Cover
Titel
Club Red. Vacation Travel and the Soviet Dream


Autor(en)
Koenker, Diane P.
Erschienen
Anzahl Seiten
XI, 307 S.
Preis
$39,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Eva Maurer, Universitätsbibliothek Bern, Schweizerische Osteuropabibliothek

Lange fanden allenfalls Reisen von Ausländern in die Sowjetunion,1 nicht aber die Freizeitmobilität sowjetischer Bürger selbst die Aufmerksamkeit der historischen Forschung: War nicht das Reisen eben ein „Soviet Dream“, etwas, von dem die meisten Sowjetbürger ohnehin nur träumen konnten? Erst seit gut einem Jahrzehnt ist der sozialistische Binnentourismus zu einem rege bearbeiteten und zunehmend auch transnational ausgerichteten Forschungsfeld avanciert. In diesem positioniert sich auch Diane Koenkers Buch „Club Red“, das sich der Organisation und Praxis sowjetischer Ferienreisen von den 1920er bis zu den 1980er Jahren widmet.2

Bereits 1922 verankerte die noch junge Sowjetunion einen gesetzlichen Anspruch auf Ferien und begann früh mit dem Aufbau einer entsprechenden Infrastruktur. Und der Staat sollte bis zum Ende der Sowjetunion sein Monopol im Bereich Tourismus behalten. Koenker zeigt in den ersten drei Kapiteln, die sich mit dem sowjetischen Ferienreisen vor dem 2. Weltkrieg befassen, wie spezifisch sowjetische Modernitätsvorstellungen diese prägten. So existierte in der Sowjetunion einerseits der mobile Tourismus (turizm, was etwa Trekking oder Kanutouren umfasste), andererseits die stationäre Erholung (otdych), welche unter der strikten ärztlichen Aufsicht im Sanatorium oder Erholungsheim stattfand: Ferien als Therapie sollten die ‚Maschine Körper‘ und deren durch die Arbeit beanspruchte Antriebskraft fachkundig wiederherstellen. Offenkundig wird in diesen frühsowjetischen Konzeptionen auch der hohe Grad an Organisation und Sinnhaftigkeit, der – zumindest in der Theorie – dem Ferienmachen zugedacht war: Urlaub war kein simples ‚Abschalten‘, sondern diente der systematischen Erholung aller Kräfte, der Bildung und Erweiterung des Horizonts, aber auch dem sozialen Aspekt der Eingliederung in ein Kollektiv. Daher rührte auch lange Zeit der Fokus auf Massenreisen und -unterbringung.

Bereits in den 1930er Jahren zählten Ferienreisen als ostentativer Luxus auch zu den Kennzeichen eines „guten sowjetischen Lebens“,3 wurden jedoch nur an Auserwählte als Belohnung verteilt. Erst mit dem Wandel zu einer eher freizeit- und konsumorientierten Gesellschaft in der Sowjetunion ab den 1960er Jahren wurde die Ferienreise für breitere urbane Schichten möglich – allerdings immer noch in geringem Umfang verglichen mit westeuropäischen Ländern. Koenkers Buch macht sehr schön deutlich, wie sich im Tourismus die soziale Stratifikation der Sowjetunion zeigte: Bereits in den Anfangsjahren des sowjetischen Tourismus waren die begehrten Ferienorte am Schwarzen Meer und im Kaukasus primär der Intelligenzija, den Parteifunktionären und anderen Angehörigen der sogenannten sowjetischen Mittelschicht zugänglich, während die angebliche Zielgruppe, die Arbeiter, mit weniger attraktiven Destinationen vorlieb nehmen musste (S. 33 und andere). Daran änderte sich wenig, und praktisch völlig ausgeschlossen von diesen neuen Freizeit- und Konsumpraktiken blieben bis weit in die Nachkriegszeit hinein die sowjetischen Bauern: Wie diese ihre Freizeit und Ferien – sofern dieses Konzept überhaupt anwendbar ist – verbrachten, harrt noch immer der Untersuchung.

Koenker untersucht das Ferienmachen vor allem in den vier Kapiteln zur Nachkriegszeit als Praxis des Konsums und bezieht dazu ausführlich aktuelle kulturgeschichtliche Forschungen zum sowjetischen Konsum mit ein. Wie für andere Konsumpraktiken waren auch organisierte Ferienreisen vor allem Teil des Lebensstils der sowjetischen urbanen Mittelschichten, der ab den 1950er Jahren für weitere sowjetische Gesellschaftsgruppen zum Teil normbildend wurde. Doch die Mehrheit der Bevölkerung machte lange – wenn überhaupt – jenseits der staatlichen Strukturen Ferien. Über den „wilden“, das heißt nicht staatlich organisierten Tourismus, der zahlenmäßig den organisierten Tourismus übertraf, erfährt man bei Koenker wenig – nicht zuletzt, weil dieser quellentechnisch deutlich schwieriger zu fassen ist. Gar nicht erwähnt wird indes eine sehr populäre sowjetische Form des Ferienmachens, nämlich der sommerliche Auszug „aufs Dorf“, in die Datscha oder zu Verwandten. Hier würde eine Gegenüberstellung die Dimensionen des staatlich organisierten Ferienmachens noch verdeutlichen.

So heterogen wie die sowjetischen Reisenden waren, so vielfältig zeigen sich in „Club Red“ auch die Akteure auf der Anbieterseite. Gewerkschaften und Betriebe, Ministerien und Gemeindeverwaltungen von Ferienorten, Ärzte, Kulturprogrammverantwortliche und Hotelverwalter waren alle an der Gestaltung sowjetischer Ferien beteiligt, und ihre Interessen wie auch ihre Herangehensweisen divergierten zum Teil erheblich. Es ist Koenkers großer Verdienst, mit einer beeindruckend breiten Quellenbasis nicht nur die zentralen Organisationen in Moskau, sondern auch ganz unterschiedliche einzelne regionale oder lokale Akteure zu Wort kommen zu lassen – bis hin zu den Sanatoriumsköchen, die zunächst einige Mühe hatten, den (meist russischen) Feriengästen exotische Gerichte aus den zentralasiatischen Republiken schmackhaft zu machen.

Das wechselseitige Spannungsverhältnis zwischen planwirtschaftlich-staatlichen Angeboten und Konsumentenwünschen wird gerade in der Nachkriegszeit deutlich. Lange herrschte wie bei vielen anderen sowjetischen Gütern und Leistungen auch bei Ferienmöglichkeiten ein generelles Defizit, das einerseits aus einer stark hinterherhinkenden Infrastruktur, andererseits aus der Allgegenwart von informellen, intransparenten und oft korrupten Verteilpraktiken resultierte. Während, wie Koenker betont, Unterschiede in der Wahl von Feriendestinationen und in der Gestaltung des Reisens zum Teil bewusste Distinktionsentscheide sozialer Gruppen waren, sollten daher immer auch Zwänge und Zufälligkeiten des Systems nicht unterschätzt werden.4 Letztlich kam das Engagement des sowjetischen Staates für einen moderneren Tourismus erst ab 1970, in der sonst als Breschnewsche Stagnation bekannten Periode, wirklich in Schwung (siehe auch S. 284). Gut fünfzig Jahre nach den Anfängen des sowjetischen Tourismus zollten staatliche Planer den Wünschen nach Familienurlaubsmöglichkeiten, nach Hotels, Restaurants und einem selbstbestimmten Tagesablauf Rechnung – ein Zugeständnis an die Reisenden, deren Ansprüche sich nicht zuletzt auch mit den seit 1955 möglichen Reisen ins benachbarte sozialistische und (in geringerem Ausmaß) ins nichtsozialistische Ausland verändert hatten.5

„Club Red“ bringt Forschungen zu Freizeit, Konsum und Tourismuspraktiken mit eigenen, sehr breiten Archivstudien zusammen, die erstmals den Wandel und die Komplexität der organisatorischen Strukturen des Tourismus verdeutlichen; Koenker ergänzt und erweitert damit die Ergebnisse anderer Arbeiten zum Thema, die in den letzten zehn Jahren erschienen sind.6 Gelegentlich droht angesichts der Vielfalt ihrer (im Einzelnen überzeugenden) Fallbeispiele sowie der Anknüpfungen an andere Konsumbereiche die Gefahr, dass die übergreifende Analyse gegenüber der Detailfülle zurücktritt. Der ausführliche Einbezug von visuellen Quellen wirkt allerdings der Dominanz der Anbieterstrukturen entgegen und lässt zahlreiche Aspekte der sowjetischen Reisepraxis hervortreten, die gerade bei konkreten Fallbeispielen wie der Untersuchung von Sotschi als sowjetischem ‚Sehnsuchtsort‘7 (Kapitel fünf) plastisch verdeutlichen, welch vielfältige Wünsche und Motive sich im Reisen bündelten. Mit „Club Red“ liegt eine anschauliche und enorm detailreiche Grundlagenarbeit des Ferienreisens in der Sowjetunion vor, die mit ihrer Quellenfülle und Präzision für weitere Studien zum Tourismus in der Sowjetunion unverzichtbar sein wird, jedoch auch für die transnationale Untersuchung von Tourismus und Moderne viele Anregungen bietet.

Anmerkungen:
1 Erst in jüngerer Zeit wurden auch die Modalitäten, Organisationsformen und Durchführung des ausländischen Reiseverkehrs zum Untersuchungsobjekt; siehe etwa zur Entstehung von Inturist: Matthias Heeke, Reisen zu den Sowjets. Der ausländische Tourismus in Russland 1921–1941; mit einem bio-bibliographischen Anhang zu 96 deutschen Reiseautoren, Münster 2003 sowie V. E. Bagdasarjan, Sovetskoe zazerkal’e. Innostrannyj turizm v SSSR v 1930–1980e gody, Moskva 2007.
2 Für einen Überblick über die Entstehung des Feldes siehe Christian Noack, Tourismus in Russland und der UdSSR als Gegenstand historischer Forschung. Ein Werkstattbericht, in: Archiv für Sozialgeschichte 45 (2005), S.477–498 sowie Diane P. Koenker / Anne Gorsuch (Hrsg.), Turizm. The Russian and East European Tourist under Capitalism and Socialism, Ithaca 2006; zum transnationalen Ansatz u.a. Eric Zuelow, Touring Beyond the Nation. A Transnational Approach to European Tourism, Farnham 2011.
3 Koenker folgt hier dem vielgenutzten Ansatz von Jukka Gronow, Caviar with Champagne. Common Luxury and the Ideals of the Good Life in Stalin’s Russia, Oxford 2003.
4 So wäre es interessant, nach der Permanenz von Ferientraditionen in der eigenen Familie oder im sozialen Umfeld zu fragen, die bei der Mittel- und Oberschicht vor 1917 zurückreichen konnten. Zumindest was die Destinationen, später auch, was die touristischen Sehenswürdigkeiten anging, zeigten sich im sowjetischen Fall starke Kontinuitäten zur vorrevolutionären Zeit.
5 Wo und wie konkret westliche und ostmitteleuropäische Strukturen und Erfahrungen als Modelle dienten, müssten noch zu leistende Einzelfallstudien zeigen.
6 Um nur einige zu nennen: Igor‘ Orlov, Massovyj turizm v stalinskoj povsednevnosti, Moskva 2010; Eva Maurer, Wege zum Pik Stalin. Sowjetische Alpinisten, 1928–1953, Zürich 2010; Anne E. Gorsuch, All This Is Your World. Soviet Tourism at Home and Abroad After Stalin, Oxford 2011 oder Christian Noack, A Mighty Weapon in the Class War. Proletarian Values, Tourism and Mass Mobilisation in Stalin’s Time, in: Journal of Modern European History 10 (2012), S. 231–254.
7 Der Begriff, der auf der Tagung „Eden für jeden? Touristische Sehnsuchtsorte in Mittel- und Osteuropa (vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart)“ in Basel 2012 mit Gewinn als analytischer Zugriff auf Reiseziele und -praktiken in Osteuropa verwendet wurde, ließe sich auch auf Soči gut anwenden. Vgl. <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=20186>, (Stand: 26.1.2014).

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch