P. Bühler u.a. (Hrsg.): Pädagogische Erlöserfiguren

Cover
Titel
Zur Inszenierungsgeschichte pädagogischer Erlöserfiguren.


Herausgeber
Bühler, Patrick; Bühler, Thomas; Osterwalder, Fritz
Reihe
Prisma 19
Erschienen
Bern 2013: Haupt Verlag
Anzahl Seiten
320 S.
Preis
€ 46,90
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Heinz-Elmar Tenorth, Institut für Erziehungswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Basierend auf den Vorträgen eines Symposions der Erziehungswissenschaft an der Universität Bern wird hier ein Thema präsentiert, das nicht allein nationale und deutschsprachige, sondern zum Teil auch internationale Inszenierungsformen der Person oder der Ideen, sowohl der tatsächlichen als auch der ihnen zugeschriebenen, berühmter Pädagogen präsentiert. Gemeinsam ist dem Corpus der ausgewählten Personen, dass die Herausgeber sie zu „Erlöserfiguren“ – in einem noch zu diskutierenden Sinne – stilisieren. Der vorliegende Band konnte wohl nur in Bern entstehen, im Umkreis von Fritz Osterwalder; denn seine These und die einiger Mitstreiter ist schon lange, dass sich die moderne Pädagogik bis heute nicht von den religiösen Wurzeln getrennt hat, die ihr historisch zugrundeliegen.1 Erziehung als Praxis und Pädagogik als Reflexion seien „sakral bestimmt“, und zwar auch über die „christliche Tradition“ hinaus bis in die Gegenwart, wie die Herausgeber einleitend noch einmal festhalten.

Der Band geht dieser These am spezifischen Aspekt der Konstruktion von Erlöserfiguren in 15 Beiträgen nach, die einen Zeitraum von Renaissance und Reformation (ein Beitrag), mehrheitlich aber vom frühen 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart umspannen und dabei neben bekannten und viel diskutierten Autoren von – erwartbar – Pestalozzi (und natürlich von Daniel Tröhler) oder Dewey bis Spranger, Ellen Key, Peter Petersen, Berthold Otto oder Maria Montessori auch heute eher vergessene Theoretiker und Praktiker der Pädagogik aufnehmen. Dazu würde ich den katholischen Pädagogen Lorenz Kellner aus der Mitte des 19. Jahrhunderts zählen; man muss wohl bald auch den dänischen Theologen und Pädagogen Grundtvig in diese Kategorie rechnen, der hier als „Erzieher-Prophet“ eingeführt wird (Alexander Maier). Überraschend ist schließlich, dass auch Savonarola und Zwingli behandelt werden (von Osterwalder), und zwar unter dem Titel „Der Prophet als Erzieher“, gewissermaßen in der Umkehrung, dass Religion als „Erziehungsprogramm“ gedeutet wird, die Erzieherrolle also dem prophetischen, Erlösung versprechenden Denker zugeschrieben wird, so wie ansonsten die Erlöserrolle dem Pädagogen. Der Ertrag dieser in der Regel gut lesbaren, im historischen Material und in der einschlägigen Literatur argumentativ relativ breit abgestützten Beiträge ist selbstverständlich in mehreren Dimensionen zu messen, am systematischen Ertrag für die „Spielarten der Selbstinszenierung“, die zum Beispiel Christiane Thompson für zwei pädagogische Ratgeber untersucht, an der Bestimmung und Auswahl von Erlöserfiguren und an der Erhellung der historisch-gesellschaftlichen und pädagogischen, theoretischen wie praktischen Funktion, die diesen Figuren und ihrer Selbst- und Fremdinszenierung zukommt, ja sie überhaupt erst ermöglicht.

Der erste Eindruck ist dann: Die Auswahl von Erlöserfiguren ist wenig überraschend, es sind überwiegend doch die üblichen Verdächtigen, wenn über Klassiker der Pädagogik geredet wird – und natürlich hat eine Konferenz immer etwas Zufälliges, wenn die Kompetenz von Beiträgern für eine neues Thema gesucht wird. Auf den zweiten Blick ist die Corpuskonstruktion aber vielleicht auch mit einem systematischen und dann doch ungelösten Problem verbunden. Schon die Begrifflichkeit ist nämlich nicht ganz scharf: „Erlöserfiguren“ bilden zwar den Oberbegriff, aber für die Einleitung sind sie Teilmengen der Klasse „große Erzieher und die große Erzieherin“, so dass also auch „historische Größe“ als Referenzthema eingeführt wird. Das ist eine nicht unerhebliche Ausweitung des Personenkreises, es sei denn man setzt „Größe“ oder, wie an anderer Stelle (bei Thompson und bei Schäfer am Beispiel von Berthold Otto – wirklich eine „Größe“?), „Autorität“ und die von den großen Denkern genutzten „Autorisierungsstrategien“ mit Erlösungsfunktionen gleich. Das öffnet aber ganz andere Welten, Carlyle2 wäre dann für mich zum Beispiel eine Referenz (die gar nicht vorkommt), aber die würde das Thema deutlich verschieben. Entscheidend – für die Pädagogen oder für Erlöserfiguren? – sei allein die „moralische Integrität des Vorbildes“, gepaart mit der starken These, ansonsten „könnten (die großen Pädagogen) bis heute fast beliebig ausgetauscht werden“, wie die Herausgeber sagen (dann müsste man auch nicht über die Auswahl reden – Ghandi wäre so gut möglich wie Tagore). Der Soziologe Rolf Becker wiederum stützt sich in seinem Grußwort bei der Artikulation des Themas auf Max Weber und den Begriff des Charismas (genauso wie später auch Osterwalder); und das ist schon mehr an Systematik als die bloße Zuschreibung einer „Vorbild“-Funktion. Auch Johannes Bellmann verlangt sich stärkere Systematisierungsleistungen ab; er erwartet in seinem Beitrag über Dewey nicht nur die Beliebigkeit des guten Menschen, sondern schlägt vier Bestimmungsstücke vor: ein „heilsgeschichtliches Narrativ“, eine „allgemeine und umfassende moralische Lehre“, eine „persuasive Rhetorik“ und die „Einheit von Philosophie und Lebenspraxis“. Ob mit diesen Kriterien auch die „Gurus der Landerziehungsheime“ zu den Erlöserfiguren rechnen, wie im Beitrag von Jürgen Oelkers über „Eros und Lichtgestalten“, also die bekannten Größen von Lietz bis Geheeb, scheint mir durchaus strittig. Manchmal ist die Zuschreibung des Erlöserstatus an eine Person auch schon historisch kontrovers, wenn sie zugleich eine „Bewunderte und Geschmähte“ ist, wie Claudia Crotti für die Rolle von Ellen Key in der Schweizer Lehrerbildung zeigt. Schließlich gibt es sogar „Charismatiker zweiter Ordnung“, denn so wird Niklas Luhmann attribuiert (bei Markus Rieger-Ladich). Der Funktion nach sind nicht nur Personen als Erlöser präsent, sondern auch theoretische Schulen wie die „humanistische Psychologie“, natürlich dominant von Carl Rogers aus entfaltet (Reichenbach/Dietschi). Aber man fragt sich doch, warum der Klassikerstatus nicht insgesamt ausreicht, um das Phänomen in seiner Tradition und Kontinuität zu bezeichnen, wie das Bellmann macht, wenn er die „Umwertung eines Klassikers im Kontext der Disziplingeschichte“ analysiert und die Dewey-Rezeption sowie ihre Funktionalisierung zu erklären sucht.

Das führt zum dritten Problem, den Modi der „Inszenierung“. Die Texte arbeiten, verständlicherweise, weitgehend personenzentriert, aber sie arbeiten zum größten Teil auch textimmanent, stellen allenfalls den Erlöser-Autor mit seinen Texten in andere Texte der Zeit, begreifen den Kontext also sehr eng. Das klärt die „narrativen Tricks und Kniffe“ (so gleichlautend Becker wie die Herausgeber), mit denen die Erlöserfiguren operieren, vornehmer: die Semantik und Argumentation der Erlösung, die sie nutzen, zwischen Pathos und Mythisierung (wie bei Petersen zum Beispiel im Beitrag von Beate Klepper), aber auch das „Pathos der Distanz“, wie in der Luhmann-Rezeption, in der die Erlösung von tradierten Theorie- und Denkformen der Pädagogik gesucht wurde.3 Dabei fällt dem Rezensenten als einem näher beteiligten Zeitgenossen auf, dass das hohe Maß an Ironie, das die Luhmann-Rezeption begleitet hat, und der lockere Zynismus gar nicht erwähnt werden4; aber das würde auch das schöne Exempel zerstören, bzw. erklären, warum Erlöser zweiter Ordnung zu einer Haltung erlösen, die keine Erlösung mehr kennt.

Jenseits der immanenten Textrekonstruktion oder der Rekonstruktion anderer Formen der „Selbstinszenierung“, wie sie etwa im 18. Jahrhundert in den Franckeschen Anstalten im Halleschen Waisenhaus anlässlich von Jubiläen stattfanden (Pia Schmid), wird dagegen ein Aspekt der Inszenierung sehr wenig behandelt, der aber schon vom Charisma-Begriff her nahegelegen hätte (nicht nur wegen des ‚Gehorchenwollens‘ der Anhänger), nämlich die Konstruktion der Erlöserfigur in der Interaktion mit den gläubigen Jüngern, dem sektenhaft sich dem Erlöser verpflichtenden Publikum, mit der je spezifischen Öffentlichkeit, die den Status zuschreibt; denn auch die Erlöserfiguren sind ja nicht allein Erlöser in ihrer Selbstwahrnehmung und -beschreibung, sondern werden folgenreich erst durch die Zuschreibungen einer Umwelt, so wie die Klassiker zu Klassikern durch Attribuierung werden. Hier und da werden die dafür bedeutsamen Praktiken der Konstruktion zwar erwähnt, zentral dafür sind in den Materialgrundlagen in der Regel aber nur Rezeptionsprozesse und disziplinhistorische Analysen; und selbst das bleibt sehr sparsam. Selbst wenn der Blick auf die Gläubigen sich aufdrängt, wie bei den unterschiedlichen Montessori-Gesellschaften und ihren internen Querelen, gibt es fast nur eine sachimmanente, von Foucaults Normalitätsdiskussion inspirierte Analyse zum Prinzip der Übung bei Montessori (Malte Brinkmann), aber nichts Erhellendes oder Neues zu ihren eigenen Strategien, zu denen ihres Sohnes oder ihrer streitenden Anhänger. Auch Vergleiche zwischen unterschiedlichen Figuren und Sekten – zu schweigen von einer Analyse der Differenz von Epochen und Kulturen – sind ganz selten, Eurozentrismus dominiert. Oelkers zumindest vergleicht Steiners anthroposophische Gemeinde mit den Landerziehungsheimen und markiert zu Recht große Differenzen, aber schon einen Vergleich der Rolle von Luhmann im Kontrast zu der von Habermas und der kritischen Theorie in der Pädagogik bzw. in der kritischen Erziehungswissenschaft sucht man vergebens. Aber hier, bezieht man Heydorn und seine Anhänger mit ein, regieren ja Denkformen, für die Bildung als Erlösung wie selbstverständlich behauptet wird5, bis heute, milieuhaft und gelegentlich sektiererisch stabilisiert. Schließlich, selbst die innerpädagogischen Referenzen – Pädagogen wie Erziehungswissenschaftler aller Couleur – kommen als Konstrukteure von Erlösern bei Lorenz Kellner vor (Patrick Bühler), bleiben ansonsten aber blass. Bei Spranger zum Beispiel (Karin Priem) könnte man lernen, dass er Anerkennung im gemeinen Publikum, bei Politikern und philosophischen Kollegen besaß, aber zum Beispiel die sächsischen Lehrer ihn kaum als Erlöser gefeiert haben, im Gegenteil. Spranger war eher selbst Gläubiger, einer nationalistischen Ideologie von Fichte und Hegel und kultivierte den Kult des Antidemokratismus. Hier im „Deutschtum“6, ganz nationalistisch und antisemitisch, liegt offenbar das Zentrum seiner Arbeit, nicht im Pathos der „wissenschaftlichen Persona“, die war selbst noch dem Deutschtum unterworfen. Gleichwie, noch in den Rückfragen, die der Band zum Kern seines Themas, den Formen der Inszenierung, zu den Modi der Selbst- und Fremdinszenierung provoziert, liegt ein Beleg dafür, dass hier ein wichtiges Thema aufgegriffen und eine offene Frage klug eingeführt worden ist. Alle Antworten darf man beim ersten Zugriff noch nicht erwarten, Inspiration genügt.

Anmerkungen:
1 Die Herausgeber nennen einleitend einige dieser Schriften, u.a. für Osterwalder selbst: Pestalozzi – ein pädagogischer Kult. Pestalozzis Wirkungsgeschichte in der Herausbildung der modernen Pädagogik, Weinheim 1996 sowie ders. / Jürgen Oelkers / Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.), Das verdrängte Erbe. Pädagogik im Kontext von Religion und Theologie, Weinheim 2003. Ich würde u.a. ergänzen Fritz Osterwalder, Die pädagogischen Konzepte des Jansenismus im ausgehenden 17. Jahrhundert und ihre Begründung. Theologische Ursprünge des modernen pädagogischen Paradigmas, in: Jahrbuch für historische Bildungsforschung 2 (1995), S. 59–84.
2 Ich denke an die Vorträge, die er bis 1840 in London hielt: Thomas Carlyle, On heroes, hero-worship and the heroic in history, London 1846. Carlyle zählt zu seinen Typen des Heldentums den Propheten (Mohammed), den Dichter (Dante und Shakespeare), den Priester (Luther und Knox), den Schriftsteller (Johnson, Rousseau, Burns) und den Herrscher (Cromwell und Napoleon) – nicht den Lehrer; der ist wohl doch nur Hero des Alltags, ohne dass man ihm Größe zuschreibt.
3 Rieger-Ladich wiederholt die Zuschreibung an Karl-Eberhard Schorr, er habe gesagt, die Systemtheorie hätte in der Pädagogik einen „Theorieputsch“ versucht (zit. S. 80, unter Berufung auf Klaus Prange, Schlüsselwerke der Pädagogik, Bd. 2, Stuttgart 2009, S. 251). Das Ereignis, das dafür reklamiert wird, habe ich selbst miterlebt, meines Wissens haben beide, Luhmann wie Schorr, von einem „Theoriepush“ gesprochen, also einen Anstoß neu zu denken. Die sich offenbar einbürgernde Übersetzung in die Militärsprache ist selbst schon spätere Konstruktion, in der Zuschreibung von Außen genau so stabilisiert wie in der ironisierenden Akzeptanz von Innen. Schorr jedenfalls hat damit nur kokettiert.
4 In Jürgen Oelkers / Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.), Pädagogik, Erziehungswissenschaft und Systemtheorie. Weinheim 1987, S. 13 konnten wir unserer Einleitung zwei (authentische) Zitate von Luhmann und Schorr voranstellen, die auch die Selbsteinschätzung dieses Theorieangebots zeigen: „Darf man dieser Theorie trauen? Sieht sie alles?“ (Luhmann/Schorr 1979, S. 338) und Schorrs Antwort: „Um Gottes willen, nein!“ (1980, mündlich).
5 Nach wie vor unentbehrlich für diesen eschatologischen Aspekt: Ewald Titz, Bilderverbot und Pädagogik. Zur Funktion des Bilderverbots in der Bildungstheorie Heydorns, Weinheim 1999 – und die milieuhafte Reaktion einer leicht wütenden Abwehr spricht für eine starke Binnenzentrierung der Heydorn-Anhänger.
6 Jüngst dazu Klaus Himmelstein, Das Konzept Deutschheit. Studien über Eduard Spranger, Frankfurt am Main 2013.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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