J. Finger u.a.: Dr. Oetker und der Nationalsozialismus

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Titel
Dr. Oetker und der Nationalsozialismus. Geschichte eines Familienunternehmens 1933–1945


Autor(en)
Finger, Jürgen; Keller, Sven; Wirsching, Andreas
Erschienen
München 2013: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
624 S.
Preis
€ 29,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Tim Schanetzky, Historisches Institut, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Aus der Fülle der Detailstudien über Unternehmen im Dritten Reich, die in den letzten zwanzig Jahren teils als Auftrags- und Kommissionsforschung, teils in unabhängigen Einzelprojekten entstanden, lässt sich heute ein idealtypischer Regelfall unternehmerischen Verhaltens konstruieren. So ist davon auszugehen, dass die in Deutschland tätigen Unternehmen – das schließt die Tochtergesellschaften internationaler Konzerne mit ein – im Laufe des Jahres 1933 zunächst ihre politische Neutralität oder Konformität signalisierten, häufig indem einzelne Führungskräfte in die NSDAP eintraten oder Parteimitglieder gezielt befördert wurden. Mit den jüdischen Führungskräften, Aufsichtsräten und Beschäftigten solidarisierte sich niemand. Ungeachtet persönlicher Zu- oder Abneigungen zur NS-Ideologie galt danach, dass Wachstumschancen vor allem aus der Rüstungskonjunktur folgten, an der auch Unternehmen partizipierten, deren Leitung dem Dritten Reich politisch ablehnend gegenüberstand. Das galt noch weitaus stärker für die Kriegsjahre, in denen die Existenz eines Unternehmens oft nur aufrechterhalten werden konnte, wenn der Zugang zu Rohstoffen und Vorprodukten ebenso gesichert war wie die Versorgung mit Arbeitskräften. Es zählten die Absatzchancen auf einem von staatlicher Nachfrage dominierten Markt. Besonders die Beschäftigung von Zwangsarbeitern war in den Kriegsjahren daher keine Ausnahme, sondern die Regel. Selbstverständlich konnten Unternehmer darüber hinausgehen und die besonderen Bedingungen der „Großraubwirtschaft“ noch weit stärker für sich nutzen – sei es, indem sie sich jüdisches Eigentum aneigneten, sei es, dass sie von der ökonomischen Ausbeutung der besetzten Gebiete zu profitieren versuchten.

Nimmt man dieses Bild vom „ideellen Gesamtkapitalisten“ des Dritten Reichs als Ausgangspunkt, ist die von Jürgen Finger, Sven Keller und Andreas Wirsching vorgelegte Geschichte des Hauses Oetker gleich in dreifacher Hinsicht bemerkenswert. Sie ist erstens schon deshalb zu begrüßen, weil kein weiteres industrielles Großunternehmen betrachtet wird, sondern ein Mittelständler, der in der wenig erforschten Konsumgüterproduktion tätig war. Im stark verzerrten Rüstungsaufschwung geriet dieser Wirtschaftssektor früh ins Hintertreffen, was fraglos einen zusätzlichen Anreiz schuf, sich politischen Einfluss zu sichern. Oetker jedenfalls hielt über die politische Zäsur von 1933 hinweg an seiner Strategie fest, einerseits die marktbeherrschende Stellung bei Nährmitteln wie Back- und Puddingpulver zu verteidigen oder weiter auszubauen, andererseits die dort erwirtschafteten Gewinne anderweitig anzulegen. Neben dem Erwerb und der Finanzierung von Immobilien legte das Unternehmen schon damals den Grundstein für seine spätere Expansion in die Schifffahrts- und Getränkeindustrie. Dass der Betrieb in der Mangel- und Ersatzstoffwirtschaft weiterproduzieren konnte, lag auch an politischer Rückendeckung. Oetker hatte sich systematisch als nationalsozialistischer Musterbetrieb profiliert und die Nähe zu einflussreichen Machthabern gesucht. Bei der Entwicklung von Trocknungsverfahren kooperierte man mit der SS, und den Zugang zu wichtigen Rohstoffkontingenten sicherte man auch durch die Belieferung der Wehrmacht.

Zweitens handelt es sich um ein inhabergeführtes Familienunternehmen, das sich von vielen anderen Industriebetrieben schon darin unterschied, dass vorwiegend Mädchen und ledige junge Frauen in der Produktion arbeiteten. Deshalb war Oetker ab 1939 von den Einziehungen zum Militärdienst nur wenig betroffen und am Stammsitz Bielefeld folglich auch nicht gezwungen, im größeren Stil auf Zwangsarbeiter zurückzugreifen. Die Tochtergesellschaften des Unternehmens, die traditionell eine stärker männlich dominierte Belegschaft hatten, unterschieden sich demgegenüber kaum vom überall üblichen Zwangsarbeitseinsatz. Seit der Gründung – und bis in die Gegenwart – lag bei Oetker die unternehmerische Leitung immer bei einem Mitglied der Eigentümerfamilie. Rudolf Oetker, der Erbe des Firmengründers, starb 1916 im Krieg. Der aus einer Bielefelder Industriellenfamilie stammende Richard Kaselowsky übernahm danach nicht nur die Leitung des Unternehmens, sondern heiratete auch die Witwe seines Freundes. Er verstand sich zeitlebens als Treuhänder, der seinen 1916 geborenen Stiefsohn Rudolf-August Oetker systematisch auf die Nachfolge vorzubereiten und dessen Erbe zu erhalten hatte. Kaselowsky modernisierte das Unternehmen und verhalf ihm zu neuen Absatzmärkten im Ausland. Im eigenen Hause trat der „Fabrikherr“ patriarchalisch auf, wozu neben einem autoritären Führungsstil auch weit überdurchschnittliche Leistungen der betrieblichen Sozialpolitik gehörten. Für Rudolf-August Oetker kam die Nachfolge früher als gedacht, weil Kaselowsky 1944 bei einem Bombenangriff ums Leben kam.

Drittens schließlich ist der Fall Oetker besonders aufschlussreich, weil hier nicht mit unternehmerischem Opportunismus argumentiert werden muss. Vielmehr war Kaselowsky ein ebenso überzeugter Nationalsozialist wie sein Stiefsohn Rudolf-August Oetker, der sich freiwillig zum Dienst in der SS meldete. Finger, Keller und Wirsching arbeiten überzeugend heraus, auf welch fruchtbaren Boden die NS-Ideologie im pietistisch-nationalprotestantischen Bielefelder Patriziat fiel. Insofern passt es ins Bild, dass sich Kaselowsky in der Öffentlichkeit ebenso wie im Privaten als glühender Hitler-Verehrer präsentierte. Wenn es den guten Beziehungen zur Partei diente, war er auch zu wirtschaftlichen Opfern bereit, seien es großzügige Geldspenden, sei es der Verkauf der Westfälischen Neuesten Nachrichten an die Partei. Kaselowskys Mitgliedschaft im „Freundeskreis Reichsführer SS“ war ungewöhnlich für einen Mittelständler, und dahinter stand wohl ebenfalls nicht allein der gezielte Lobbyismus eines marktbeherrschenden Unternehmens, sondern auch das Bedürfnis seines Leiters nach persönlicher Nähe zu den Mächtigen. Oetker setzte bei der Sicherung seiner Marktposition punktuell auch auf die „Arisierung“. Wie selbstverständlich dabei die Adaption an den rassistischen Referenzrahmen war, unterstrich der junge Rudolf-August Oetker, der während seiner Hamburger Ausbildungszeit Wert auf einen großbürgerlichen Wohnsitz legte und im Herbst 1938 die Villa des zur Emigration gezwungenen Reemtsma-Vertrauten Kurt Heldern kaufte. Kurz darauf griff er ein weiteres Mal zu, um das Parkgelände an der Außenalster abzurunden. Zwar zahlte Oetker den damals marktüblichen Preis, aber diesen Markt – zu entsprechend gedrückten Preisen – gab es erst wegen der Vorgehens des NS-Staates gegen die Juden.

Die gut lesbare Studie geht auf einen Auftrag der Familie Oetker zurück, die sich mit ihrer NS-Vergangenheit jahrzehntelang schwer tat. Während man in den ersten Nachkriegsjahren dazu neigte, die besondere Nähe zum NS-Regime ganz auf den Schultern des verstorbenen Kaselowsky abzuladen, tat Rudolf-August Oetker danach alles, um das Ansehen seines Stiefvaters auch in öffentlichen Auseinandersetzungen zu verteidigen. Gerade vor diesem Hintergrund ist nicht nur die Studie an sich zu begrüßen, sondern auch die Öffnung des Archivs. Alle Quellen, die Wirschings Team zugänglich waren, stehen der künftigen Forschung offen. Problematisch ist allenfalls, dass man dem Buch seine Entstehungsgeschichte in formaler Hinsicht anmerkt. Ursprünglich offenbar in Form dreier separater Gutachten von jeweils einem Autor bearbeitet, sorgt schon die Gliederung für einige Zeitsprünge. Auch unterscheiden sich die Kapitel im sprachlichen Duktus, und mitunter kommt es zu kleineren inhaltlichen Redundanzen. Aber das sind Lässlichkeiten, die weit hinter dem Erkenntnisgewinn zurücktreten, die der Fall Oetker bereithält.

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