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Titel
Krankheit: Krieg. Psychiatrische Deutungen des Ersten Weltkrieges


Autor(en)
Hermes, Maria
Reihe
Zeit der Weltkriege 2
Erschienen
Anzahl Seiten
531 S.
Preis
€ 39,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Birgit Schwelling, Käte Hamburger Kolleg / Centre for Global Cooperation Research, Universität Duisburg-Essen

Im Jahr 2014 wird sich der Ausbruch des Ersten Weltkriegs zum hundertsten Mal jähren und bereits jetzt zeichnet sich ab, dass die kommenden Jahre eine kaum zu überblickende Fülle an thematisch einschlägigen Gedenkveranstaltungen, Ausstellungen, Veröffentlichungen und anderen Vergegenwärtigungen der „Urkatastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts“ mit sich bringen werden. An mancher Stelle wurde damit bereits jetzt schon begonnen1, möglicherweise auch vor dem Hintergrund der Annahme, mit einem früheren Start die Aufmerksamkeit potenzieller Besucher und Rezipienten einfacher gewinnen zu können als dies in den kommenden Jahren möglich sein wird. Von daher ist man geneigt, auch jede thematisch einschlägige Veröffentlichung in diesen Kontext des gerade beginnenden Erinnerungsreigens einzuordnen. Bei der hier zu besprechenden Monografie „Krankheit: Krieg. Psychiatrische Deutungen des Ersten Weltkrieges“ scheint diese zeitliche Nähe jedoch dem Zufall geschuldet zu sein – jedenfalls platziert die Verfasserin Maria Hermes die aus ihrer Dissertation an der Universität Bremen hervorgegangene Studie nicht in diesem Kontext.

Thema der Studie sind Deutungen des Ersten Weltkrieges durch Psychiater, denen Maria Hermes anhand von Krankenakten, das heißt von Dokumentationen ärztlicher Untersuchungsergebnisse, nachgeht. Sie geht dabei davon aus, dass in den Krankenakten nicht nur Auffassungen von Krankheit und Gesundheit dokumentiert sind, sondern dass diese Dokumente stets auch meist indirekte Verweise auf andere Themen- und Problemfelder, unter anderem Verweise auf den Krieg, enthalten. Von daher begreift sie die in den Akten enthaltenen Krankheitsauffassungen auch als „implizite Strategien der ärztlich-psychiatrischen Positionierung in einem Diskurs um Deutungen des Krieges“ (S. 16).

Grundlage der Studie bilden 396 Krankenakten von Patientinnen und Patienten, die zwischen 1914 und 1918 in das Bremer St.-Jürgen-Asyl aufgenommen wurden. Bei dieser Einrichtung handelt es sich um ein ursprünglich ziviles psychiatrisches Krankenhaus, das im Oktober 1916 um ein Reservelazarett erweitert wurde. Im Kontext der übergreifenden Frage nach den Deutungen des Krieges durch Psychiater geht es darum, auszuloten, ob die behandelnden Ärzte Zusammenhänge zwischen den psychischen Erkrankungen von Patientinnen und Patienten und dem Krieg hergestellt haben, auf welche Weise also beispielweise Kriegserlebnisse und -erfahrungen als Krankheit verursachend angenommen wurden. Was das methodische Vorgehen angeht, kombiniert Maria Hermes quantitative mit qualitativen Methoden, wobei das erstgenannte Verfahren im Vordergrund steht. Die qualitative Analyse von insgesamt 16 Krankenakten dient eher dazu, die auf quantitativem Wege erarbeiteten Ergebnisse vertiefend zu illustrieren. Diesem hypothetisch-deduktiven Vorgehen ist geschuldet, dass die Studie weniger zur Generierung neuer Hypothesen beiträgt als dass sie Ergebnisse anderer thematisch einschlägiger Studien auf den Prüfstand stellt und anhand der Quellen aus dem Alt-Archiv des Klinikums Bremen-Ost sowie dem Staatsarchiv Bremen einem erneuten Test unterzieht. Auf diese Weise können Forschungsergebnisse Dritter zum Teil bestätigt, zum Teil aber auch modifiziert, relativiert und ergänzt werden.

Maria Hermes rekonstruiert die Deutungen des Krieges durch die Psychiater am St.-Jürgen-Asyl im Kontext zeitgenössischer Diskurse. Ein besonderes Augenmerk gilt dabei denjenigen Themenfeldern, die im zeitgenössischen öffentlichen psychiatrischen Diskurs eine bedeutende Rolle spielten. Sozialdarwinistische und rassenhygienische Diskurse dienen dabei ebenso als Rahmen wie auch die Debatte um die Simulation von Krankheit im Krieg sowie Diskurse um Geschlecht und Klassenzugehörigkeit. Auf diese Weise kann Maria Hermes unter anderem zeigen, dass ärztliche Deutungen von psychischer Krankheit bei zivilen und militärischen Patienten durchaus ähnlich waren. Dies ist insofern ein interessantes Ergebnis, als es der zukünftigen Forschung nahe legt, auch Zivilisten in die Untersuchung von kriegsbezogenen Krankheitskonstruktionen und -wahrnehmungen einzubeziehen.

Zwei Aspekte der Studie verdienen besonders hervorgehoben zu werden: Zum einen – und dies wurde bereits im vorangehenden Abschnitt angedeutet – ist neu und innovativ, dass die Autorin sich nicht auf die Krankenakten von Soldaten bzw. militärischem Personal beschränkt, sondern auch zivile weibliche und männliche Patienten und damit eine große Spannbreite von Lebenswirklichkeiten unter den Bedingungen des Krieges in ihre Analyse mit einbezieht. Auf diese Weise wird ein Weg eingeschlagen, der – soweit ich sehe – in der thematisch einschlägigen Forschung bisher nicht gegangen wurde. Bekanntlich kam es im Ersten Weltkrieg zu massenhaften psychischen Erkrankungen von Soldaten und insofern ist nachvollziehbar, dass die bisherige thematisch einschlägige Forschung einen Schwerpunkt auf die Militärpsychiatrie, soldatische Patienten und typische „Kriegsdiagnosen“ wie Hysterie, traumatische Neurose oder Neurasthenie gelegt hat. Welche Auswirkungen dieser Krieg jedoch auf Zivilisten hatte, ist eine bisher kaum gestellte Frage. Maria Hermes leistet hier einen wichtigen Beitrag, indem sie Krankenakten soldatischer und ziviler Patientinnen und Patienten vergleichend untersucht und damit beispielweise deutlich machen kann, dass sich das ärztliche Verständnis von psychischer Gesundheit nicht nur bei den Soldaten, sondern auch bei den zivilen Patienten an Auffassungen kriegsadäquaten Verhaltens orientierte.

Zum anderen tragen die quellenkritischen Ausführungen zu den Krankenakten zum reflektierten Umgang mit diesem Quellentyp bei. Die Autorin plädiert überzeugend dafür, diese Quellen als das zu lesen, was sie sind: als vom Personal einer Klinik, in der Regel von Ärzten, verfasste „Herrschaftsdokumente“ (S. 22), die sich in erster Linie „für die Rekonstruktion des ärztlichen Blicks auf einen Patienten“ eignen (S. 65). Sie positioniert sich damit nicht grundsätzlich gegen die Einbeziehung des patient’s view; im Gegenteil macht sie am Ende ihrer Studie darauf aufmerksam, dass die Konzentration auf den ärztlichen Blick in zukünftigen Studien der Ergänzung durch die Perspektive der Patienten bedarf. Aber sie weist doch darauf hin, dass Krankenakten nur sehr bedingt einen geeigneten Zugang zu den Sichtweisen von Patienten bieten, nämlich nur dann, wenn diese auch Ego-Dokumente enthalten.

Zwei Punkte lassen sich kritisch anmerken. Der erste Punkt betrifft die Lesbarkeit der Studie. Bei quantitativen Studien, die mit Beschreibungen von Korrelationen sowie mit der Erarbeitung von Häufigkeitsverteilungen und Merkmalsausprägungen arbeiten, handelt es sich – beispielsweise im Vergleich zu narrativ angelegten Texten – um eine häufig weniger eingängige Lektüre. Möglicherweise liegt dies in der Sache selbst begründet, was aber nichts daran ändert, dass die Lektüre sich tendenziell mühsam gestaltet. Dies ist in den Passagen anders, in denen auf Krankengeschichten einzelner Patienten eingegangen wird, die zur vertiefenden Illustration der quantitativen Ergebnisse herangezogen werden. Davon hätte man sich als Leserin durchaus mehr gewünscht.

Der zweite Punkt betrifft den Untersuchungszeitraum, den Maria Hermes 1914 beginnen und 1918 enden lässt. Damit wird bedauerlicher Weise ausgeblendet, dass der Erste Weltkrieg gerade auch im Bereich der Medizin und Psychiatrie vielfältige Nachwirkungen hatte. Dies lässt sich an einem Beispiel verdeutlichen, das die Autorin selbst thematisiert, ohne damit jedoch eine Reflexion des Untersuchungszeitraums ihrer Studie zu verbinden. Es handelt sich um die psychiatrische Variante der „Dolchstoßlegende“, der zufolge psychisch erkrankte Soldaten durch ihren fehlenden Willen zur Gesundheit und ihre dadurch eingeschränkte Kampffähigkeit die eigentlichen Verursacher der Kriegsniederlage gewesen seien. Diese Legende wurde im militärpsychiatrischen Diskurs jedoch nach 1918 formuliert, sodass es sinnvoll gewesen wäre, die Frage des Rückgriffs der Bremer Ärzte auf dieses Deutungsmuster für die Zeit nach Kriegsende zu stellen, weniger jedoch für den Zeitraum 1914 bis 1918. Maria Hermes kann dann auch nur zu der Feststellung gelangen, dass die psychiatrische Variante der „Dolchstoßlegende“ im St.-Jürgen-Asyl während des Krieges nicht formuliert wurde. Dies lässt deutlich werden, dass die Wahl des Untersuchungszeitraums 1914 bis 1918 in dieser Studie nicht restlos überzeugt.

Nichtsdestotrotz leistet die Studie einen wichtigen Beitrag zur Medizin- und Psychiatriegeschichte, der insbesondere in der quellenkritischen Reflexion der Krankenakten sowie in der Öffnung des Horizonts der kriegsbezogenen Medizin- und Psychiatriegeschichte besteht, indem die Frage nach den Auswirkungen von Kriegen auf Zivilistinnen und Zivilisten systematisch miteinbezogen und vergleichend untersucht wird.

Anmerkung:
1 So hat beispielweise das Literaturmuseum der Moderne (Marbach) bereits im Oktober 2013 seine Schau „August 1914. Literatur und Krieg“ eröffnet, URL: <http://www.dla-marbach.de/dla/museum/ausstellungen/wechselausstellungen/index.html> (15.12.2013).

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