R. Daskalov u.a. (Hrsg.): Entangled Histories of the Balkans

Cover
Titel
Entangled Histories of the Balkans. Volume One: National Ideologies and Language Policies


Herausgeber
Daskalov, Roumen; Marinov, Tchavdar
Reihe
Balkan Studies Library 9
Erschienen
Anzahl Seiten
552 S.
Preis
€ 149,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sabine Rutar, Institut für Ost- und Südosteuropaforschung (IOS), Regensburg

Der erste Band der auf drei Bände angelegten „Entangled Histories of the Balkans“, herausgegeben von Roumen Daskalov und Tchavdar Marinov, liest sich so, wie man sich alle südosteuropäischen Geschichten wünschte: dekonstruktivistisch, de-essentialisierend, fokussiert auf Prozesse, Verflechtungen, shared history. Die sechs Autoren haben Fallstudien zu zwei Großthemen erstellt: Fünf umfangreiche Kapitel zu „Nations and National Ideologies in the Balkans“ sowie zwei lange und ein kürzeres Kapitel zu „Language and Language Policies in the Balkans“. Historische Überlappungen, Ambiguitäten, Hybriditäten, Fluiditäten, Paradoxien – die Sinnhaftigkeit vieler scheinbar unauflöslicher Konflikte erschließt sich, wenn man die Geschichte des Balkans mittels des hier bemerkenswert kohärent, konsequent und einsichtsreich angewandten methodischen Instrumentariums betrachtet.

Die empirische Arbeit der sechs Autoren ist umfassend, detailreich, ausgewogen. Die Nationalisierungsprozesse im südöstlichen Europa werden als Prozesse kultureller Artikulation, Entflechtung, Markierung und Trennung beschrieben. Im ersten Kapitel („Pre-national Identities in the Balkans“) beschreibt Raymond Detrez die breite Basis vornationaler Identitätsmomente, allen voran die kulturellen Muster der Orthodoxie. Auch Constantin Iordachi („From Imperial Entanglements to National Disentanglement: The ‚Greek Question’ in Moldavia and Wallachia, 1611–1863“), Roumen Daskalov („Bulgarian-Greek Dis/Entanglements“), Alexander Vezenkov („Formulating and Reformulating Ottomanism“) und Tchavdar Marinov („Famous Macedonia, the Land of Alexander: Macedonian Identity at the Crossroads of Greek, Bulgarian and Serbian Nationalism“) verdeutlichen, dass Nationalideologien und -identitäten durch dauernde Interaktion zwischen den um kulturelle Affirmation und territoriale Trennung ringenden Akteuren zweier oder mehrerer der sich herausbildenden Gemeinschaften entstanden. Ronelle Alexander („Language and Identity: The Fate of Serbo-Croatian“), Tchavdar Marinov („In Defense of the Native Tongue: The Standardization of the Macedonian Language and the Bulgarian-Macedonian Linguistic Controversies“) und Alexander Vezenkov („The Albanian Language Question: Contexts and Priorities“) werfen dann im zweiten Teil Schlaglichter auf Sprache(n) als einem zentralen Aspekt nationaler Identitätsbildungsprozesse.

Alle Kapitel gehen empirisch in die Tiefe – eine kluge Idee, diese substantiellen Einzelstudien als gemeinsames Statement in einem Band zu publizieren, anstatt in separaten Monographien. Sie werden damit dem eigenen Anspruch umso gerechter: Die Lektüre hinterlässt in einem Maße den Eindruck eines „großen Ganzen“, wie es nur wenige Mehr-Autoren-Werke zuwege bringen. Dieser Eindruck wiegt umso mehr, als hier vergleichsweise wenige, exemplarische Studien einen Weg einschlagen, dem weitere folgen könnten (sollten!), auch jenseits des Forschungskontextes, in dem sie entstanden ist: das im siebten EU-Rahmenprogramm geförderte European Research Council-Projekt „Balkan Histories: Shared, Connected, Entangled“, das an der New Bulgarian University in Sofia koordiniert wird. Der vor wenigen Tagen erschienene zweite Band der Trilogie (herausgegeben von Roumen Daskalov und Diana Mishkova) stellt Transfers politischer Ideologien und Institutionen in den Mittelpunkt; ein dritter wird sich mit historischem Erbe und historiographischen Konflikten befassen.

Wohlgemerkt: Es geht keineswegs darum, eine Vergangenheit zu harmonisieren, in der Konflikte durchaus an der Tagesordnung waren. Kontakte, Interaktionen, Bewegungen, Austausch und Transfer geschahen meist asymmetrisch und oft gewaltvoll. Trotzdem lässt sich die Geschichte südosteuropäischer Nationsbildungsprozesse besser verstehen, wenn auch Gemeinsamkeiten zu ihrem Recht gelangen. Wie die Autoren in dichten Parallelbeschreibungen eindrucksvoll belegen, erweisen sich bereits die analogen, jeweils rigoros exklusivistisch argumentierenden Interpretationen der nationalen Meisternarrative als eine solche Gemeinsamkeit.

Es erstaunt fast, dass keiner der Autoren gegen die bisherigen, nationalstaatlich organisierten und oft mit primordialistischen Untertönen unterfütterten historiographischen Traditionen in den Ländern des südöstlichen Europas polemisiert. Ganz im Gegenteil nutzen sie deren fundierte empirische Ergebnisse ausgiebig und machen sie dadurch nicht zuletzt einer internationalen Leserschaft zugänglicher. Dadurch aber, dass sie diese Forschungen länderübergreifend verknüpfen, wird umso deutlicher, wie sehr die Balkanländer Parallelgeschichten verhaftet sind. Obwohl – oder oftmals vielleicht gerade weil – der Balkan eine Region der Verflochtenheiten und der Überlappungen par exellence ist, rekurrieren Historiker nach wie vor allzu oft – nicht selten sogar unreflektiert – auf die Vorstellung eines fixen Containers für das jeweils autoritative nationale Meisternarrativ. Führt man diese Narrative in einer komplexen Perspektive zusammen, wird die Geschichte nicht weniger konfliktreich, aber durchaus viel weniger exklusivistisch und weniger essentialistisch.

Auch das politische Projekt der Schaffung bzw. Bewahrung osmanischer Loyalität kennt verschiedene Erklärungsansätze: „Some see Ottomanism as an attempt to meld all subjects of the empire into ‘one single Ottoman nation’, which in most cases is condemned as an assimilationist policy. Some authors opt for labels like ‘political’, ‘civic’ or ‘non-ethnocentric’ nation and this is seen as a well-intended though not necessarily feasable project. Finally, many scholars describe Ottomanism in milder terms, as an attempt to forge a common feeling of belonging to the Ottoman state despite religious and other differences.” (Vezenkov, Formulating and Reformulating Ottomanism, S. 242) Vezenkov verweist zu Recht darauf, dass „surprisingly, all these diverging interpretations can be supported with evidence in nineteenth- and early-twentieth-century texts.” Anhand der Verwobenheit ethnischer und nationaler mit religiösen Zugehörigkeitsmomenten lässt sich gar eine “kopernikanische Revolution” ausmachen: „Replacing the ethnie with the religious community as the focus of historical analysis – that is, perceiving ethnic communities as local varieties within the religious community instead of seeing religion as merely a component of ethnic identity – may appear to be a kind of Copernican revolution, hardly acceptable to conventional understanding.” (Detrez, Pre-National Identities in the Balkans, S. 65)

Die Autoren versäumen es nicht, den eigenen Standpunkt zu verdeutlichen. Dazu gehört auch das Eingeständnis der manchmal vergeblichen Mühe, historische Komplexitäten umfassend zu bändigen: „There is a clear asymmetry between my use of various Bulgarian sources and works and reliance on the mostly secondary Greek works in Western languages accessible to me. Rather than trying to justify this with some ‘scholarly’ reason (such as the initially stronger Greek impact), I would prefer to admit my language limitations […].” (Daskalov, Bulgarian-Greek Dis/Entanglements, S. 150) Die sprachliche Vielfalt des Balkans bleibt eine Herausforderung, nicht nur in Bezug auf die – oft beeindruckenden – Sprachkompetenzen der Historiker, sondern auch im Anspruch der Etablierung einer histoire croisée. Nur folgerichtig konzentrieren sich die drei Beiträge des zweiten Teils auf Sprachen und Sprachpolitik als einem zentralen Moment nationaler Ideologien. Ronelle Alexander beschreibt im Detail die politisch-symbolischen Paradoxien der Sprache(n) der jugoslawischen Völker. Tchavdar Marinov zeigt die synchronen und diachronen Schnittmengen zwischen Varianten des Bulgarischen, Serbischen und Mazedonischen auf. Er bleibt seinem im ersten Teil verfolgten Ansatz treu, die Zeit seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs als die wirklich konstitutive für die makedonische Nationswerdung anzusehen und alle früheren Bestrebungen in Kontexten von Ideologie und Identität zu interpretieren. Nicht zuletzt erlaubt ihm das eine Argumentationsführung mit offenem Ende: „The main premise of the chapter is that the national ideologies involved in the ‘Macedonian question’ should be studied not merely as conflicting claims but as intertwined narratives, myths, symbolic forms – and also social actors and institutional continuities – that, since the nineteenth century, have evolved together and thanks to each other. This is certainly an aspect that the different nationalisms, with their exclusivist pretensions, fail to take into account.” (Marinov, Macedonian Identity at the Crossroads of Greek, Bulgarian and Serbian Nationalism, S. 277) Tatsächlich sei eine Identität, die heute (quasi) verschwunden ist, essentiell für das Verständnis des makedonischen Nationalismus: die jugoslawische (oder südslawische) – ihre Anfänge in der Frühen Neuzeit und ihr Ende mit dem Zerfall Tito-Jugoslawiens bilden den chronologischen Rahmen für den makedonischen Nationalisierungsprozess.

Im dritten Kapitel des zweiten Teils reflektiert der bulgarische Historiker Alexander Vezenkov über die albanische Sprache. Letztere ist im methodischen Kontext des Bandes gerade deshalb interessant, weil sie keine indoeuropäischen Sprachverwandten besitzt und als Standardsprache hauptsächlich im Zuge der kommunistischen Selbstisolation des Landes kodifiziert wurde. Umso schärfer lassen sich die trotzdem vorhandenen Verflechtungen und Interaktionen konturieren, und umso deutlicher wird, wie berechtigt das Grundanliegen der Autoren ist. Nicht zuletzt enthält der zweite Teil einige Landkarten, die die Inkongruenzen zwischen Sprachvarianten und politischen Grenzen veranschaulichen – ein zentrales Moment für die im Buch aufgezeigten Spannungsfelder, für Paradoxien und Analogien, für Exklusivismen und eine gemeinsame soziokulturelle Matrix.

Der Band zeigt, wie gangbar der Weg eines Mehrautorenwerks ist, das Einzelforschungen enthält, die auf der methodischen Ebene miteinander „sprechen“: Die empirisch dichten Forschungen der sechs Autoren verflechten sich in der Lektüre in eindrücklicher Weise – die Einzelteile sind konturiert, das Gesamtbild wird gut sichtbar, wie in einem Mosaik. Sie verdeutlichen in exzellenter Weise, wie gut sich die Geschichte der Nationalisierungsprozesse des südöstlichen Europas analog zu jenen in anderen Teilen der Welt erzählen lassen. Mehr noch, die Vielschichtigkeiten konkurrierender Deutungsmodelle, aber auch politischer Anwendungsbeispiele (ob dauerhafterer oder flüchtiger Art) auf lokaler, regionaler, staatlicher und internationaler Ebene eignen sich sogar besonders gut für eine dekonstruktivistische, verflochtene und überlappende, für eine ambivalente, hybride, fluide und dichte Beschreibung.

Der Begriff Standardwerk ist ein vielstrapaziertes Label, das hier vielleicht sogar semantisch konträr geht, da die Autoren Komplexität und Dialogizität herstellen und gerade den „Standard“ in Bewegung bringen möchten. Gerade deshalb aber gebührte diesem Band, für die künftige historische Forschung zum südöstlichen Europa methodisch richtungsweisend zu wirken. Dies bedeutete nichts weniger als die Überwindung einer Geschichtsschreibung, die einerseits in alten Mustern verhaftet geblieben ist, andererseits die kommunistischen Amnesien durch neue (ethnonationalistische) ersetzt und nur partiell die Bereitschaft entwickelt hat, die (oft gewaltvollen) Auswirkungen der soziopolitischen Transition der letzten zwanzig Jahre im Sinne einer Forschung anzugehen, welche sich demokratischen und pluralistischen Ansätzen verpflichtet sieht. Kurz gesagt: Die sechs Autoren haben einen wichtigen Baustein für eine Forschungsagenda vorgelegt, die dem südöstlichen Europa historiographisch endlich die Position verschaffen könnte, die ihm gebührte: ein spannender Ort der Weltgeschichte zu sein.

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