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Titel
Religiosus Ludens. Das Spiel als kulturelles Phänomen in mittelalterlichen Klöstern und Orden


Herausgeber
Sonntag, Jörg
Reihe
Arbeiten zur Kirchengeschichte 122
Erschienen
Berlin 2013: de Gruyter
Anzahl Seiten
XII, 300 S.
Preis
€ 99,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Jaser, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

„Das Lachen dagegen schüttelt den Körper, entstellt die Gesichtszüge und macht die Menschen den Affen gleich“1 – diese schneidigen Worte des blinden Mönches Jorge von Burgos aus Umberto Ecos Roman „Der Name der Rose“ indizieren eine prinzipielle Distanz zu Spaß und Vergnügen, die bis heute das Bild vom monastischen Leben in der Fachwissenschaft und noch mehr in der populären Wahrnehmung nachhaltig prägt. Waren mittelalterliche Klöster nicht „totale Institutionen“ im Sinne Erving Goffmans, deren Insassen nichts anderes kannten als regelgeleitete (Selbst-)Disziplinierung, Askese und mortificatio carnis? In Ergänzung zur bisherigen Forschung, die ludische Unterhaltungsformen einseitig den Lebensbereichen der Stadt und des Hofes zugewiesen hat, geht der vorliegende Sammelband erstmals dem „paradoxe des moines joueurs“ (S. V) nach, den Praktiken und Legitimationsstrategien des Spiels im locus sanctus des Klosters und damit am Epizentrum dunkler Mittelalterklischees. Denn im „Spannungsfeld [aus himmlisch ausgerichteter Strenge und irdisch-menschlichem Spiel(be)trieb]“ (S. 4) seien von den religiosi ludentes nicht nur Spiele neu kreiert, sondern auch bestehende ludische Erscheinungsformen adaptiert, transformiert und kategorisiert worden, so dass von dieser Seite ein entscheidender Beitrag zur christlichen Tolerierung des Spiels „in und zwischen den Sphären von Kloster, Hof, Stadt und Land“ (S. 266) ausgegangen sei. Im Einklang mit dem mittelalterlichen Bedeutungsspektrum von ludus präferiert der Band, der auf eine Tagung von 2010 im Stift Heiligenkreuz bei Wien unter Beteiligung von Spieleforschern, Mediävisten, Theologen und Soziologen zurückgeht, einen weiten Spielbegriff, der körperliche Bewegungsspiele wie etwa das Ballspiel, Würfel-, Brett- und Kartenspiele sowie Wissens- und Rätselspiele umfasst.

Nach einem Geleitwort von Jean-Claude Schmitt und einer knappen Einführung des Herausgebers zur Forschungsgeschichte zeigt sich die disziplinäre Spannbreite des Bandes im ersten Teil, der aus der Perspektive eines Spieleforschers, eines Theologen und eines Ordenshistorikers die theoretischen Grundlagen des Gegenstandes auslotet: Ausgehend von vier Dimensionen des deutschen Begriffs ‚Spiel‘ (‚Zug-um-Zug-Spiele‘, ‚Bewegungs-Spiele‘, ‚Gestaltungsspiele‘, ‚Wettspiele‘) entwirft Rainer Buland eine Typologie der Spielorte im Kloster: in der Klosterschule, hinter und vor den Mauern, an verborgenen Orten und in der Kirche. Dabei scheut Buland nicht vor in der Forschung längst revidierten Pauschalurteilen zurück, die das Anliegen des Sammelbandes im Grunde konterkarieren: die Religiosen tout court hätten im Spiel „das Weltliche, die Verführung zum Laster, das Teuflische“ (S. 27) gesehen, und die Bewegungskultur sei „im katholisch-kirchlichen und mithin im klösterlichen Raum überwiegend von einer gewissen Leibfeindlichkeit, Langsamkeit und Getragenheit geprägt“ (S. 19) gewesen.2 Arnold Angenendt widmet sich den Gemeinsamkeiten zwischen Liturgie und Spiel, die er an der Regelhaftigkeit des Geschehens festmacht. Während allerdings die Regeln des menschlichen Spiels „menschengemacht“ (S. 61) seien, um die eigene Geschicklichkeit zu beweisen, diene die Liturgie „der letzten Ernsthaftigkeit“ und sei „göttlich gestiftet“ (S. 61) – eine Sichtweise, die den Gegenstand freilich der wissenschaftlichen Bewertung enthebt. Am Beispiel des religiosus ludus Bernhard von Clairvaux, der frühen franziskanischen ioculatores Domini und der spätmittelalterlichen Frauenmystik vergleicht schließlich Jörg Sonntag ludische Wahrnehmungen von bestimmten Formen der vita religiosa, die jeweils „Dimensionen der inneren Heiligwerdung“ (S. 78) implizierten. Insofern seien sie der Sphäre des Paraliturgischen im Zwischenraum von Spiel und Ernst, Kreatitivität und Institutionalisierung zuzuordnen.

Im zweiten Teil zu den Gefahren des Spiels im Spiegel von Recht und Predigt widmet sich Lars-Arne Dannenberg zunächst den Spielverboten für Kleriker und Mönche im kanonischen Recht des Mittelalters. Dabei kommt der Autor zu dem interessanten Befund, dass in der dekretalistischen Kommentarliteratur zu den einschlägigen Stellen des Liber Extra „eine ‚tiefschürfende‘ Auseinandersetzung mit spielenden Mönchen und Nonnen nahezu ausblieb“ (S. 83), wohingegen auf spätmittelalterlichen Partikularsynoden Verbote von insbesondere Schach- und Würfelspielen überaus häufig verhandelt worden seien. In einem besonders fundierten und lesenswerten Beitrag analysiert Alessandra Rizzi die ambivalenten Haltungen spätmittelalterlicher italienischer Prediger und Beichtväter aus den Bettelorden zum Phänomen des Spiels. Das Verbot von Glücks- und gewalttätigen Spielen sei dabei ebenso zur Sprache gekommen wie die ausdrückliche Förderung von ludi exercitiorum, das heißt Kompetenzspielen für Körper und Geist, so dass sich eine große Bandbreite an Positionen in Interaktion mit der städtischen Kultur abzeichne, abhängig von unterschiedlichen Adressatenkreisen und Sprechsituationen in Predigt und Beichte. Ebenfalls anhand von franziskanischen Predigten erörtert Thierry Depaulis die Inversion religiöser Symboliken zum Zwecke der Diabolisierung von Kartenspielen, die innerhalb der Klostermauern allerdings realiter kaum nachweisbar seien.

Den Auftakt des dritten Teils zum Platz ludischer Praktiken in der mittelalterlichen Klosterkultur im Spiegel von Wertevermittlung, Unterhaltung und Kunst bildet ein Beitrag von Kay Peter Jankrift, der die Bedeutung von Bewegungsspielen im Rahmen der klösterlichen Gesundheitslehre in den Blick nimmt. Heiner Gillmeister weist auf die verbreitete Praxis des jeu de paume als Vorläufer des Tennisspiels in den Kreuzgängen insbesondere französischer Klöster seit dem 12. Jahrhundert hin. Ob allerdings für diese Leitdisziplin höfischer und städtischer Sportkulturen des Spätmittelalters tatsächlich „monastic origins“ (S. 162) anzunehmen sind, bleibt im Bereich der Spekulation und kann als typischer Ausdruck der sporthistorischen „obession des origines“3 gelten. Unter willkommener Einbeziehung von sozial- und kulturgeschichtlichen Entwicklungstendenzen – monastische Rekrutierungsmilieus und „osmose“ (S. 174) von Mendikanten und städtischer Spielkultur gegen Ende des Mittelalters – geht Jean-Michel Mehl der Bedeutung von Würfel- und Brettspielen innerhalb der Klostermauern nach. Deren didaktische Funktionen stehen im Zentrum des darauffolgenden Beitrags von Ulrich Schädler: Schach, Schachgedichte und diverse Zahlenrätselspiele seien zum lateinischen Sprachunterricht und zur Vermittlung von Arithmetik, Geometrie und Metrik eingesetzt worden. Francesca Aceto beschäftigt sich mit den Rätselspielen des Franziskaners Luca Pacioli, der als „médiateur entre savoir théologique et savour technique“ (S. 212) in seinem zwischen 1499 und 1509 entstandenen Werk „De viribus quantitatis“ im Modus des Spiels mnemotechnische Aspekte mit der Inkorporation sozialer Normen verbunden habe. Elisabeth Vavra widmet sich den materiellen Überresten der mittelalterlichen Spielkultur in Kloster und Kirche: Murmeln, Spielsteine und ähnliche Relikte seien vorrangig „in Zweitverwendung aufgrund der Kostbarkeit zu Ehren Gottes und Zierde der Heiligen, aber auch als Rudimente aktiver Ausübung“ (S. 234) auf uns gekommen. Dabei sei die gewerbliche Produktion von ludischen Realien in Klöstern seit dem 12. Jahrhundert zunehmend von städtischen Werkstätten abgelöst worden.

In Form einer zusammenfassenden Reflexion diskutiert erneut Jörg Sonntag einerseits die Interpretationsleistungen der vormodernen vita religiosa in Bezug auf die Legitimation und Delegitimation von Spielen, andererseits deren Vermittlung aus dem religiösen Bereich hinein in das höfische und städtische Milieu. Dabei scheine im ausgehenden Mittelalter im Gefolge Thomas von Aquins „eine Führungsrolle der Dominikaner als Interpretatoren des Spiels unbestritten“ (S. 253) zu sein. Die für die Kommunikation von Spielen basalen Schnittstellen zwischen Kloster und Welt seien zunächst einmal die breitgefächerte Lokalität des Klosters mitsamt seiner Fried- und Vorhöfe sowie Kreuzgänge, später dann auch die Universitäten, die die monastische Tradition der „Theologisierung des Spiels“ (S. 261f.) fortsetzten. Mediale Träger der monastischen Spielkultur seien sowohl das geschriebene Wort (Regelbücher, Erbauungstraktate, Spielzauberanleitungen, spielmetaphorische Literatur) als auch Kunst (Spielutensilien) und Predigten. Nicolangelo D’Acunto beleuchtet abschließend den Aspekt der Disziplin als gemeinsamen Nenner der jahrhundertlangen Beziehungsgeschichte zwischen Kloster und Spiel.

In der Zusammenschau von allgemeinhistorischen, kirchen- und theologiegeschichtlichen und realienkundlichen Expertisen schlägt der Sammelband eine wichtige Schneise in ein Forschungsfeld, das bisher sträflich vernachlässigt wurde und für die Zukunft reichen Ertrag verspricht. Freilich sind auch Defizite unübersehbar: So bleibt etwa – mit Ausnahme einiger Andeutungen in den Beiträgen von Rizzi und Mehl – die Verknüpfung mit sozial- und kulturhistorischen Befunden, etwa zum sozialen Profil der betreffenden monastischen Gemeinschaften und spielkultureller Präferenzen von Möchen und Nonnen aufgrund familiärer Hintergründe, deutlich unterbelichtet. Interferenzen zwischen adeligen und monastischen Spielpraktiken und -diskursen müsste dabei systematischer und mit Blick auf einzelne Klöster und Orden sowie entsprechende regionale Differenzierungen nachgegangen werden. Gleichwohl ist es ein bleibendes Verdienst des Bandes, dass hier vielfältige und in Anbetracht eingeschliffener Gewissheiten durchaus überraschende Kontaminationen von Kloster und Spiel perspektivenreich zu Tage gefördert werden. Zwischen Regula und Spielregel, athleta Christi und Athlet liegen scheinbar keine Welten, sondern höchstens Nuancen.

Anmerkungen:
1 Umberto Eco, Der Name der Rose, 3. Aufl. München 1986, S. 168.
2 Zur Revision der angeblichen christlichen Leibfeindlichkeit unter Hinweis auf die Heterogenität christlicher Körperdiskurse vgl. Caroline Bynum, Why All the Fuss about the Body? A Medievalist’s Perspective, in: Critical Inquiry 22,1 (1995), S. 1–33.
3 Jean-Michel Mehl, Jeux, sports et divertissements au moyen âge et à la Renaissance: rapport introductif, in: Jeux, sports et divertissements au Moyen Age et à l’age classique. Actes du 116e congrès national des sociétés savantes, Paris 1993, S. 5–22, hier S. 12.