M. Meyen u.a.: Wer jung ist, liest die Junge Welt

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Titel
Wer jung ist, liest die Junge Welt. Die Geschichte der auflagenstärksten DDR-Zeitung


Autor(en)
Meyen, Michael; Fiedler, Anke
Erschienen
Anzahl Seiten
280 S., 71 s-w. Abb.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Großmann, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Noch vor gut drei Jahren wies eine Zwischenbilanz zur Mediengeschichte der DDR auf große Lücken insbesondere bei der Erforschung der Presselandschaft hin.1 Inzwischen sind die Lücken etwas kleiner geworden. Das ist nicht zuletzt Michael Meyen und Anke Fiedler zu verdanken, die in den zurückliegenden Jahren mit einer Reihe von Veröffentlichungen zum Lenkungsmechanismus der Medien in der DDR, zu ihren Journalisten und zur Presselandschaft dazu beigetragen haben, die Desiderate der DDR-Mediengeschichte zu vermindern.2 Neben der Erschließung umfangreicher Quellenbestände, die die Medienbürokratie der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) hinterlassen hat, bemühten sich die Kommunikationswissenschaftler Meyen und Fiedler, mit der Publikation von Interviews auch die Medienmacher und Verantwortlichen zu Wort kommen zu lassen, um nicht allein die Akten sprechen zu lassen. Insgesamt zeigen diese Forschungsbeiträge die Tendenz, die in der Mediengeschichtsschreibung über die DDR lange Jahre etablierte Deutung von zentral gesteuerten Medien und einer monolithischen Öffentlichkeit unter Parteikontrolle auf empirischer Basis zu relativieren.3

In diesen Forschungskontext reiht sich auch die Monografie über die Junge Welt ein – von 1947 bis 1989/90 Zeitung des Zentralrats der Freien Deutschen Jugend (FDJ) mit einer Auflage von zuletzt 1,5 Millionen Exemplaren. Wer etwas über den Sozialismus in der DDR lernen wolle, so das Argument der Autoren, könne dies am besten anhand des Massenblatts Junge Welt, das aufgrund seiner Popularität eine gewisse Sonderstellung innerhalb des DDR-Mediensystems innehatte. Dieser Zusammenhang lässt sich auch andersherum deuten: Die Sonderstellung der Jungen Welt als „jugendlich“ und im Systemrahmen minimal deviant sicherte dem Blatt seine Popularität bei den Lesern. Ihr Buch über das Phänomen Junge Welt verstehen die Autoren als „Biografie“ (S. 9). Am herausragenden Einzelfall der seit Mitte der 1970er-Jahre auflagenstärksten Tageszeitung in der DDR „soll das im Detail behandelt, differenziert und vielleicht auch korrigiert werden, was aus der Totalen fast zwangsläufig zum Klischee erstarrt“ (ebd.). Tatsächlich stehen mehr die Menschen in der und hinter der Jungen Welt im Vordergrund des Buches und weniger die Strukturen des Mediensystems. So entsteht hier eine „Biografie“ der Zeitung primär aus den Einzelbiografien der Journalisten über die drei Generationen der DDR hinweg. Geschichten aus dem Blätterwald, locker geschrieben, bisweilen ironisch und mit Liebe zum Detail – ein Kaleidoskop an Fakten, Personen und Ereignissen, das selbst fast wie eine Zeitung wirkt, die ganz unterschiedliche Themen zu verbinden sucht.

Neben den Machern der Zeitung beschreibt ein Kapitel die Medienlenker der Zeitung im Zentralrat der FDJ und im Zentralkomitee der SED. Früh begegnet der Leser hier Erich Honecker, der sich als FDJ-Chef wie ein „Generalchefredakteur“ fühlte und die Zeitung kurz nach ihrer Gründung zur Hauspostille der FDJ-Leitung machte (S. 40). Immer in seiner Reichweite agierte Joachim Herrmann, der noch vor seinem 21. Geburtstag und nur wenige Tage nach Gründung der DDR ohne jede entsprechende Ausbildung zum stellvertretenden Chefredakteur der Jungen Welt ernannt wurde. Auf den gemeinsamen Aufstieg folgte am Ende der gemeinsame Fall: Im Oktober 1989 wurde Herrmann als ZK-Sekretär für Agitation und Propaganda als Verantwortlicher für die Medien des Landes gemeinsam mit seinem Chef Honecker gestürzt. Honecker, Herrmann und die Medien – fast erscheint dies als eine Klammer für die vierzig Jahre DDR.

Weitere Kapitel behandeln die Inhalte der Jungen Welt sowie ihr Publikum, das in der Leserpost an die Zeitung und in überlieferten Statistiken aufscheint. Die Autoren können an dieser Stelle auch auf die frühere Forschung von Michael Meyen zur Mediennutzung in der DDR zurückgreifen.4 Die zahlreichen Leserbriefe werten die Autoren wie die verbreitete Praxis der Eingaben in der DDR als Öffentlichkeitsersatz. Die Bürger hätten hier Antworten auf ihre Fragen erhalten und die SED-Führung habe aus den Briefen erfahren, wo es in der Bevölkerung brannte. „Wenn der Begriff nicht paradox wäre, könnte man von einer internen Öffentlichkeit sprechen.“ (S. 168) Eine interessante These, die aber nur angerissen wird. Mit 7.000 bis 8.000 Leserbriefen jährlich voller persönlicher Fragen und Anliegen an die Zeitung und mehreren Redakteuren, die täglich ausschließlich diese Briefe beantworteten, wird die Intensität des Austauschs zwischen Zeitung und Publikum deutlich. Das mag auch für die Leser-Blatt-Bindung eine Rolle gespielt haben.

Auch zu den Medienlenkern in SED und FDJ tragen die Autoren eine durchaus provokante These vor. Meyen und Fiedler lehnen klassische Propagandakonzepte für die Beschreibung der DDR-Medien ab. Sie stützen sich stattdessen auf eine Definition für politische Öffentlichkeitsarbeit des Kommunikationswissenschaftlers Klaus Merten, der Public Relations (PR) als „Differenzmanagement zwischen Fakt und Fiktionen“ versteht. PR-Experten entsprechen Merten zufolge demnach „professionellen Konstrukteuren fiktionaler Wirklichkeiten“ (S. 27). Die Autoren übertragen dieses Verständnis auf die DDR-Verhältnisse und sehen sich in ihrer Annahme dadurch bestätigt, dass zum einen die Tageszeitungen trotz Medienlenkungsbürokratie Unterschiede aufwiesen, gerade im Hinblick auf bestimmte Zielgruppen. Zum anderen zeichne sich die SED-Medienpolitik dadurch aus, dass Positives groß herausgestellt, Negatives aber klein geredet werde. Aus Fakten, so die Autoren, würden Fiktionen gestrickt (S. 28).

So nachvollziehbar der Versuch ist, dem häufig gebrauchten Propagandaparadigma ein anderes Konzept entgegenzustellen, es bleiben doch Zweifel an der Eignung des Begriffs „Differenzmanagement“ für die gesellschaftsgeschichtliche Forschung zu Medien in der DDR. Denn die Merten’sche PR-Definition setzt eine klare und den Akteuren bewusste Unterscheidung zwischen einer objektiven Wahrheit, dem Fakt, und einer subjektiv erzeugten Unwahrheit, der Fiktion, voraus. Stattdessen deuten auch die Zitate aus den Interviews mit den Parteijournalisten eher darauf hin, dass diese klare Unterscheidbarkeit unter den ideologischen Rahmenbedingungen eben häufig nicht gegeben war. Ideologie zeichnet sich gerade dadurch aus, dass schon eine Wahrnehmung der im Merten’schen Sinne wahren Fakten nicht mehr ungetrübt möglich ist. Es kann nicht sein, was nicht sein darf, sagt der Volksmund und trifft damit die Logik ideologischer Kommunikation, die keine Differenzen managt, sondern aus Weltanschauung heraus Wirklichkeiten reproduziert, die aus „Einsicht in die Notwendigkeit“ von allen Beteiligten für wahr erachtet werden.

Gleichwohl stellen das Buch von Meyen und Fiedler einschließlich seiner konzeptionellen Vorschläge einen wichtigen Schritt hin zu einem besseren Verständnis der Medien sowie deren Bedeutung und Leistung in der DDR-Gesellschaft dar. Doch weder die Forschung zu einzelnen Medien, ihren Beziehungen und Verflechtungen, noch die Debatte über einen theoretisch-begrifflichen Zugang sind abgeschlossen. Für eine neue Zwischenbilanz ist es noch zu früh.

Anmerkungen:
1 Vgl. den Tagungsbericht von Thomas Großmann zu DDR-Geschichte in Forschung und Lehre. Bilanz und Perspektiven. 23.09.2010–24.09.2010, Berlin, in: H-Soz-u-Kult, 04.11.2010, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=3353> (17.02.2014).
2 Vgl. u.a. Anke Fiedler / Michael Meyen, „Nichts tun, was unseren Interessen schadet!“ Eine Inhaltsanalyse der Argumentationsanweisungen der Abteilung Agitation (1960-1989), in: Deutschland Archiv 43 (2010), S. 1034-1042; dies., Totalitäre Vernichtung der politischen Öffentlichkeit? Tageszeitungen und Kommunikationsstrukturen in der DDR, in: Stefan Zahlmann (Hrsg.), Wie im Westen, nur anders. Medien in der DDR, Berlin 2010, S. 35-59; vgl. die Rezension von Gerd Dietrich, in: H-Soz-u-Kult, 11.04.2011, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2011-2-029> (17.02.2014); dies., Die Grenze im Kopf. Journalisten in der DDR, Berlin 2011; vgl. die Rezension von Christian Schemmert, in: H-Soz-u-Kult, 22.06.2011, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2011-2-228> (17.02.2014).
3 Vgl. für diese Forschungsrichtung Gunter Holzweißig, Die schärfste Waffe der Partei. Eine Mediengeschichte der DDR, Köln 2002; vgl. die Rezension von Günter Agde, in: H-Soz-u-Kult, 03.06.2003, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2003-2-129> (17.02.2014).
4 Vgl. Michael Meyen, Denver Clan und Neues Deutschland. Mediennutzung in der DDR, Berlin 2003; vgl. die Rezension von Hanno Hochmuth, in: H-Soz-u-Kult, 09.04.2004, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2004-2-024> (17.02.2014).

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