G. Exner: Die „Soziologische Gesellschaft in Wien“ (1907–1934)

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Titel
Die „Soziologische Gesellschaft in Wien“ (1907–1934) und die Bedeutung Rudolf Goldscheids für ihre Vereinstätigkeit.


Autor(en)
Exner, Gudrun
Reihe
Austrian Studies in English 3
Erschienen
Anzahl Seiten
284 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerald Mozetič, Institut für Soziologie, Universität Graz

Jede Fachgeschichtsschreibung befasst sich vorrangig mit jenen Personen und Konzeptionen, deren Bedeutung für den Erkenntnisfortschritt als groß oder gar bahnbrechend eingeschätzt wird – die Soziologie hat ihre „Klassiker“ (Durkheim, Weber, Simmel und andere) und grundlegenden Denkweisen, über die man sich in vielen Publikationen informieren kann. In einer breiteren wissenschaftsgeschichtlichen Perspektive müssen jedoch andere Kriterien mitberücksichtigt werden, die es ermöglichen, den Reduktionismus einer reinen „Erfolgsgeschichte“ zu vermeiden und die Entwicklung eines wissenschaftlichen Faches in einer dem realen Verlauf gerecht werdenden Weise zu rekonstruieren. Neue Einsichten in diese Zusammenhänge sind oft durch archivalische Funde und deren Auswertung möglich, und so verhält es sich auch mit Exners Studie.

Die vorliegende Publikation von Gudrun Exner ist also eine willkommene Erweiterung des Wissensstandes über eine frühe Phase der Soziologie in Österreich. Über die 1907 gegründete „Soziologische Gesellschaft“ in Wien gab es bislang noch keine vergleichbare ausführliche Untersuchung, was nicht zuletzt auf das Fehlen eines Vereinsarchivs zurückzuführen sein dürfte. Exner wertete unter anderem die Wiener Tageszeitungen „Arbeiterzeitung“ und „Neue Freie Presse“ aus, in denen Ankündigungen und Berichte zu den von der Gesellschaft veranstalteten Vorträgen zu finden sind. Das Ergebnis ist eine chronologische Auflistung der so dokumentierten Aktivitäten. Der Großteil des vorliegenden Buches besteht aus biografischen Angaben zu den Vortragenden sowie aus Inhaltsangaben der Vorträge, soweit sich diese aus der Presseberichterstattung oder einschlägigen Publikationen der Vortragenden erschließen lassen. Durch die Berücksichtigung neuen Quellenmaterials, insbesondere etlicher Briefe Rudolf Goldscheids, kommt Exner zum Urteil, dass man Goldscheid als „alleinigen Begründer der ‚Soziologischen Gesellschaft‘ ansehen“ könne (S. 20).

Rudolf Goldscheid (1870–1931) war in mehrfacher Hinsicht eine bemerkenswerte Gestalt: Aus einer wohlhabenden jüdischen Familie stammend, konnte er, durch Erbschaften abgesichert, auch als „Studienabbrecher“ ein Leben als Privatgelehrter führen und darüber hinaus seinen organisatorischen Ambitionen gleichsam freien Lauf lassen – so unter anderem beim Monistenbund, bei der Deutschen Liga für Menschenrechte und der Friedensgesellschaft in Wien, und eben auch bei der Soziologischen Gesellschaft in Wien (ab 1907) und der Begründung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (1909). Soziologische Vereinigungen, pazifistische Organisationen, Kristallisationspunkte wissenschaftlicher Weltanschauung, politiknahe Gremien – Goldscheids Wirkungskreis war ein weiter, und er stand nicht nur mit führenden Vertretern der Sozialwissenschaften in Kontakt, sondern auch mit bedeutenden Naturwissenschaftlern wie Ernst Mach und Wilhelm Ostwald.1 Verglichen mit den „Klassikern“ des Faches blieb Goldscheid zwar eine Randfigur, seine einschlägigen Studien zur „Menschenökonomie“ und Sozialbiologie und zu Aufgaben und Problemen des Steuerstaates (mit denen er zu einem der Begründer der Finanzsoziologie wurde) sind in einigen sekundärliterarischen Arbeiten der jüngeren Zeit aber gut aufbereitet und gewürdigt worden.2

Für die Zeit von 1907 bis 1926 konnte Exner 133 Vorträge in der Soziologischen Gesellschaft identifizieren, von denen sie nur 24 Vorträge, also nicht einmal 20 Prozent, der „Soziologie im engeren Sinne“ zuordnet. Unter den Vortragenden sind so bekannte Personen wie Georg Simmel, Ferdinand Tönnies, Alfred Weber, Wilhelm Ostwald, Karl Lamprecht, Robert Michels, Eduard Bernstein, Otto Bauer, Max Adler, Joseph Schumpeter und Hans Kelsen, aber auch viele heute weitgehend vergessene Denker, von denen zum Teil nicht einmal basale biografische Daten ausfindig gemacht werden konnten. So informativ und verdienstvoll die Deskriptionen Exners auch sind, merkt man ihnen gelegentlich doch auch an, dass es kaum möglich ist, das weite Spektrum der behandelten Themen und Positionen zu überblicken, sachkundig darzustellen und darüber auch noch den aktuellen Forschungsstand zu berücksichtigen. An ein paar Beispielen soll präzisiert werden, welche Arten von Unschärfe Exners Rekonstruktionen beeinträchtigen.

Den ersten Vortrag in der „Soziologischen Gesellschaft“ hielt auf deren Gründungsversammlung am 24. April 1907 Georg Simmel zum Thema „Wesen und Aufgabe der Soziologie“. Exner (S. 24) referiert auszugsweise den Bericht der „Arbeiterzeitung“ (25. April 1907) über diesen Vortrag und verkennt in ihrer Darstellung gerade die Pointe von Simmels Soziologie, dass es nicht ein eigener „Forschungsgegenstand“ ist, der eine Wissenschaft konstituiert, sondern eine spezifische, durch Abstraktion gewonnene Problemstellung.

Wenige Wochen nach Simmels Tod hielt Max Adler am 18. Oktober 1918 in der „Soziologischen Gesellschaft“ einen Vortrag über „Die Bedeutung Georg Simmels für die Geistesgeschichte“. Exner erwähnt diesen Vortrag, kann über ihn inhaltlich aber nichts sagen, weil es ihr offensichtlich entgangen ist, dass Adler diesen Vortrag (wohl in erweitertem Umfang) auch publizierte.3

Über Franz Oppenheimer, der 1909 über: „Der Staat“ referierte, heißt es bei Exner (S. 49), dieser vertrete eine „ausgeprägt marxistische Auffassung“ des Staates. Tatsächlich war Oppenheimer aber direkt von der soziologischen Staatsidee des dem Marxismus kritisch gegenüberstehenden Konflikttheoretikers Ludwig Gumplowicz inspiriert.

Nicht korrekt ist ferner Exners Annahme (S. 222), in der italienischen Soziologie sei „seit etwa 1900 die Lehre Darwins“ zur Kenntnis genommen und kritisch rezipiert worden – dies geschah schon viel früher, nämlich bereits in den 1880er-Jahren.4

Zu Carl Grünberg (ab 1924 erster Direktor des Frankfurter Instituts für Sozialforschung), der 1910 einen Vortrag in der „Soziologischen Gesellschaft“ hielt, heißt es bei Exner (S. 78), sie habe „keine Biographie ausfindig“ machen können. Allerdings gibt es sehr wohl eine, wenn auch in Details nicht ganz zuverlässige, Biographie, die im Indexband zum Nachdruck des von Grünberg herausgegebenen „Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung“ erschienen ist.5

An solchen mehr oder minder bedeutsamen Details sollte erkennbar geworden sein, wo die Schwächen der Darstellung Exners liegen. Insbesondere dort, wo eine genauere Kenntnis der soziologischen Ideen- und Fachgeschichte erforderlich wäre, greift sie in sehr selektiver und nicht immer geglückter Weise auf sekundärliterarische Werke zurück, ohne deren Qualität im Einzelnen beurteilen zu können. So entsteht eine Mischung von durchaus sehr gut gelungenen und wenig erhellenden oder zentrale Argumente nicht erfassenden Deskriptionen.

Das schmälert freilich nicht Exners Verdienst, erstmals einen umfassenden Überblick der Aktivitäten der „Soziologischen Gesellschaft“ in Wien gegeben zu haben. Positiv hervorzuheben ist zudem ihr Versuch einer Auswertung der vorliegenden Daten, die berufliche Stellung, Herkunft, Altersverteilung und Geschlecht der Vortragenden berücksichtigt – was Letzteres betrifft, gab es nur zwei Frauen, Rosa Mayreder und Charlotte Bühler.

Anmerkungen:
1 Einen guten Überblick gibt: Jochen Fleischhacker, Rudolf Goldscheid: Soziologe und Geisteswissenschaftler im 20. Jahrhundert. Eine Porträtskizze, in: Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich, Newsletter 20 (2000), S. 3–13. Ebd., S. 14 ist das „Abgangszeugnis für Rudolf Goldscheid von der Königlichen Friedrich Wilhelms Universität zu Berlin“, datiert mit 11. Jänner 1895, abgedruckt, dem zu entnehmen ist, dass Goldscheid Vorlesungen unter anderem bei Gustav Schmoller, Wilhelm Dilthey und Georg Simmel hörte.
2 Gudrun Exner selbst hat sich in etlichen Publikationen mit dem Werk Goldscheids befasst, u.a.: Rudolf Goldscheid (1870–1931) and the Economy of Human Beings: A New Point of View on the Decline of Fertility in the Time of the First Demographic Transition, in: Vienna Yearbook of Population Research 2004, S. 283–301; Auf dem Weg zum Sozialstaat: Rudolf Goldscheids „Staatskapitalismus“ im Kontext der Diskussionen über eine Vermögensabgabe zur Kriegsschuldentilgung und der Sozialisierungsdebatte, in: Österreich in Geschichte und Literatur (mit Geographie) 55, 2 (2011), S. 130–147. Besonders instruktiv sind die beiden folgenden Publikationen: Helke Peukert / Manfred Prisching, Rudolf Goldscheid und die Finanzkrise des Steuerstaates, Graz 2009; Georg Witrisal, Der „Soziallamarckismus“ Rudolf Goldscheids. Ein milieutheoretischer Denker zwischen humanitärem Engagement und Sozialdarwinismus, Diplomarbeit Universität Graz 2004.
3 Max Adler, Georg Simmels Bedeutung für die Geistesgeschichte, Wien 1919.
4 Vgl. dazu Bernd Weiler, Ludwig Gumplowicz (1838–1909) und sein begabtester Schüler: Der Triestiner Franco Savorgnan (1879–1963), in: Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich. Newsletter 22 (2001), S. 29, wo italienische Werke aus den Jahren 1882 bis 1886 zitiert werden, „die sich insbesondere mit Fragen der Anwendung der darwinistischen Lehre auf das soziale Leben […] befassen.“
5 Vgl. Günther Nenning, Biographie C. Grünberg, in: Carl Grünberg (Hrsg.), Indexband zu Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung, Graz 1973, S. 1–224. Nur am Rande sei angemerkt, dass Exner Grünbergs Vornamen durchgehend mit „Karl“ angibt – was, wie bei Carl Menger, erst für den Sohn richtig ist.

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