Cover
Titel
1945 bis heute. Die globalisierte Welt


Herausgeber
Iriye, Akira
Reihe
Geschichte der Welt 6
Erschienen
München 2013: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
955 S., 62 Abb., 9 Karten
Preis
€ 48,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter E. Fäßler, Historisches Institut, Universität Paderborn

Ein voluminöses Buch über die Geschichte der globalisierten Welt seit 1945 weckt Neugierde. Welche neuen Informationen, originellen Einsichten und bedenkenswerten Thesen wird es bereithalten? Vor allem aber: Wie gelingt es dem Herausgeber und den Autoren, die komplexe, vielsträngige und noch offene historische Entwicklung der vergangenen knapp 70 Jahre methodisch überzeugend zu analysieren und in einem schlüssigen Konzept zu präsentieren?

Der erste Blick auf das Inhaltsverzeichnis offenbart ein Themenspektrum, welches den struktur- und ereignisgeschichtlichen Besonderheiten des Untersuchungszeitraums erfreulich gerecht wird. Neben den klassischen Subdisziplinen der internationalen Politik- und Wirtschaftsgeschichte räumt Herausgeber Akira Iriye auch jüngeren, weniger etablierten Forschungsgebieten wie der Umweltgeschichte, der Geschichte der globalen Kultur sowie der transnationalen Geschichte jeweils ein eigenes Kapitel ein (wobei diese „Kapitel“ mit jeweils rund 150 bis 170 Seiten schon eigene kleine Monographien sind). Jeden Beitrag kennzeichne, so Iriye, ein „frischer Blick auf die ‚Zeitgeschichte‘“ (S. 9).

Ein übergeordnetes Narrativ, ein Interpretament größerer Reichweite als verbindende Klammer fehlt in der Einleitung. Das heißt aber nicht, beteuert der Herausgeber, dass die einzelnen Beiträge unverbunden nebeneinander stünden. Der hochgradig verwobenen historischen Entwicklung des ausgehenden 20. Jahrhunderts entsprechend, nähmen sie vielmehr in mannigfacher Weise aufeinander Bezug. Das maßgebliche Signet der Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg sieht Iriye in der verbindenden Transnationalität und dem daraus erwachsenden „Menschheitsgefühl“ (S. 11). Während Globalisierung und Transnationalisierung bereits für das 19. Jahrhundert zu diagnostizieren seien, in jenen Dekaden aber die Menschheit nicht nur zusammengeführt, sondern zugleich deren politisch, kulturell, sozial, religiös oder rassistisch motivierte Spaltung vorangetrieben hätten, würden beide Megatrends in jüngerer Zeit eher das Bewusstsein einer globalen Zusammengehörigkeit stärken. Auch wenn Iriye dies nicht explizit formuliert, scheint er der Auffassung zu sein, dass das globale „Menschheitsgefühl“ mit praktizierter Solidarität einhergehe.

Recht knapp, aber gedankenreich und bedenkenswert ist die Einleitung – wie sieht es mit der Umsetzung aus? Im ersten Beitrag zeichnet Wilfried Loth, ein ausgewiesener Kenner der Geschichte des Kalten Krieges und der europäischen Einigung, souverän die sich seit 1945 verändernde weltpolitische Landschaft. Seine Ausführungen lesen sich mit Gewinn, auch wenn sie die vom Herausgeber angekündigte „ganz neue Perspektive“ (S. 11) vermissen lassen. So ist Loths These bezüglich der Ursachen des Kalten Krieges und damit seine Antwort auf die Frage nach der politischen Verantwortung im Rahmen des hinlänglich diskutierten Modells wechselseitiger (Fehl-)Wahrnehmungen und sich aufschaukelnder Feindseligkeiten einzuordnen. Die in seiner Argumentation implizit anklingende Auffassung vom Ost-West-Konflikt „wider Willen“ diskutiert Loth leider nicht ausführlicher. Hier zeigt sich, wie auch in der Passage zu den Stalin-Noten, eine strukturelle Schwäche globalhistorischer Studien: Die unvermeidliche Reduktion historischer Komplexität geht zu Lasten der analytischen Tiefenschärfe. Inhaltlich gewichtet Loth den Einfluss nicht-staatlicher Akteure seit den 1970er-Jahren auf die internationale Politik meines Erachtens zu gering; er bleibt zu sehr dem konventionellen politikgeschichtlichen Ansatz verhaftet. Das überrascht, zumal der Beitragstitel ausdrücklich „Machtbeziehungen“ einschließt, die ja keineswegs nur politische Akteure gestalten.

Bereits die Überschrift des nachfolgenden Großkapitels von Thomas W. Zeiler ruft historische Assoziationen wach und macht damit neugierig. „Offene Türen in der Weltwirtschaft“ als Metapher für die vom Westen bevorzugte Freihandelspolitik erinnert an die „open door policy“ des 19. Jahrhunderts und lädt zu Variationen wie jener von der „geschlossenen Tür“ (Protektionismus) ein. Leider nutzt Zeiler dieses schöne Bild nur ansatzweise, um die US-dominierte Freihandelspolitik im ausgehenden 20. Jahrhundert anschaulich zu problematisieren. Auch weist er den historischen Vergleich zur „open door policy“ der Briten und der USA im 19. und frühen 20. Jahrhundert zurück (warum eigentlich?). Unbeschadet dessen beschreibt Zeiler die Weltökonomie nach 1945 bis in die unmittelbare Gegenwart kundig und verständlich. Mit gebotener Deutlichkeit legt er den Finger in die Wunde westlicher, vor allem US-amerikanischer Weltwirtschaftspolitik. Allzu häufig nahmen Regierungen und Unternehmen im Zeichen von „Freiheit“ und „Gerechtigkeit“ „Kollateralschäden“ bei Rechtsstaatlichkeit, demokratischer Kultur, sozialer oder ökologischer Gerechtigkeit in Kauf, um den eigenen ökonomischen Vorteil und geopolitischen Einfluss zu wahren oder noch zu stärken. Hier drängt sich geradezu eine kritische Diskussion von Iriyes These über das wachsende „Menschheitsgefühl“ seit 1945 auf – Zeiler führt eine solche Diskussion leider nicht.

Der Doyen einer global ausgerichteten Umweltgeschichte, John R. McNeill, und sein Co-Autor Peter Engelke legen ihrem Beitrag das von Paul Crutzen in die Diskussion gebrachte Konzept des „Anthropozän“ zugrunde. Die gleichermaßen soliden wie anschaulichen Schilderungen des Energieverbrauchs in Korrelation zur globalen Bevölkerungsentwicklung, des Klimawandels und der abnehmenden Biodiversität, der besonderen Umweltproblemlage in Ballungszentren sowie der Wechselwirkungen zwischen Kaltem Krieg und Umweltgedanken machen historisch interessierte Leser mit Sachverhalten vertraut, die mittlerweile zum Kanon allgemeingeschichtlicher Themen zählen sollten, dort aber noch keineswegs fest verankert sind.

Petra Göddes Beitrag „Globale Kulturen“ überzeugt durch eine nachvollziehbare Strukturierung. Sie erkennt einen kulturellen Globalisierungstrend nach 1945, der sich in drei Phasen einteilen lasse: Während der Phase I (1945 bis in die 1960er-Jahre) bildete die ideologisch-politische Konfrontation des Kalten Krieges den Rahmen, innerhalb dessen sowohl die USA als auch die UdSSR darum bemüht waren, ihren jeweiligen kulturellen Vorstellungen und Gütern globale Geltung zu verschaffen. Bekanntlich schnitten die USA erfolgreicher ab. Phase II charakterisiert die Autorin als Ära der „kulturellen Differenzierung“, zu deren wesentlichen Merkmalen sie das seit den 1960er-Jahren erwachende regionale Identitätsbewusstsein in Afrika, Asien und Lateinamerika sowie die Entwicklung einer Alternativkultur in Europa und Nordamerika zählt. Nach dem Ende des Kalten Krieges setzte Phase III ein, geprägt von einer atemberaubenden Beschleunigung der kulturellen Globalisierung bis zum heutigen Tage.

So anregend Göddes Ausführungen auch sind, stolpert man doch immer wieder über problematische Aussagen – beispielsweise über ihre These, dass kulturelle Globalisierung allgemein als Folge wirtschaftlicher Globalisierung angesehen werde. Zum einen dürfte das Verhältnis von ökonomischer und kultureller Globalisierung komplexer sein, als die Autorin es zum Ausdruck bringt. Zum anderen wäre mir neu, dass die Vorstellung eines schlichten Ursache-Folge-Modells im geschilderten Sinne Common Sense innerhalb unserer Zunft sein soll. Petra Gödde selbst belegt dies nicht. Und leider führt die Autorin – wie übrigens viele Kolleginnen und Kollegen – die Begriffe „Kultur“, „kulturelle Homogenisierung / Homogenität“ sowie „kulturelle Heterogenisierung / Heterogenität“ wie auch die damit verbundenen theoretischen Konzepte nur kursorisch aus. Eher triviale Einsichten von der globalisierungsinduzierten Gleichzeitigkeit kultureller Homogenisierung und Heterogenisierung sind das Resultat.

Den letzten Beitrag über „Die Entstehung einer transnationalen Welt“ liefert der Herausgeber Akira Iriye selbst. Er legt eingangs eine tragfähige Arbeitsdefinition des Begriffes „Transnationalismus“ vor (abgegrenzt von „Internationalismus“ und „Kosmopolitismus“) und führt die Leser anschließend auf eine Tour d’Horizon gesellschaftlicher Transnationalismen. Ob in der Kunst, der Musik, der Wissenschaft oder der Literatur – wohl in allen gesellschaftlichen Teilsystemen lässt sich eine zunehmende Transnationalisierung finden. Iriyes insgesamt sehr plausible Argumentation weist meines Erachtens zwei Schwächen auf. Zum einen behandelt er überwiegend „elitenbezogene“ Transnationalisierung, ohne die Frage nach deren gesellschaftlicher Reichweite zu diskutieren. Dabei weisen transnationale Tendenzen ebenso wie die Globalisierung stets auch ein schichtenbezogenes Profil auf. Zum anderen offenbart die eingangs erwähnte These vom zunehmenden „Menschheitsgefühl“ exemplarisch eine weitere strukturelle Schwäche globalhistorischer Argumentation: Weder vermag Iriye einen schlüssigen Kausalzusammenhang zwischen Transnationalität und schwindender Diskriminierung zu konstruieren, noch kann er den quantitativen Befund plausibel nachweisen, auf den sich seine These stützen soll. In der Gegenrede könnte man mit Blick auf die Produktionsverhältnisse in Bangladesch oder auf die Erdölförderung im Nigerdelta argumentieren, dass die „Spaltung der Menschheit“ im Gegensatz zum 19. Jahrhundert heutzutage subtilere, damit aber zynischere und nicht weniger skandalöse Formen angenommen habe. Und wie belastbar der westliche, liberale Wertekanon, das „Menschheitsgefühl“, im Zeichen drohender Knappheiten und härterer Verteilungskämpfe tatsächlich sein wird, bleibt abzuwarten. Erörtert wird diese Frage leider nicht – der Beitrag endet stattdessen mit einer völlig unkritischen Apotheose Barack Obamas.

Hinsichtlich der Gesamtkonzeption des Bandes erscheinen mir zwei Punkte diskussionswürdig. Zum einen stehen die einzelnen Kapitel recht unverbunden nebeneinander. Das ist weder mit der Ankündigung des Herausgebers in Einklang zu bringen noch sachlich gerechtfertigt. Schließlich liegen die mannigfachen Bezüge zwischen der weltpolitischen und weltwirtschaftlichen Entwicklung ebenso klar auf der Hand wie jene zwischen der ökonomischen und ökologischen Ebene. Und auch die globale Kultur, wie Petra Gödde sie versteht, weist selbstverständlich eine unauflösliche Verflechtung mit politischen und ökonomischen Strukturen auf.

Als zweiten gewichtigen Kritikpunkt möchte ich die theoretisch-analytische und die definitorische Zurückhaltung nennen, die der Herausgeber sowie die Autorin bzw. die Autoren an den Tag legen. Das führt dazu, dass die semantische Ausgestaltung der Schlüsselbegriffe „Globalisierung“, „Homogenisierung / Heterogenisierung“ oder auch „Kultur“ sowie die damit benannten Konzepte vage bleiben. Andere Kategorien, die die Welt des ausgehenden 20. und des beginnenden 21. Jahrhunderts ohne Zweifel ebenfalls prägen – wie „Knappheit“, „(Verteilungs-)Gerechtigkeit“ oder „Beschleunigung“ – hätten nach meinem Eindruck eine systematischere Behandlung verdient gehabt.

Fazit: Nicht trotz, sondern wegen der genannten Einwände empfehle ich den Band unbedingt zur Lektüre, sind es doch die – vermeintlichen oder tatsächlichen – Unzulänglichkeiten, die eine intensive gedankliche Auseinandersetzung mit der Globalgeschichte seit 1945 provozieren. Und die zahlreichen Vorzüge des Werkes wird die Leserschaft selbstredend genießen.