Cover
Titel
Grenzland Europa. Unterwegs auf einem neuen Kontinent


Autor(en)
Schlögel, Karl
Erschienen
München 2013: Carl Hanser Verlag
Anzahl Seiten
341 S.
Preis
€ 21,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Tillmann Tegeler, Institut für Ost- und Südosteuropaforschung, Regensburg

Dominieren angesichts der neuen Herausforderungen, vor denen die europäischen Staaten stehen („Armutszuwanderung“, Euro-Krise oder gescheitertes Partnerschaftsabkommen der EU mit der Ukraine), und dem hereinbrechenden Europa-Wahlkampf die kritischen und bisweilen grenzwertig populistischen Töne den Europadiskurs, so ist das neueste Buch von Karl Schlögel ein erfrischend positiver Beitrag zur Weiterentwicklung Europas. Dabei handelt es sich bei dem vorliegenden Werk keineswegs um eine Antwort auf Miesmacher des europäischen Gedankens (das würde der Autor wohl auch nicht als seine Aufgabe begreifen), sondern um eine Sammlung von knapp 20 Reden, Wortbeiträgen und Essays aus den letzten 20 Jahren.

Ganz bewusst identifiziert Schlögel 1989 als Bezugspunkt für das Gegenwärtige, statt Erklärungen in den jüngsten Finanz- und Wirtschaftskrisen zu suchen. So liest sich der erste Teil des Buches („Europe now!“) wie eine Geschichte (Ost-)Europas seit der Wende. Doch wird man vergeblich nach Regierungen oder Politikern suchen; bis auf wenige Ausnahmen spielen diese in Schlögels Ausführungen keine Rolle. Dagegen findet man Personen, Organisationen und Infrastrukturen, die in den bisherigen Arbeiten zur jüngsten Vergangenheit kaum beachtet worden sind: die Händler auf den „Polenmärkten“ (bei Schlögel: „Ameisenhändler“), die Billigflieger und weitere Akteure, die nach Schlögels Meinung mehr für das Zusammenwachsen getan haben als die europäischen Institutionen. Diese Ideen hat der Autor in den zurückliegenden Jahren immer kommuniziert, weshalb sie nicht neu sind (schließlich handelt es sich hier um einen Sammelband auch mit älteren Schriften). Dennoch verlieren seine Thesen dadurch nicht an Charme, wenn er beispielsweise einen Karlspreis für Eurolines fordert.

Ist der Blick Schlögels vor allem ins östliche Europa gerichtet, so beschäftigt ihn auch die Geschichte der Beziehungen der Deutschen zu ihren Nachbarn im Osten; letztlich sieht er vor allem Orte, an denen diese Geschichte stattfand. Das gilt im Besonderen für Berlin, das er im zweiten Teil („Stimmübungen in D“) immer wieder abschreitet und wo er Plätze findet, die bereits zu Zeiten des Kalten Krieges von historischer Relevanz waren und an denen vor 1989 Entwicklungen zu beobachten waren, die die Transformation bereits vor der politischen Wende einläuteten. Zugleich verlässt er trotz (oder gerade wegen?) der „ortsgeschichtlichen“ Betrachtung das nationale Narrativ, weil sich die Geschichte dieser Orte nicht national erzählen lasse. Und wieder landet er bei den Metropolen Osteuropas, deren Tempo sich im Beschreibungszeitraum rasant geändert hat. Diesen Wandel begleitet Schlögel als Historiker und zugleich als Zeitgenosse, der den Prozess der Veränderung an den Orten, Gebäuden und Plätzen beobachtet.

Der dritte Abschnitt („Russischer Raum“) ist schließlich dem gewidmet, was Schlögel stets als seinen Forschungsgegenstand begreift; die Untersuchung dieses Raumes hat er auch konzeptionell vorangetrieben. So betrachtet er mit 20 Jahren Abstand die Sowjetunion und erinnert sich mancher Eigentümlichkeit dieses Großreichs. Das entworfene Bild, das aufgrund des eigenen Erlebens durchaus sympathische Züge trägt, will er nicht als Verklärung missverstanden wissen. Doch belegt er anhand der in Deutschland populären Naturreportagen über Russland einerseits und der tagespolitischen Meldungen über Putins Reich andererseits, wie ambivalent das Russlandbild auch in der deutschen Öffentlichkeit bis heute ist. Weiter verwundert es nicht, dass er bei seinem Plädoyer für die Untersuchung des russischen Raumes weniger die Betrachtung eurasischer Geopolitik fordert als vielmehr die Beschäftigung mit dem Raum an sich, worunter Schlögel ebenso Raumbedingungen wie das Klima versteht wie auch den Wohnraum der Menschen. Hier konstatiert er als großes Desiderat eine Geschichte der Kommunalka, der russischen bzw. sowjetischen Gemeinschaftswohnung.1

Am Ende des Buches (Abschnitt „Neue Narrative für Europa“) werden die bis dahin geschilderten Themen noch einmal aufgenommen und variiert: 1989 und die „Asymmetrien der Erinnerung“ danach, Topographien, deutsch-osteuropäische Beziehungen. Dabei scheint immer wieder der positive Grundtenor durch. Diesen wählt Schlögel nicht, um den Nörglern und Schwarzmalern etwas entgegenzuhalten, sondern weil er es geradezu für fahrlässig hielte, den kulturellen Reichtum zu unterschlagen, den Europa zu bieten hat. Darin sieht er Europas große Chance – und diese versteht er nicht primär als ökonomisch. Schließlich wird im letzten Kapitel noch ein weiteres großes Thema des 20. Jahrhunderts verhandelt: die Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg. Wieder verlässt Schlögel das nationale Narrativ, da die Schmerzen und Verluste während und infolge der Bevölkerungsverschiebungen keine deutsche, sondern eine europäische Erfahrung seien. Dabei werde offenbar, dass ein Ort mehrfach bestehe. Beim Abtragen der überlagernden Schichten komme der schon erwähnte kulturelle Reichtum zutage. Diesen zu zeigen sei Aufgabe der Geschichtsschreibung, deren Handwerkszeug die Dechiffrierung kultureller Codes umfasse. Abschließend problematisiert Schlögel anhand seines viel rezipierten Werkes über Moskau im Jahre 19372 seine zuvor formulierten Anforderungen an die Historiografie. Dabei wird deutlich, dass auch erfahrenen Schreibern wie Schlögel das Erzählen nicht leicht von der Hand geht, sondern dass es stets mit Mühen verbunden ist, die die Publikation um Jahre verzögern können.

Die Lektüre des Bandes hinterlässt in mehrfacher Hinsicht einen sehr guten Eindruck, der über die hervorragende Stilistik des Autors hinausgeht. Zum einen handelt es sich um einen optimistischen Beitrag zur Europadebatte, in der die praktischen Erleichterungen und neuen Routinen für die Menschen (beispielsweise innereuropäische Freizügigkeit) mitunter verkannt werden. Dabei wirkt Schlögel, der in allen Beiträgen als Chronist seiner Zeit auftritt, nicht wie ein naiver Romantiker, sondern als brillanter Analyst, der auch methodisch Neues in die Untersuchung des Raumes, hier vor allem Russlands, einzubringen weiß. Zum anderen vermittelt die Sammlung all jenen, die ein ähnlich gelagertes Forschungsinteresse wie der Autor haben, die Genugtuung, ein nicht nur relevantes, sondern überaus interessantes Feld zu beackern. Für Laien eröffnet sich ein neuer Blick in Richtung Osten. Schließlich sind die Beiträge für Schlögel eine Art Selbstvergewisserung, sich in seinem Leben dem richtigen Gegenstand (und Raum) gewidmet zu haben. Vereinzelt scheint auch Demut vor dem Erlebten durch, was den Sammelband nicht zuletzt zu einer persönlichen Chronik macht. Einen Autor wie Karl Schlögel würde man sich auch für die Erkundung des alten und neuen Westeuropas wünschen.

Anmerkungen:
1 Dazu liegen inzwischen einige Forschungen vor; siehe z.B. Sandra Evans, Sowjetisch wohnen. Eine Literatur- und Kulturgeschichte der Kommunalka, Bielefeld 2011, und Paola Messana (Hrsg.), Soviet Communal Living. An Oral History of the Kommunalka, New York 2011.
2 Karl Schlögel, Terror und Traum. Moskau 1937, München 2008 (rezensiert von Felix Schnell, in: H-Soz-u-Kult, 08.10.2009, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2009-4-027> [24.1.2014]).