: Medizin in der NS-Diktatur. Ideologie, Praxis, Folgen. Köln 2012 : Böhlau Verlag, ISBN 978-3-412-20847-9 567 S. € 39,90

: The State of Health. Illness in Nazi Germany. Oxford 2012 : Oxford University Press, ISBN 978-0-19-969567-6 XII, 291 S. € 75,83

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Annemone Christians, Institut für Zeitgeschichte München - Berlin

Die deutsche und internationale NS-Forschung beschäftigt sich seit den 1980er-Jahren intensiv mit dem Themenkomplex „Medizin und Gesundheit im Nationalsozialismus“. Sowohl zu den nationalsozialistischen Medizinverbrechen als auch zu ideologischen Grundlagen der NS-Gesundheitspolitik sowie zur – regionalen – Umsetzung der „Erb- und Rassenpflege“ sind zahlreiche Studien veröffentlich worden. Als Zwischenbilanz und Überblickswerk ist deshalb 2011 auch die analytische Bibliographie „Medizin und Nationalsozialismus“ erschienen, erarbeitet von den einschlägigen deutschen Experten Robert Jütte, Hans-Walter Schmuhl, Winfried Süß und Wolfgang Uwe Eckart.1 Von letzterem liegt nun mit „Medizin in der NS-Diktatur“ ein neuer Band hierzu vor. Einleitend legt Eckart dar, dass Umfang und Komplexität des Themas mittlerweile durchaus ein Handbuch zur Geschichte der Medizin im Nationalsozialismus rechtfertigen, wenn nicht nötig machen würden. Sein vorliegendes Buch soll zumindest eine aktuelle Gesamtdarstellung bieten und „Anregung für zukünftige Präsentationen des Gegenstandes“ (S. 12) sein.

Geoffrey Campbell Cocks verfolgt mit seiner 2012 veröffentlichten Studie „The State of Health“ hingegen dezidiert eine Forschungsperspektive. Als Desiderat innerhalb dieser breit und tief untersuchten Materie macht Cocks die Frage nach dem Verhältnis vom kranken oder gesunden Einzelnen („Modern Self“) zur NS-„Volksgemeinschaft“ beziehungsweise zum „Dritten Reich“ aus. Der Blick auf die individuelle Erfahrung von Krankheit oder Gesundheit trage nicht nur zur Erweiterung der Gesellschaftsgeschichte des Nationalsozialismus bei, sondern stelle auch „a dual, dark link between the well and ill modern self and the genocidal core of Nazism“ (S. 3) her. Zu Cocks’ zentralen Quellen gehören die jährlichen Berichte kommunaler und staatlicher Gesundheitsbehörden sowie die „Meldungen aus dem Reich“ des Sicherheitsdienstes des Reichsführers-SS aus verschiedenen Regionen. Eingehend hat er sich zudem mit schriftlichen Zeugnissen exponierter Intellektueller oder Aristokraten – von Heinrich Böll bis Marie Wassiltschikow – beschäftigt und auch einzelne Ego-Dokumente (vor allem Briefe) deutscher Soldaten ausgewertet.

So unterschiedlich die Zielsetzungen von Eckart und Cocks sein mögen, beide strukturieren ihre Darstellungen grundsätzlich chronologisch. Insbesondere Wolfgang Eckart geht jedoch – ganz im Sinne einer Gesamtdarstellung – immer dort thematisch vor, wo es das Spezialthema verlangt. Er gliedert seinen Überblick in sechs inhaltliche Kapitel und beginnt mit einer Einführung in „Ideen, Ideologien und politische Orientierungen bis 1933“. Darin entwickelt er ein Radikalisierungs-Narrativ, das von den biopolitischen Ansätzen des Malthusianismus und Sozialdarwinismus im 19. Jahrhundert bis hin zu deren drastischer Umsetzung durch die Nationalsozialisten führt. Als einen wichtigen Zwischenschritt benennt Eckart die Krisenerfahrung des Ersten Weltkriegs und macht für deren dramatisches Ausmaß einen Grund aus: staatliches Missmanagement bei der zentralen Steuerung der Nahrungsmittelverteilung. Zum Abschluss seines Einführungskapitels stellt er die gesundheits- und bevölkerungspolitischen Kern-Institutionen der NSDAP vor – den Nationalsozialistischen Deutschen Ärztebund, das Hauptamt für Volksgesundheit und das Rassenpolitische Amt der NSDAP – und streift kurz deren Kompetenzen innerhalb des NS-Herrschaftsgefüges nach 1933. So stieß insbesondere das Hauptamt für Volksgesundheit mit der nationalsozialistischen Etablierung eines staatlichen Gesundheitswesens schnell an die Grenzen der Handlungsfähigkeit.

Das folgende Kapitel widmet Eckart der „Biodiktatorischen Praxis nach 1933“ und geht zunächst – am Beispiel Heidelbergs – auf die Ausgrenzung und Verfolgung jüdischer Ärzte ein. Er vollzieht die „Eskalationsstufen“ (S. 133) der biologischen NS-Machtübernahme nach und gibt der Erbgesundheitsgesetzgebung sowie den verschiedenen Programmen zur Ermordung „kranker“ und „unerwünschter“ Patienten angemessenen Raum. Eckart kann schließlich auch Zusammenhänge zwischen den NS-„Euthanasie“-Aktionen und der „Aktion Reinhardt“ zeigen, die 1942/1943 die systematische Ermordung der Juden und Roma des Generalgouvernements Polen bedeutete. In den weiteren Abschnitten vervollständigt Eckart das nationalsozialistische Panorama von Körperkult, kollektiver Gesundheitspflicht, ideologisierter Gesundheitsfürsorge und ärztlichem Sendungsbewusstsein. Dabei versteht er es, sowohl eine frauengeschichtliche Perspektive herauszuarbeiten als auch Fragen nach der Bindungs- und Einbindungskraft der „erbgesunden Volksgemeinschaft“ zu behandeln. Aufschlussreich ist der abschließende Blick auf die Rolle der NS-Medizin im Film. Eckart legt frei, dass zeitgenössische Spielfilme mit dem Thema eher subtil umgingen und bio-ideologische Komponenten häufig nur im „Beigepäck“ (S. 217) mitführten. Dagegen hob die Vielzahl von „rassenhygienischen“ Propagandafilmen ganz drastisch auf Abschreckung und „Aufklärung“ ab.

In einem eigenen Kapitel befasst sich Eckart mit der medizinischen Forschung im NS-Regime und stellt exemplarisch die Entwicklung der medizinischen Fakultät in Heidelberg dar. Er stellt fest, dass bedeutende medizinische Institute ideologisierte Forschung aktiv vorantrieben und damit wichtige Zuarbeit für die nationalsozialistischen Medizinverbrechen leisteten. Eckart verdeutlicht in diesem Zusammenhang die Entgrenzung ärztlicher Entscheidungs- und Handlungsmacht, die sich am drastischsten in den tödlichen Humanexperimenten in Konzentrations- und Kriegsgefangenenlagern niederschlug.

Den „verbrecherische[n] Utilitarismus“ (S. 313) der NS-Menschenversuche führt Eckart im vierten inhaltlichen Kapitel zu „Medizin und Krieg“ weiter aus. Er schildert die organisierte und rücksichtslose Ausrichtung aller körperlichen und geistigen Fähigkeiten deutscher Soldaten auf die Wehrhaftigkeit. An mehreren Beispielen hochrangiger Vertreter der Sanitätsführung – unter anderen des Leiters des Sanitätswesens der SS Ernst Robert Grawitz – zeigt Eckart Motivationen und Handlungsräume wichtiger Akteure der menschenverachtenden Sanitätspolitik. Gleichzeitig geht er auf die Auswirkungen von militärischem Leistungsdrill und Fronttraumata auf die Soldaten ein und wirft Schlaglichter auf die Themen „Devianzproblematik“ (S. 323), Drogenkonsum und psychiatrische Therapieversuche.

In zwei kurzen Kapiteln befasst sich der Gesamtüberblick mit der Zeit nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes – mit Versorgungskrise und Seuchengefahren des direkten Nachkriegs, mit den Nachwirkungen der biologistisch-rassistisch motivierten Verfolgungen und Verstümmelungen sowie mit dem juristischen Umgang damit. Es wird ein Spannungsverhältnis deutlich: Auf der einen Seite steht die relativ frühe rechtliche Ahndung von NS-Medizinverbrechen durch die Besatzungsmächte und später die junge Bundesrepublik in den großen Medizin-Prozessen der späten 1940er-Jahre. Auf der anderen Seite fochten viele Betroffene (vor allem die Opfer der Zwangssterilisation) einen langen, andauernden Kampf um Anerkennung und Entschädigung, in dem sie gegen zählebige Krankheits-Stigmata im gesellschaftlichen und politischen Konsens ankämpfen mussten. Eckart weist darauf hin, dass er im Rahmen der vorliegenden Arbeit gerade beim juristischen Umgang mit der NS-Medizin nur Schneisen schlagen und auf die vorhandene Spezialliteratur verweisen kann. Der Überblick ist hier – wie auch im gesamten Band – aber nie verkürzend, sondern stets konzise.

Eckart schöpft tief aus seiner einschlägigen Forschungserfahrung und verdichtet den makroperspektivischen Zugang mit vielen regional- und lokalgeschichtlichen Ergebnissen zu einem fundierten Ganzen. Zusammen mit dem hilfreichen Sach- und Personenregister fügt sich „Medizin in der NS-Diktatur“ zu einem hilfreichen Arbeitsmittel. Es bleibt höchstens zu fragen, warum sich Wolfgang Eckart nicht gleich an ein (von ihm selbst als überfällig eingeschätztes) Handbuch gewagt hat – dessen Lektüre wäre sicher ebenso lohnend.

Geoffrey Cocks konzentriert sich in seiner Arbeit „The State of Health“ auf die Frage nach der Bedeutung von Krankheit innerhalb der nationalsozialistischen Gesundheitsdiktatur. Dabei versteht er Krankheit als einen ultimativen Rückzugsort der „Volksgenossen“. Im Krankenstand habe sich der Einzelne dem kollektiven Druck der NS-„Volksgemeinschaft“ zumindest zeitweilig entziehen können – und wollen.

Im einleitenden Kapitel wirft Cocks spannende, große Fragen auf: nach der Konstruktion eines „German Self“ (S. 11), nach einer spezifischen deutschen Körperwahrnehmung und schließlich nach dem Krankheits-Gesundheits-Diskurs unter den Bedingungen der NS-Herrschaft sowie seiner Bedeutung für dessen Modernität. Diesen Fragen nähert er sich zunächst über eine kurze Darlegung der deutschen Medikalisierungsgeschichte seit dem 17./18. Jahrhundert. Große zeitliche Schritte führen Cocks dann aber bald zur Ausnahmeerfahrung des Ersten Weltkriegs. Der Krieg habe zu einer Neuordnung des Verhältnisses von individueller Körperlichkeit und Staat geführt. Zum einen bildete sich bei der Vielzahl von Kriegsopfern, Invaliden und Hinterbliebenen ein Anspruch heraus, vom Staat kompensierende Gesundheitsdienstleistungen und Entschädigung zu erhalten. Zum anderen sei eine zunehmende Entfremdung zwischen verwundeten, dauerhaft hilfsbedürftigen Veteranen und den von Kriegsfolgen Verschonten und Unversehrten entstanden. Diese Kluft aufzuheben, habe zu den Versprechungen der NS-Volksgemeinschaft gehört.

Geoffrey Cocks vollzieht im Weiteren die biologistische Ausrichtung des nationalsozialistischen Parteiprogramms nach. Er weist auf die ubiquitäre Verwendung medikalisierender, biologischer Begrifflichkeiten in zentralen ideologischen Schriften hin und stellt fest, dass das „Dritte Reich“ sein Ziel einer Gesundheitsdiktatur dennoch nie erreicht habe. „In fact, the Third Reich was to be a living space of almost boundless contestation over illness.“ (S. 49)

Gezielt betrachtet Cocks den nationalsozialistischen Pronatalismus, also die Förderung als „wertvoll“ erachteter Mütter und Kinder. Ebenso widmet er sich dem Aufschwung der Arbeitsmedizin als wirtschaftspolitischer Maßnahme. Nach einem Streifzug über den Einsatz von aufputschenden Pharmazeutika wie Perivitin bei Arbeitern und Soldaten blickt Cocks auf den Zweiten Weltkrieg als entfesselte Todes- und Krankheitsmaschine: „The second German war of the new century extended in Nazi hands both modern generation of and modern organization around death, injury, and illness.“ (S. 172)

Geoffrey Cocks Darstellung stützt sich immer wieder auf Zitate aus Tagebüchern und Biographien von Schriftsteller/innen und Künstlern. Gleichermaßen zieht er die bereits genannten Berichte verschiedener regionaler Gesundheitsbehörden heran. Bestände aus über zwanzig deutschen Regionalarchiven hat Cocks für seine Analyse eingesehen, dazu Funde aus Archiven in Großbritannien, den USA und Israel. Die erstmalige Auswertung der jährlichen Gesundheitsberichte deutscher Behörden und offizieller Berichterstatter gehört zu den hervorstechenden Vorzügen von Cocks Arbeit. Eine Erweiterung um eine größere und damit repräsentativere Anzahl an Ego-Dokumente aus dem „Parterre“ der deutschen Bevölkerung im NS-Regime (von Arbeitern, Angestellten, Soldaten) wäre für den erfahrungsgeschichtlichen Ansatz der Studie lohnend gewesen. Die Frage nach der Wahrnehmung von Krankheit – zumal wie anfänglich aufgeworfen als ultimativem Rückzugsort aus der Umklammerung der „Volksgemeinschaft“– hätte somit unter Umständen vielschichtiger beantwortet werden können.

Trotz dieses kleinen Makels bietet Cocks eine anregende, gut lesbare Studie, die sich nicht scheut, die Gesundheitsdiktatur des „Dritten Reichs“ einer eigenen Bewertung zu unterziehen: „In this respect, Nazism again reveals itself as an act of massive cultural cowardice – of panic – a fear of life as well as death.“ (S. 239)

Anmerkungen:
1 Robert Jütte u.a., Medizin und Nationalsozialismus. Bilanz und Perspektiven der Forschung, Göttingen 2011.

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