A. Christians: Amtsgewalt und Volksgesundheit

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Titel
Amtsgewalt und Volksgesundheit. Das öffentliche Gesundheitswesen im nationalsozialistischen München


Autor(en)
Christians, Annemone
Reihe
München im Nationalsozialismus 1
Erschienen
Göttingen 2013: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
374 S.
Preis
€ 38,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Herwig Czech, APART-Stipendiat der Österreichischen Akademie der Wissenschaften am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien

Mit der Buchfassung ihrer Dissertation, erschienen im Herbst 2013 unter dem Titel „Amtsgewalt und Volksgesundheit. Das öffentliche Gesundheitswesen im nationalsozialistischen München“, legt Annemone Christians die erste monographische Studie zum nationalsozialistischen Gesundheitswesen in München und damit zur drittgrößten Stadt des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1937 vor.1

In fünf Kapiteln untersucht sie das institutionelle Gefüge, Handlungsrahmen und Akteure des Münchner kommunalen Gesundheitswesens (S. 27–97), die Gesundheitsfürsorge unter dem Einfluss der NS-Ideologie (S. 98–236), die praktische Umsetzung der „Erb- und Rassenpflege“ (S. 143–236), die Auswirkungen des Krieges auf Krankenversorgung und Gesundheitsverwaltung (S. 237–290) sowie Entnazifizierung, medizinisches Krisenmanagement und Umgang mit den Opfern nach dem Ende des NS-Regimes (S. 291–328).

Thematisch wie methodisch schlägt die Studie einen ähnlichen Weg ein wie Winfried Süß’ 2003 erschienenes Buch „Volkskörper im Krieg“2, bietet aber angesichts der regionalgeschichtlichen Fokussierung eine wesentlich detailreichere Auflösung und vermag zudem einige überraschende Besonderheiten der Entwicklung in München herauszuarbeiten. Dazu gehört vor allem der Befund, dass die kommunale Gesundheitsverwaltung trotz der symbolisch bedeutsamen Stellung Münchens im nationalsozialistischen Machtgefüge und der Rolle der Stadt als akademisches Zentrum der „Rassenhygiene“ bei der Umsetzung der „Erbgesundheitspolitik“ hinter anderen deutschen Großstädten hinterherhinkte. Dies hatte vor allem auch damit zu tun, dass ein städtisches Gesundheitsamt überhaupt erst 1929 eingerichtet worden war, mit zunächst äußerst bescheidenen Kompetenzen. Erst 1937 erfolgte mit der Implementierung des „Gesetzes zur Vereinheitlichung des Gesundheitswesens“ von 1934 der entscheidende Schritt zur Schaffung eines schlagkräftigen biopolitischen Apparates, dessen wichtigste rassenhygienische Aufgabe zunächst die Durchführung der Zwangssterilisationen nach dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ bildete. Die Darstellung der Zwangssterilisationspolitik in München macht auch den Hauptteil des entsprechenden Buchkapitels zur Umsetzung der „Erb- und Rassenpflege“ aus. Trotz des vergleichsweise späten Beginns sahen sich insgesamt 6.881 Personen mit einem Antrag auf Sterilisation konfrontiert, wobei in 86,5 Prozent der 5.686 rekonstruierbaren Fälle bereits in der ersten Instanz ein entsprechender Beschluss gefällt wurde. Die Zahl der Fälle stellt keine auffällige Abweichung vom Reichsdurchschnitt dar. Als Münchener Besonderheit darf aber gelten, dass die häufigste Begründung „Schizophrenie“ lautete, und nicht wie andernorts geistige Behinderung bzw. „Schwachsinn“ (S. 334). Die Ablehnungsquote bei den Anträgen auf Ehestandsdarlehen lag mit sechs Prozent deutlich über dem Reichsdurchschnitt, aus der Schwäche der Gesundheitsverwaltung innerhalb der Kommunalbürokratie darf also keineswegs automatisch auf eine geringere Durchschlagskraft bei der Implementierung der „Erb- und Rassenpflege“ geschlossen werden (S. 333).

Der Rückstand Münchens bei der Einrichtung einer zentralisierten und im sozialpolitischen Bereich insgesamt richtungsweisenden Gesundheitsverwaltung blieb laut Christians ein dauerhaftes Strukturmerkmal bis zum Kriegsende. Daraus ergab sich, dass es im Gegensatz zu anderen Städten nicht zu einer „Überwölbung des Wohlfahrtsbereichs durch die rassenhygienisch justierte Gesundheitsverwaltung“ kam. In diesem Zusammenhang ist bezeichnend, dass Leonardi Conti noch 1943 mit dem Versuch scheiterte, den Chef der Gesundheitsverwaltung in die Spitze der Münchner Kommunalverwaltung zu bringen. Diese Schwäche der Gesundheitsverwaltung schlug sich zum Beispiel darin nieder, dass die „erbbiologische Bestandsaufnahme“, als „Kataster des Volkskörpers“ ein Herzstück der rassenhygienischen Restrukturierung von Gesundheits- und Sozialleistungen der Stadt, im Jahr 1938 erst acht Prozent der Münchner Bevölkerung umfasste, während Städte wie Hamburg bereits auf eine Erfassungsdichte von zwei Dritteln verweisen konnten (S. 329–232). Die ideologische Durchdringung wesentlicher Bereiche der kommunalen Gesundheitsverwaltung im Sinne des sozialrassistischen Paradigmas des Nationalsozialismus konnte dennoch weitgehend realisiert werden, wie Christians in dem umfassenden Kapitel zur „ideologisierten Gesundheitsfürsorge“ (S. 98–236) überzeugend darlegen kann. Dabei berücksichtigt sie mit der Familienfürsorge, der Mütter- und Säuglingsfürsorge, dem Schulgesundheitsdienst, der Sportförderung sowie der Tuberkulosefürsorge sowohl Bereiche, die bereits seit längerem das Interesse der Forschung auf sich gezogen haben, als auch bisher eher vernachlässigte Arbeitsgebiete der kommunalen medizinischen Versorgung.

Eine tragende kommunalpolitische Rolle konnte das Gesundheitsamt laut Christians erst während des Krieges erlangen, als die „Erb- und Rassenpflege“ als vormals zentrale Aufgabe von neuen Prioritäten abgelöst wurde. Nun standen die medizinische Grundversorgung der Zivilbevölkerung, die Erfüllung der verschiedenen Ansprüche der Wehrmacht auf personelle und materielle Ressourcen sowie die Eindämmung von als „Kriegsseuchen“ gefürchteten Infektionskrankheiten im Vordergrund (S. 337). Besonderes Augenmerk gilt hier der zunehmenden Ausgrenzung und kaskadenartigen Verdrängung von PatientInnen mit ansteckenden, chronischen oder schweren Erkrankungen, auf deren Kosten sich zuspitzende Konflikte um zunehmend knapper werdende medizinische Ressourcen ausgetragen wurden. Am Ende dieser Verdrängungskette standen psychiatrische PatientInnen, von denen in letzter Konsequenz viele der „Euthanasie“ zum Opfer fielen, wobei im Münchener Kontext vor allem die Anstalt Eglfing-Haar eine unrühmliche Rolle spielte (S. 338).

Durch die thematische Fokussierung auf die Gesundheitsverwaltung und deren innere Vorgänge, Machtrelationen und Konflikte, geschuldet nicht zuletzt dem deutlich spürbaren Einfluss des Polykratie-Paradigmas, kommen die Betroffenen der gesetzten Maßnahmen (selektive Förderung, Diskriminierung bis hin zur Ausgrenzung aus lebensnotwendigen Versorgungsleistungen und Ermordung) kaum zu Wort. Die konkrete menschliche Dimension droht dabei manchmal aus dem Blick zu geraten. Es sind Abschnitte wie jener über die (meist vergeblichen) Bemühungen der Opfer der Zwangssterilisationen um Anerkennung und Entschädigung nach 1945, die trotz des hohen Abstraktionsniveaus der Studie erahnen lassen, welches Leid die erbbiologischen Verfolgungsmaßnahmen weit über das Kriegsende hinaus nach sich zogen.

Insgesamt handelt es sich um einen beeindruckend quellengesättigten und sehr sorgfältig redigierten Band, der über den regionalgeschichtlichen Rahmen Münchens hinaus interessante Bezugspunkte für den Vergleich unterschiedlicher regionaler Dynamiken in der Gesundheitspolitik und -verwaltung bietet und nicht zuletzt als Anregung für entsprechende Studien zu anderen Großstädten dienen sollte – allen voran ist hier Berlin zu nennen, das in dieser Hinsicht nach wie vor ein schmerzliches Forschungsdesiderat bildet.

Anmerkungen:
1 An früheren regional fokussierten Monographien zur Gesundheitsverwaltung im Nationalsozialismus seien erwähnt: Johannes Vossen, Gesundheitsämter im Nationalsozialismus. Rassenhygiene und offene Gesundheitsfürsorge in Westfalen 1900/1950, Essen 2001; Herwig Czech, Erfassung, Selektion und „Ausmerze“. Das Wiener Gesundheitsamt und die Umsetzung der nationalsozialistischen „Erbgesundheitspolitik“ 1938 bis 1945, Wien 2003; Josef Goldberger, NS-Gesundheitspolitik in Oberdonau. Die administrative Konstruktion des „Minderwertes“, Linz 2004.
2 Winfried Süß, Der „Volkskörper“ im Krieg. Gesundheitspolitik, Gesundheitsverhältnisse und Krankenmord im nationalsozialistischen Deutschland 1939–1945, München 2003.

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