A. Bergler: Armenpfleger und Fürsorgeschwester

Cover
Titel
Von Armenpflegern und Fürsorgeschwestern. Kommunale Wohlfahrtspflege und Geschlechterpolitik in Berlin und Charlottenburg 1890 bis 1914


Autor(en)
Bergler, Andrea
Reihe
Beiträge zur Stadtgeschichte und Urbanisierungsforschung 13
Erschienen
Stuttgart 2011: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
392 S.
Preis
€ 70,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Karen Nolte, Institut für Geschichte der Medizin, Julius-Maximilians-Universität Würzburg

Die Frage, wie „Wohlfahrt, Frauenfrage und Geschlechterpolitik“ im ausgehenden 19. Jahrhundert zusammenhingen, hat Iris Schröder eingehend untersucht. Schröder arbeitete heraus, „in welcher Weise Sozialreformerinnen der Frauenbewegung ‚soziale Fragen’ als ‚Frauenfragen’ umformulierten und neukonzipierten“.1 An diese Studie knüpfen die Forschungen des vorliegenden Buches der Berliner Historikerin Andrea Bergler an, indem Sie die von Schröder untersuchten Aspekte konkret in der regionalen Wohlfahrtspolitik und praktischen Armenfürsorge verfolgt. Sie analysiert die Entwicklung der kommunalen Wohlfahrtssysteme um 1900 anhand der benachbarten Großstädte Charlottenburg und Berlin. Geschlechterverhältnisse in der Sozialpolitik interessieren Bergler in zweifacher Hinsicht: Zum einen will sie prüfen, inwieweit es bürgerlichen Frauen gelang, Einfluss und Positionen in der kommunalen Armenfürsorge zu erlangen, zum anderen analysiert sie, in welcher Weise Konzeptionen von Geschlecht theoretisch und praktisch die Armenpolitik prägten. Zugleich will die Autorin die in der Geschichtsschreibung zu Armut und Armenfürsorge erkenntnisleitende These der Sozialdisziplinierung aufgreifen und hinterfragen.

Ein Vergleich zwischen Charlottenburg und Berlin bietet sich insofern an, da beide Städte sich in ihrer Sozialstruktur unterschieden. Charlottenburg war innerhalb weniger Jahre zu einer Großstadt herangewachsen und galt als eine der reichsten Gemeinden Preußens. Vor allem wohlhabende Berliner aus dem Wirtschafts- und Bildungsbürgertum hatten sich in Charlottenburg niedergelassen und sorgten für hohe Steuereinnahmen. Berlin entwickelte sich während der Kaiserzeit zur größten deutschen Industriestadt. Zuwanderer unterschiedlichster geographischer und sozialer Herkunft prägten die Stadt. Die Region Groß-Berlin hat die Autorin nicht nur für ihre Untersuchung gewählt, weil sie „als eines der wichtigsten Gründungszentren der modernen sozialen und gesundheitlichen Fürsorge in Deutschland“ (S. 13) gilt, aber dennoch bislang wenig untersucht worden sei. Zudem seien beide Städte ein bedeutendes Zentrum der Frauenbewegung, und führende Persönlichkeiten der nationalen Frauenbewegung auf lokaler Ebene aktiv gewesen.

Das erste inhaltliche Kapitel befasst sich sehr ausführlich mit der Stadtentwicklung und Kommunalpolitik beider Großstädte in Bezug auf das Fürsorgewesen, was wohl der stadtgeschichtlichen Reihe geschuldet ist, jedoch in seiner Detailliertheit für die Fragestellung der Studie nicht notwendig gewesen wäre. Die Autorin konzentriert sich im Weiteren auf die Fürsorge für Mütter und Kinder einerseits und die Wohnungsfürsorge andererseits.

Insgesamt kommt Bergler zu dem Ergebnis, dass Charlottenburg sich zur Modellstadt sozialer und gesundheitlicher Fürsorge entwickelte, indem eine individualisierte und interventionistische Armenfürsorge eingeführt wurde. In Berlin hingegen lehnten die Verantwortlichen diese modernen Fürsorgeformen ab und betonten stattdessen alten liberalen Prinzipien folgend die Eigenverantwortlichkeit in Krisensituationen. Hier lehnte man daher auch Eingriffe in die Familien weitgehend ab. In der innovationsfreudigen „Modellstadt“ Charlottenburg hielten eugenische Konzepte und bevölkerungspolitische Ziele Einzug in die Armenfürsorge. Akteurinnen der Frauenbewegung und ihre Vereine konnten in der „modernen“ Kommune konzeptionell und personell Einfluss auf die kommunale Armenfürsorge nehmen. In Berlin hingegen wehrte man sich gegen solche Versuche der Frauenbewegung; Fürsorge empfangende Familien waren deshalb zwar weniger sozialer Kontrolle ausgesetzt, erhielten dafür jedoch auch weniger Fürsorgeleistungen.

In dem Bereich der Säuglingsfürsorge arbeitet Bergler die bevölkerungspolitischen Implikationen dieses Fürsorgebereichs heraus, zeigt jedoch auch, wie mittellose Mütter die Fürsorge für ihre neugeborenen Kinder strategisch nutzten, um das Familieneinkommen aufzubessern. So nahmen viele Mütter die „Stillprämie“ in Anspruch, um die Situation der ganzen Familie zu verbessern, während andere Frauen abstillten und erst in die Fürsorgestelle kamen, als ihre Entscheidung nicht mehr rückgängig zu machen war. Sie nutzten dann das Angebot, kostenlos Säuglingsnahrung zu erhalten. In Charlottenburg wurde betont, dass proletarische Frauen nicht in der Lage seien, ihre „Haushaltspflichten“ zu erfüllen. Frauenrechtlerinnen profilierten sich im Bereich der Armenfürsorge, indem sie propagierten, dass arme Frauen in rationeller Haushaltsführung und – im Sinne des bürgerlichen Diskurses der Zeit – in Erziehungsfragen unterwiesen werden müssten. In der Berliner Waisenpflege hingegen war bekannt, dass es Kindern als Haltekinder in proletarischen Haushalten deutlich besser erging als in Waisenheimen, wo Kinder professionell betreut wurden. Indirekt wurde hier also die Leistung proletarischer Frauen in der Versorgung von Kindern anerkannt.

Im Bereich der Wohnungsfürsorge zeigt sich, dass der Einfluss bürgerlicher Frauenrechtlerinnen auf die Entwicklung in der Armenfürsorge bürgerlichen Frauen zwar ein neues Berufsfeld eröffnete, die meist höher qualifizierten Frauen jedoch deutlich schlechter bezahlt wurden als ihre männlichen Kollegen. Ein Effekt des weiblichen Einflusses auf die Armenfürsorge war, dass in Charlottenburg neben Männern, die einem Haushalt vorstanden, erstmals auch alleinstehende Frauen die Möglichkeit hatten, Armenfürsorge zu beantragen. Somit rückte hier die prekäre Situation von Frauen und Kindern in den Fokus der Fürsorge. So sehr Bergler die fortschreitende Partizipation von Frauen an der Entwicklung und Systematisierung der kommunalen Armenfürsorge begrüßt, so wenig unterzieht sie die Konzepte „moderner“ Armenfürsorge, die diese gut ausgebildeten Frauen einbrachten, einer grundlegenden Kritik. Hier fehlt zuweilen in der Darstellung eine deutliche Distanz zu den Interessen und der daraus resultierenden Perspektive der kommunalen Träger: Die Individualisierung der Armenfürsorge wird als innovatives Konzept dargestellt, ohne die verschärfte Überprüfung von Bedürftigkeit, die mit Überwachung und sozialer Kontrolle einherging, in diesem Zusammenhang grundsätzlich zu problematisieren.

Die Autorin widerspricht sogar der These, dass es sich bei der Wohnungspflege in erster Linie um eine bürgerliche Strategie zur Kontrolle der Arbeiterfamilien gehandelt habe. Sie differenziert zwischen Sozialdisziplinierung einerseits und „gesundheitspolitischen Zielen“ andererseits, wobei gesundheitspolitisch motivierte Maßnahmen letztlich mit Wohnungsbesichtigungen und der „Erziehung“ proletarischer Familien zu hygienischem und gesundheitsbewusstem Verhalten klar einen sozialdisziplinierenden Effekt hatten.2 Ute Frevert hatte die fürsorgerischen Maßnahmen, die das gesundheitliche und materielle Wohl der armen Familien zum Ziel hatten, bereits in der 1980er Jahren sehr treffend als „fürsorgliche Belagerung“ bezeichnet.3 Andrea Bergler grenzt sich von dieser Forschungsthese zwar explizit ab, ihre Beschreibungen der armenfürsorgerischen Praxis sind jedoch eher ein Beleg für die Sozialdisziplinierung der Arbeiter und Arbeiterinnen durch die Armenfürsorge. Zwar hatten die Akteure der Armenfürsorge nicht ständig erklärtermaßen das Ziel zu disziplinieren, doch war die Disziplinierung ein Effekt der modernen armenfürsorgerischen Modelle, die auf Individualisierung, aber auch Rationalisierung setzten.

Eine Stärke der Studie liegt in der gründlichen Rekonstruktion der armenfürsorgerischen Praxis, die zwar auf der Überlieferung der kommunalen Verwaltung basiert, jedoch auch die Befürsorgten als Akteure sichtbar werden lässt. Gerade die dargestellte Nutzung der Fürsorgeangebote entgegen der Intention der Anbieter zeigt die Grenzen sozialer Disziplinierung, was jedoch in dem Buch nicht in dieser Weise herausgestellt wird.

In der Schlussbemerkung verweist die Autorin auf Studien über andere Kommunen und skizziert kurz Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu vergleichbaren deutschen und europäischen Großstädten. Sie betont, dass ein Vergleich zwischen den verschiedenen Modellen der Armen- und Wohlfahrtspflege anderer Kommunen lohnend sei, jedoch weiteren Forschungen vorbehalten bliebe. Um jedoch aus dem recht engen regionalen Kontext herauszutreten, wäre eine solche vergleichende Perspektive mit zumindest einer Großstadt im deutschsprachigen Raum, über die bereits Forschungen vorliegen, sinnvoll gewesen.

Anmerkungen:
1 Iris Schröder, Wohlfahrt, Frauenfrage und Geschlechterpolitik. Konzeptionen der Frauenbewegung zur kommunalen Sozialpolitik im Deutschen Kaiserreich 1871–1914, in: Geschichte und Gesellschaft 21 (1995), S. 368–390, hier S. 370f.; vgl. auch Iris Schröder, Arbeiten für eine bessere Welt. Frauenbewegung und Sozialreform 1890–1914, Frankfurt am Main, New York 2001.
2 Zum disziplinierenden Effekt von Konzepten der Hygiene vgl. auch Philipp Sarasin, Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765–1914, Franfurt am Main 2001.
3 Vgl. Ute Frevert, „Fürsorgliche Belagerung.“ Hygienebewegung und Arbeiterfrauen im 19. und 20. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft 11 (1985), S. 420–46.