B. Gotto u.a. (Hrsg.): Krisen und Krisenbewusstsein

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Titel
Krisen und Krisenbewusstsein in Deutschland und Frankreich in den 1960er Jahren.


Herausgeber
Gotto, Bernhard; Möller, Horst; Mondot, Jean; Pelletier, Nicole
Reihe
Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte – Sondernummern
Erschienen
München 2012: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
X, 319 S.
Preis
€ 49,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christiane Mende / Jens Beckmann, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF)

„1960er-Jahre“ und „Krise“ – dies sind zwei Forschungsfelder, die in den letzten Jahren einige Aufmerksamkeit erfahren haben. Daher überrascht der im Klappentext formulierte Anspruch des im Dezember 2012 erschienenen Sammelbandes „Krisen und Krisenbewusstsein in Deutschland und Frankreich in den 1960er Jahren“, mit einem interdisziplinären und transnationalen Zugang die „Ausgangsbedingungen, Konfliktlagen und Ausprägungen von Protest und Reformen […] erstmals in einem deutsch-französischen Vergleich“ zu untersuchen.1 Der Band geht zurück auf Diskussionen einer Arbeitsgruppe, die sich im Jahr 2008 aus der Universität Michel de Montaigne Bordeaux III und dem Institut für Zeitgeschichte (IfZ) München-Berlin unter Leitung von Horst Möller, Jean Mondot und Nicole Pelletier konstituierte.2 In insgesamt 25 Aufsätzen in beiden Sprachen diskutieren französische und deutsche HistorikerInnen und GermanistInnen politische Veränderungen, ökonomische und kulturelle Krisentendenzen sowie deren zeitgenössische Deutungen. Die Ereignisse des Jahres 1968 bilden dabei den Ausgangspunkt, um über die längerfristigen Veränderungen der 1960er-Jahre zu reflektieren.

Die geweckten Erwartungen erfahren jedoch bereits durch das Vorwort der HerausgeberInnen einen ersten Dämpfer. Denn der Aufbau des Sammelbandes folgt weniger einem interdisziplinären, sondern vielmehr einem additiven, multidisziplinären Ansatz: Auf den ersten Teil zu „Politik“ folgen „Wirtschaft und Gesellschaft“, „Kultur“ sowie „International“, wobei letzteres wiederum Politik bedeutet. Auf eine Klärung von Begrifflichkeiten, eine theoretische Rahmung und einen Problemaufriss wird weitgehend verzichtet. Die Bestimmung von „Krisen“ als gesellschaftliche Tatsachen mit sich ändernden „Kontexte[n], Ursachen und Inhalte[n]“ und als generelles „Charakteristikum der Moderne“ (S. IX) ist mehr als vage. Wichtig ist den HerausgeberInnen die „Frage, ob in spezifischen Situationen das Krisenbewusstsein der Intellektuellen gesellschaftlichen und politischen Krisen vorausgeht und sie nicht erst reflektiert“ (S. IX). So erhoffen sie sich „Beiträge zur historischen Demokratieforschung“. Obwohl dies nicht explizit gesagt wird, steht dahinter offenbar ein wissenschaftliches und politisches Interesse an gesellschaftlicher Stabilität und präventiven bzw. reaktiven Strategien in „Krisensituationen“.

Das breite Spektrum dessen, was als „Krise“ ausgemacht wird, spiegelt sich unausgesprochen in den verschiedenen Beiträgen wieder, wobei die ersten beiden bereits zwei Pole dieses Interpretationsspektrums bilden. Horst Möller, der von 1992 bis 2011 das IfZ geleitet hat, nimmt in seinem Beitrag „die Rolle der Parteien beim Krisenmanagement in Deutschland oder aber der Krisenverschärfung in Frankreich“ (S. 18) im Jahr 1968 vergleichend in den Blick. In seiner Lesart erscheinen die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen des Jahres 1968 in beiden Ländern als „aufgeregt“, „hysterisch“, primär auf ein „studentisches Unruhepotential“ zurückzuführen und demokratiegefährdend (S. 19). In der Pariser „Nacht der Barrikaden“ vom 10. zum 11. Mai 1968 erkennt er „bürgerkriegsähnliche Zustände“ (S. 21). Die historische Situation sei von den französischen Gewerkschaften und der Kommunistischen Partei Frankreichs (PCF) für ihre jeweiligen politischen Ziele instrumentalisiert worden, die somit „entscheidend dazu beigetragen [hätten], die studentische Protestbewegung zu einer breiten gesellschaftlichen Bewegung [in Frankreich] zu machen“ (S. 22). Differenzierter analysiert Ingrid Gilcher-Holtey die Inhalte und Anliegen der über das studentische Milieu hinaus beteiligten Akteure in diesen sozialen Konflikten. In ihrem Beitrag behandelt sie die Effekte der 1968er-Bewegungen in Deutschland und Frankreich im Kulturbetrieb anhand der Berliner Schaubühne, des Pariser Théatre du Soleil und der atonalen Musik von Hans Werner Henze. Anknüpfend an ihre bisherigen Veröffentlichungen unter anderem zum politischen Theater3, skizziert sie die Vielfältigkeit der 1968er-Proteste hinsichtlich ihrer Akteure, Zielsetzungen und Aktionsformen. Sie begreift diese als soziale Bewegung, die ihre Grundlage in der Kritik an autoritären Strukturen „in den Betrieben und Büros, Schulen und Hochschulen, Theatern und Verlagen, in den Familien und den Geschlechterbeziehungen“ hatte, und Veränderungen einforderte, um die Demokratie zu bewahren (S. 5).

Im Anschluss beschäftigen sich gleich vier französischsprachige Artikel mit der Entwicklung der Parteien bzw. des Parlamentarismus in Frankreich. Für den bundesdeutschen Kontext ist im ersten Teil, „Politik“, der Aufsatz von Manfred Kittel besonders hervorzuheben, in dem er quellenfundiert die Auswirkungen der 1968er-Protestbewegung nicht nur auf die SPD, sondern auch auf die CDU thematisiert. Hélène Miard-Delacroix argumentiert in ihrem Artikel plausibel und wenig überraschend, dass die Bewegung gegen die Notstandsgesetze eine unerwartete Integrationswirkung entfaltet habe, sowohl durch die Eröffnung eines gemeinsamen Feldes der politischen Linken als auch durch die Öffnung der Zivilgesellschaft für politische Auseinandersetzungen.

Im zweiten Teil, „Wirtschaft und Gesellschaft“, vergleicht Bernard Poloni die Krisendeutungen in Frankreich und der Bundesrepublik, die sich trotz einer relativen ökonomischen Stabilität in den Grenelle-Verhandlungen bzw. im Stabilitäts- und Wachstumsgesetz niederschlugen. Thomas Raithel analysiert die Planungsgedanken, die der Entwicklung einer aktiven Arbeitsmarktpolitik in beiden Staaten zugrunde lagen. Der Artikel von Christophe Bouneau zur Krise des französischen „Patronat“ verdeutlicht, wie lange das Modell des französischen Unternehmers als „patron monarque absolu légitimé par la manne du paternalisme“ (S. 129) bereits vor 1968 innerhalb der Unternehmerschaft umstritten war und mit Bezug auf Managementeinflüsse aus den USA sowie auf die integrative Wirkung der westdeutschen Mitbestimmung kritisiert wurde. Erst nach 1968 und mit einer deutlich verjüngten Führung des Unternehmerverbandes CNPF (Conseil national du patronat français) habe sich dieser jedoch einer modernen Öffentlichkeitsarbeit, der Stärkung seiner Rolle in Kollektivverhandlungen und der Verbreitung von Managementwissen zuwenden können.

Von den sieben, vorrangig französischsprachigen Artikeln im dritten Teil, „Kultur“, ist vor allem Elizabeth Guilhamons Beitrag zu den Filmen „Das Kaninchen bin ich“ und „Die Spur der Steine“ hervorzuheben. Beide Filme, die 1965 in der DDR verboten wurden und deshalb bislang vor allem im Hinblick auf den politischen Kontext untersucht worden sind, nimmt sie aus der Perspektive der Repräsentation von Körpern und Körperlichkeit in den Blick. Erich Honeckers Worte dienen ihr hierfür als Anregung: „Unsere DDR ist ein sauberer Staat. In ihr gibt es unverrückbare Maßstäbe für Ethik und Moral, für Anstand und gute Sitte.“ (S. 231) Die Darstellungen der Hauptfiguren in beiden Filmen führen sie zu der These, dass auch und vor allem die Ästhetik der Filme, die Darstellung der „corps rebelles à l’enrégimentement par le parti“ (S. 235), zu deren Verbot beigetragen hätten.

Der vierte und letzte Teil, „International“, beschließt mit drei in weiten Teilen diplomatiegeschichtlichen Artikeln den Sammelband. Jean-Paul Cahn fasst hier seine Forschungen zur Verhandlung des Algerienkriegs aus der Perspektive der bundesdeutschen Politik zusammen; Georges-Henri Soutou beschreibt in einem ersten überblickshaften Artikel die Gaullistische Außenpolitik und vertieft anschließend seinen Gegenstand im Hinblick auf den Prager Frühling.

Somit ist der Bogen zum politikgeschichtlichen Ausgangspunkt des Sammelbandes geschlagen. Die Aneinanderreihung verschiedener disziplinärer Perspektiven anstelle ihrer fruchtbaren Gegenüberstellung oder Integration bleibt das größte Manko des Sammelbandes. Schade ist auch, dass zwar in fünf Beiträgen französische AutorInnen über Deutschland schreiben, es aber neben den vergleichenden Artikeln keine deutschsprachigen Beiträge über Frankreich gibt. Den Möglichkeiten der binationalen Perspektive wird der Band so kaum gerecht. Am Ende bleibt für die Leserinnen und Leser weitgehend offen, was die Arbeitsgruppe in München und Bordeaux über die (immerhin diversen und ertragreichen) Arbeitsergebnisse der einzelnen Beteiligten hinaus an Gemeinsamem produziert. Vielleicht entspricht das dem im Vorwort etwas mühsam formulierten Eindruck der HerausgeberInnen, dass die Arbeitsergebnisse „ein weiteres sehr erfreuliches Zeichen deutsch-französischer Freundschaft [seien], die sich nicht auf die politische Ebene beschränkt, sondern immer wieder durch neue Aktivitäten in unterschiedlichen Sektoren weitergeführt werden muss“ (S. X). Vom Genuss der Begegnung, der Explosion gemeinsamen Erkennens, sprechen diese Worte nicht. Deutsch-französische Freundschaft als Pflichtaufgabe?

Anmerkungen:
1 Auf nur einen der bereits erschienenen Vergleiche sei hingewiesen: Damir Skenderovic / Christina Späti (Hrsg.), 1968 – Revolution und Gegenrevolution. Neue Linke und neue Rechte in Frankreich, der BRD und der Schweiz, Basel 2008. Mit Fokus auf das Wechselverhältnis von Arbeiter- und Studentenbewegung der Jahre um 1968 ist ebenfalls vergleichend angelehnt folgender Sammelband: Bernd Gehrke / Gerd-Rainer Horn (Hrsg.), 1968 und die Arbeiter. Studien zum „proletarischen Mai“ in Europa, Hamburg 2007.
2 Im Rahmen dieser Arbeitsgruppe wurden mittlerweile insgesamt drei Sammelbände herausgeben: Nicole Pelletier (Hrsg.): Crises et conscience de crise dans les pays de langue allemande (années vingt et trente), Pessac 2008; Bernhard Gotto u.a. (Hrsg.), Nach „Achtundsechzig“. Krisen und Krisenbewusstsein in Deutschland und Frankreich in den 1970er Jahren, München 2013.
3 Ingrid Gilcher-Holtey / Dorothea Kraus / Franziska Schößler (Hrsg.), Politisches Theater nach 1968. Regie, Dramatik und Organisation, Frankfurt am Main 2006.

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