Nation Building ist in der jungen BRD aufmerksam rezipiert und von einigen Städtebauern als vorbildlich für die eigenen Planungsvorhaben im Wiederaufbau deutscher Städte betrachtet worden.“ (S. 13) Als ein Ausgangspunkt werden die Israelreisen einiger wichtiger Protagonisten des westdeutschen Wiederaufbaus zu Beginn der 1960er-Jahre angeführt. Zu ihnen gehörte der Hannoveraner Stadtbaurat Rudolf Hillebrecht, der 1962 zunächst mit einer Gruppe Studierender und im Jahr darauf als Mitglied einer Delegation der List-Gesellschaft Israel besuchte, der auch Salin und Spiegel angehörten. 1964 folgte der Düsseldorfer Stadtplanungsamtsleiter Friedrich Tamms, der ähnlich wie Hillebrecht in die NS-Planungspraxis involviert gewesen war und wie dieser dem „Arbeitsstab für den Wiederaufbau bombenzerstörter Städte“ unter Albert Speer angehört hatte. Im Gegenzug referierte Hanan (Heinrich) Mertens, der Direktor der „Townplanning Division“ in Tel Aviv, auf einer Tagung der List-Gesellschaft 1967 über „Raum- und Stadtplanung in Israel“.5

Für einen Diskurs über ‚Annäherungsversuche’ zwischen bundesdeutschen und israelischen Stadtplanern sind diese Reisen sowie der inhaltliche Austausch auf Tagungen und in Fachpublikationen nachvollziehbar. Sie (er)klären jedoch nicht unmittelbar, was deutsche Städtebauer im zweiten Jahrzehnt des Wiederaufbaus als „vorbildlich für die eigenen Planungsvorhaben“ betrachteten. Woran ließe sich das ablesen, und wie ist es vor dem Hintergrund der Kritik am Städtebau der Nachkriegsära zu interpretieren, auf die Jörn Düwel in seinem Beitrag „Architekten in der Bundesrepublik Deutschland“ eingeht? Die Begeisterung für das neue Gesellschaftsmodell des jungen Staates Israel und die Bewunderung für dessen Planungsprojekt im großen Maßstab teilten europäische Städtebauer jener Zeit allenthalben; sie priesen das Land als „Vorbild einer neuen Solidargemeinschaft in gleichsam paradiesisch-kultivierter Natur“ (S. 14). Zweifellos war dies angesichts der von Israel verfolgten Raumstrategien eine isolierte Perspektive, bei der der Prozess der Segregation und Zwangsumsiedlung der palästinensischen Bevölkerung im Krieg von 1947 bis 1949 ausgeblendet wurde, auf den Meron Benvenisti in seinem Beitrag „Israel und Palästina“ eingeht.

Mit Blick auf die israelische Planungspraxis verweist Zvi Efrat in seinem Beitrag „Die Erfindung des modernen Israel und der Sharon-Plan. Betrachtungen über ein Unbehagen“ darauf, dass der genannte Plan ein „Konglomerat aus Modellen, Theorien und Experimenten“ war, von denen einige bereits während der britischen Mandatszeit entwickelt worden waren oder als „gebrauchsfertige Lösungen aus Europa importiert und schlagartig ‚eingebürgert’“ wurden (S. 102), wie im Fall der von Walter Christaller entwickelten „Theorie der zentralen Orte“ (1933), die das Rahmenwerk für die Siedlungsstruktur des Staates Israel lieferte. Nach dem „Sharon-Plan“ waren bis Ende der 1950er-Jahre 28 neue Städte gegründet worden, die in den Anfangsjahren mit weitreichenden Problemen zu kämpfen hatten, auf die auch Spiegel hingewiesen hatte: gravierende wirtschaftliche Zwänge der jungen Einwanderergesellschaft sowie eine Vielzahl sozio-demographischer, ethnischer und regional-klimatischer Faktoren.

Nach der Veröffentlichung von Spiegels Buch hieß es in einer deutschen Rezension kritisch, dass Israels neue Städte sich „bei eingehender Prüfung als Fehlinvestitionen“ erwiesen hätten. Man habe „um des ideologischen Prinzips willen“ keine Mühe noch staatliche Kosten gescheut, „Grünflächen bzw. Grünkeile auch in der dürrsten Wüste anzulegen“.6 Vor diesem Hintergrund und zum Verständnis der Rezeption der israelischen Raumpolitik durch deutsche Stadtplaner (mit ihren biographischen Verflechtungen) wäre ein eigener Beitrag über Rudolf Hillebrecht hilfreich gewesen, der als ‚Vater des Wiederaufbaus’ galt und die städtebaulichen Aktivitäten des „Israel Research Projects“ von deutscher Seite betreute.

Der Band „Neue Städte für einen neuen Staat“ versteht sich als eine Annäherung. Er ist, wie bei Konferenzbeiträgen häufig, stark auf die Forschungsthemen der Autorinnen und Autoren fokussiert und dadurch etwas heterogen. In sechs Kapitel untergliedert, findet der Leser Beiträge zu den Intellektuellendiskursen im Umfeld Edgar Salins; Analysen zum Staats- und Städtebau in Israel und der Bundesrepublik, darunter zu „Konzepten der Initiativplanung in den ersten Jahren des Staates Israel“ (Ruth Kark) und zur „Symbolpolitik im Wiederaufbau“ (Georg Wagner-Kyora); Beiträge zur „Rezeption völkisch-nationalen Denkens im deutschsprachigen Zionismus“ (Stefan Vogt) neben Fragen zur „völkisch-romantischen Naturaneignung“ in Deutschland (Joachim Wolschke-Bulmahn) und zum „Kulturdiskurs der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren des Wiederaufbaus“ (Axel Schildt). Dargestellt werden auch die „Kontroverse um Reparationen in Israel“ (Yaakov Sharett) sowie das „deutsch-israelische Verhältnis in der Nachkriegszeit“ (Moshe Zuckermann). Insgesamt handelt es sich um eine breit gefächerte, interdisziplinär angelegte Sammlung von entwicklungspolitischen bis städtebaulichen Perspektiven, verbunden mit der interkulturellen Wahrnehmung zwischen der Bundesrepublik und Israel.

Einige Anmerkungen zum Lektorat: Es verwundert, dass das „Vorwort“ von Michael Göke (S. 23), dem ehemaligen Geschäftsführer der heutigen List-Gesellschaft, nach dem Einführungsbeitrag der Herausgeberinnen platziert ist; als ausführlicheres Geleitwort hätte es dem Thema eine bessere Würdigung gegeben. Der englische Stadtplaner und ‚Vater der neuen Städte’, Patrick Abercrombie, sollte in einem städtebaulichen Band nicht „Abercromby“ (S. 105) geschrieben werden. Ein wirkliches Manko ist das Fehlen eines Personenregisters, das bei einem solchen Sammelband sehr nützlich gewesen wäre. Abgesehen davon ist das Buch bei der Beschäftigung mit Edgar Salin und dem „Israel Research Project“, das einen wesentlichen Beitrag zum Wissenschaftsaustausch zwischen Israel und Westdeutschland geleistet hat, für das interessierte Fachpublikum sehr zu empfehlen und wird hoffentlich weitere Diskurse zum Thema anregen.

Anmerkungen:
1 Siehe auch den Bericht von Celina Kress, Joachim Trezib und Karin Wilhelm, in: H-Soz-u-Kult, 19.05.2012, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=4234> (01.03.2014).
2 Erika Spiegel, Neue Städte / New Towns in Israel, Stuttgart 1966.
3 Benannt nach dem Architekten und Bauhaus-Absolventen Arieh Sharon, der 1948 zum Leiter des ersten Landesplanungsamtes in Israel berufen worden war.
4 Rudolf Hillebrecht / Edgar Salin, Vorwort, in: Spiegel, Neue Städte, o.S.
5 Hanan Mertens, Raum- und Stadtplanung in Israel, in: Edgar Salin / Niels Bruhn / Michel Marti (Hrsg.), Polis und Regio. Von der Stadt- zur Regionalplanung. Frankfurter Gespräch der List-Gesellschaft 8.–10. Mai 1967, Basel 1967, S. 283–296.
6 Heide Berndt, in: Das Argument 9 (1967), S. 309ff., hier S. 310.